Und was, wenn ich mitkomme?

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Pit und ich schlendern um die Kirche herum. Der Platz ist knapp bemessen, es sind nur wenige Meter, bevor sich der Berg wieder ins Meer stürzt. Die Kirche ist verschlossen. Doch man kann durch ein vergittertes Fensterchen ins Innere lugen. Drinnen ist es düster. Draußen hängt ein Glockenzug. Pit und ich betätigen uns als Glöckner. Der Wind trägt den Glockenklang übers Meer, und wir fragen uns, wer uns jetzt wohl hört. Irgendjemand, den wir nicht kennen und der von unserer Existenz nicht einmal etwas ahnt? Wir bummeln auf die dem Meer zugewandte Seite der Kirche. Vor uns nichts als blaue Weite, der Übergang von Himmel und Wasser kaum auszumachen. Alles läuft zusammen zu einer fernen Endlosigkeit, vor der wir uns winzig und vergänglich fühlen, aber gleichzeitig auch als Teil eines großen Ganzen, in dem wir aufgehoben und geborgen sind. Es ist, als hätte sich spaltbreit ein Fenster zum Himmel geöffnet und Gott selbst erlaubte uns einen flüchtigen Blick hinein.

Ich setze mich in eine schattige Nische in der Kirchenmauer. Pit zieht sein T-Shirt über den Kopf und lehnt sich gegen das Geländer, das den ganzen Bereich um die Kirche herum zur Steilküste hin absichert. Sein Körper hebt sich warm und lebendig gegen den blauen Hintergrund ab. Ich könnte ihn stundenlang ansehen, und es kommt mir vor, als hätte ich seit Ewigkeiten auf Momente wie diese gewartet. Jetzt könnte die Zeit stehen bleiben.

Wir schweigen lange. Und als wir schließlich wieder miteinander reden, reichen unsere Worte nicht aus, so glücklich sind wir. Wir nehmen unsere Tagebücher zu Hilfe, lesen uns gegenseitig die Eintragungen der letzten Tage vor und freuen uns darüber, wie sehr wir uns ergänzen. Das werden wir jetzt öfter machen: Wir nehmen uns vor, jeden Abend unsere Tagebücher auszutauschen, gewissermaßen als kleine Bettlektüre vor dem Einschlafen, zuerst aber, um ganz dicht aneinander dranzubleiben.

Doch nun wird es Zeit, unsere Inselabgeschiedenheit zu verlassen. Es ist halb vier, und ich werde allmählich unruhig. Ob unser Fahrer auftauchen wird?

Ich bin erleichtert, als er pünktlich und zuverlässig genau an der Stelle erscheint, an der er uns vor zweieinhalb Stunden abgesetzt hat. Und auch Doris erwartet uns genau dort, wo wir uns voneinander getrennt haben. Sie hat einen hübschen kleinen Altstadtrundgang hinter sich, hat in einem Straßencafé eine Kleinigkeit gegessen und ist ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgegangen: Leute beobachten. Sie wirkt sehr entspannt und zufrieden. Offensichtlich hat auch ihr dieser ungestörte und einsame Nachmittag gutgetan. Im Zug gesteht sie mir, wie erleichtert sie ist, dass sie heute mal nicht hat wandern müssen. So ein gemütlicher Ausruhtag zwischendrin ist schon was Feines. Wir können ihr da nur zustimmen!

In Bilbao empfängt uns leichter Nieselregen. Wir müssen zur Jugendherberge, wissen aber nicht, wie. Zwei Frauen, eine junge und eine ältere, nehmen sich unser an und führen uns unter Arkaden in den Altstadtkern hinein. Bei Sonnenschein ist es hier sicher wunderschön. Aber im Moment, und vielleicht auch nach den Eindrücken und Empfindungen unseres fantastischen Nachmittags, erscheint mir Bilbao düster und eng. Im Vorbeigehen besichtigen wir die Santiago-Kathedrale, einen gotischen Dom, der neben der Kathedrale von Santiago de Compostela die einzige Hauptkirche Spaniens ist, die dem Apostel Jakobus geweiht ist. Ihre hellen, freundlichen Sandsteinmauern, die leuchtend bunten Glasfenster und ihre filigrane Architektur erwecken den Eindruck von etwas sehr Leichtem, Schwebendem, himmelwärts Emporgehobenem. Die Kathedrale ist das einzige Bauwerk Bilbaos, das wir von innen sehen. Außer natürlich der Jugendherberge …

Die Fahrt dorthin ist ein Abenteuer. Es geht mit dem Bus einmal quer durch die Stadt. Doris, Pit und ich, von der Einsamkeit des Nachmittags noch ganz beseelt, verteilen uns in verschiedene Ecken. Von Haltestelle zu Haltestelle füllen sich die leeren Plätze. Schließlich ist der Bus so voll, dass wir uns untereinander nicht mehr verständigen können. Dabei haben wir es versäumt, miteinander abzusprechen, wo wir aussteigen müssen. Was nun? Vielleicht weiß unser Wanderführer Bescheid. Das Blättern in ihm scheint eindeutig ein Zeichen unserer Ratlosigkeit zu sein und erweist sich als wirkungsvoller als jede Bitte um Hilfe. Jedenfalls kümmert sich plötzlich der halbe Bus um uns. Um jeden von uns bilden sich kleine Gesprächsgruppen, die eifrig miteinander diskutieren, wie viele Haltestellen es noch bis zu unserem Ziel sind. Die Meinungen gehen auseinander. Aber schließlich kommen wir genau dort an, wo wir hinwollen. Wir sind begeistert von so viel Anteilnahme und können es kaum fassen, wie unproblematisch hier alles läuft. Die Züge und Busse fahren immer so, wie wir es gerade brauchen, und immer sind da hilfreiche Menschen. Es kommt uns gerade so vor, als sei unser Weg von langer Hand vorbereitet, geordnet und geführt. Oder erfährt man das Gute vielleicht erst dann, wenn man auch damit rechnet, etwa im Sinne der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen? Keine Ahnung, außer, dass wieder einmal alles hervorragend geklappt hat.

Es sind nur noch wenige Minuten zu Fuß bis zu dem riesigen, supermodernen Jugendherbergskomplex. Wie versprochen hat Christian Betten für uns reserviert. Er hat sich schon in unserem Vierbettzimmer eingerichtet, eine Liege und einen Schrank belegt und Schnürsenkel vom Fenstergriff zu einer Stuhllehne gespannt, auf der seine frisch gewaschenen Socken und sein T-Shirt leise vor sich hin trocknen. Die Betten sind weich und hängen durch, und vor dem Fenster tobt irrsinnig laut die Autobahn. Bei offenem Fenster ist eine Unterhaltung unmöglich und Schlafen trotz Ohropax wahrscheinlich auch. Na dann: Gute Nacht!

9. TAG BILBAO – PORTUGALETE

Aus Evas Tagebuch:

Ich wache ziemlich zerschlagen auf. Heute ist nicht mein Tag. Bilbao ist eine beeindruckende Stadt mit schönen alten Bauwerken und dichter Atmosphäre. Wir sitzen lange am Guggenheim-Museum, dessen Fassade silbern in der Sonne glänzt. Von vorne sieht es aus wie eine Massenkarambolage von Schiffen. Witzig! Überall auf den Dächern entdecken wir Scharfschützen mit schwarz vermummten Gesichtern und Maschinengewehren im Anschlag. So etwas habe ich bisher nur im Film gesehen, und mir ist etwas mulmig zumute.

Auf unserem Weg heraus aus Bilbao machen wir gegen ein Uhr Mittagspause. Dann geht es drei Stunden weiter am Nervion-Fluss entlang durch hässliches Industrie- und Hafengebiet. Mein Knie fängt wieder an zu stechen, und das, obwohl es nicht eine einzige Steigung gibt, sondern immer geradeaus geht, aber eben ausnahmslos über Asphalt. Es ist heiß wie in einer Backstube, und das Laufen macht keinen Spaß. Jetzt sitzen wir in Getxo an der Promenade, bzw. ich sitze. Die anderen liegen auf Bänken herum – Schuhe aus, Sonnenhut übers Gesicht – und schnarchen leise vor sich hin. Christian ist noch bei uns, und während ich Tagebuch schreibe, überlege ich, in wie vielen Reisenotizen wohl unsere Namen auftauchen.

Links von uns spannt sich die berühmte Hängebrücke über den Fluss. Sie gilt als Wahrzeichen von Groß-Bilbao und stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die Hängebrücke ist die einzige und älteste ihrer Art, die noch heute in Betrieb ist. Eine Plattform, die an langen Stahlseilen hängt, bringt Leute und Fahrzeuge auf die andere Seite nach Portugalete.

Städte können ja ganz toll sein, aber die vielen Menschen und der permanente Lärm sind einfach nichts für mich. Ich freue mich auf Natur und sehne mich nach Vogelgezwitscher.

Portugalete ist wunderschön und entschädigt für den Weg. In einer kleinen Pension finden wir Unterkunft. Doris und ich teilen uns ein Zimmer, Pit und Christian ein anderes. Ich vermisse Pit schon jetzt, obwohl mir dafür nicht viel Zeit bleibt, denn die Wäsche muss gewaschen und der eigene Körper, besonders die Füße, gepflegt werden. Wie sorgfältig ich hier auf mich achte!

Aus Pits Tagebuch:

Heute haben wir uns das Guggenheim-Museum von außen angeschaut. Die Sonne schien und ließ das Gebäude metallisch-hell leuchten. Eine beeindruckende Architektur! Bilbao scheint hohen Besuch zu erwarten, denn überall hat sich Polizei postiert, und auf den Dächern stehen sogar Scharfschützen.

Wir wandern drei Stunden auf stark befahrener Straße nach Portugalete. Nicht besonders lustig! Portugalete mit seiner historischen Altstadt gefällt uns dagegen richtig gut. Die Stadt liegt an einem Hang, und in manchen Straßen trägt einen so etwas wie ein Laufband bergauf. Sehr originell.

In der Touristen-Information hilft uns eine nette Angestellte bei der Quartiersuche. Wir finden ein einfaches, kleines Hostal. Ich teile mir ein Zimmer mit Christian. Er gehört schon richtig zu uns. Am Abend gehen wir noch zusammen essen und haben viel Spaß. Aber wir reden auch über ernste Themen. Spät wird es heute nicht, denn morgen wollen wir früh aufbrechen.

10. TAG PORTUGALETE – CASTRO URDIALES

Heute laufen wir unsere bisher längste Etappe. Bis zur albergue, die so neu ist, dass sie nicht einmal ganz fertig, sondern noch eine halbe Baustelle ist, sind es mindestens 30 Kilometer. Die müssen wir bei sengender Hitze zurücklegen, mit einem Rucksack auf dem Rücken, der ein gefühltes Gewicht von einer Tonne hat, und unseren vielen kleinen und großen Beschwerden. Pit hat einen dicken, roten, entzündeten Ellenbogen, wahrscheinlich von unsachgemäßer Handhabe der Wanderstöcke, vielleicht aber auch von etwas ganz anderem – wer weiß das schon? Doris trägt auf ihren Beinen als Andenken an die gestrige Pause an der Promenade von Getxo einen leichten Sonnenbrand spazieren. Und ich habe ein kaputtes Knie … Nur Christian ist einigermaßen gut drauf. Schweigend laufen wir vor- und hintereinander her. Es geht zwei Stunden lang nur über Asphalt, auf einem stumpfsinnigen Fahrradweg, der uns ganz mürbe macht. Vor einer Unterführung lädt am Wegesrand eine kleine Bank mit Tisch davor zur Rast ein. Doris und Christian lassen sich sofort nieder. Pit und ich dagegen hätten noch gut weiterlaufen können. Mein Knie verhält sich gerade hübsch unauffällig, und das hätte ich gerne so lange wie möglich ausgenutzt. Überhaupt kommt es mir vor, als ob unsere Bedürfnisse gerade sehr unterschiedlich sind. Unser Tempo zieht sich auseinander, und jeder scheint eine andere Vorstellung davon zu haben, ob weitergewandert oder eine Pause eingelegt werden soll. Ich jedenfalls würde jetzt am liebsten mit Pit weitermarschieren, in unserem Rhythmus und in unserem Tempo.

 

Es ist verblüffend: Pit und ich gehen im gleichen Schritt und in der gleichen Geschwindigkeit, selbst wenn wir nicht nebeneinander, sondern im Abstand von einigen Metern hintereinander herlaufen. So übereinzustimmen ist für mich sehr entspannend: Ich muss mich nicht auf den anderen einstellen, sondern kann meine Gedanken schießen lassen, gerade auf so einem eintönigen Weg wie heute. Pit und ich müssen nicht aufeinander warten, und einer braucht sich für den anderen nicht zu beeilen. Wir schnurren nebeneinander her wie ein Uhrwerk. Vielleicht, weil wir vor unserer Reise schon viel miteinander gewandert sind. Vielleicht drückt sich darin aber auch unsere innere Verbundenheit aus. Jedenfalls löst es in mir ein schönes Gefühl der Zweisamkeit aus. Zweisamkeit, nach der ich mich immer mehr sehne, genauso wie nach einem ungestörten Austausch unserer Gedanken. Mit Doris ist es toll, und ich bin sehr dankbar, dieses besondere Erlebnis mit ihr teilen zu können. Auch Christian ist ein netter Kerl. Er passt richtig gut zu uns. Trotzdem … Jetzt mit Pit allein weiterzulaufen und die beiden anderen einfach zurückzulassen … ein verlockender Gedanke.

Aber natürlich fügen wir uns und packen unseren Proviant aus: Käse, Brot, Schokolade, Obst und natürlich viel Wasser. Trinken ist bei dieser Hitze A und O, auch wenn ein gefüllter Wassersack das Gewicht unseres Rucksacks um bis zu zwei Kilo erhöht. Was sein muss, muss eben sein.

Der Radweg zieht sich endlos neben der Autobahn hin. Schön wird es erst, als wir den Strand von La Arena erreichen. Der Sand hier ist grobkörnig und braun, die Wellenkronen sind schaumig und die Luft ist diesig. Dennoch: Rucksäcke runter, Schuhe aus, rein in die Brandung, wenn auch nur bis zum Knie. Das Wasser hat unglaubliche Gewalt und zieht einem, wenn es zurück ins Meer schwappt, regelrecht den Sand unter den Füßen weg. Mein Knie fühlt sich butterweich an und gibt bei jedem Schritt bedenklich nach. Ich kann es trotzdem nicht lassen und renne durch die Wellen. Die anderen liegen faul im Sand, Kopf auf dem Rucksack, und dösen. Ich möchte schon wieder weiter – oder aber den ganzen Nachmittag hier verträumen, dem Meer beim Herumtoben zusehen und irgendwo im nächsten Ort ein Nachtquartier suchen. Laut Wanderführer soll es hier eine Pilgerherberge mit immerhin 22 Betten geben, gleich hinter der blauen Brücke. Ach, ich weiß auch nicht …

Vielleicht ist es ganz gut, dass Pit schließlich die Initiative ergreift und die beiden anderen aus ihren Tagträumen aufscheucht. Es geht weiter, nicht hinter die Brücke, sondern darüber hinweg, einen Betonweg und dann eine Treppe hinauf auf einen wunderschönen Panoramaweg: rechts tief unter uns das Meer, links Blütenteppiche und eine herrlich weite, hügelige Landschaft, jeder Ausblick phänomenal. Doch die Pracht währt leider nicht lange. Wir laufen wieder auf Asphalt, auf einer Straße mit mindestens zehnprozentiger Steigung. Ich möchte bloß mal wissen, wie hoch hinaus wir hier eigentlich noch müssen? Und das Schlimmste: Irgendwann müssen wir auch wieder herunter.

Wir erreichen Onton. Hier verlassen wir das Baskenland und betreten kantabrischen Boden, was uns im Moment ziemlich schnurz ist, Hauptsache, es hört endlich auf, so irrsinnig anstrengend zu sein. Unsere Rettung ist ein Fernfahrer-Restaurant, genau im Winkel einer S-Kurve, Autobahn in Sicht- und Hörweite, das Meer verborgen in der Tiefe der Steilklippen und nur vom Fenster des Speiseraumes aus zu sehen. Wir sitzen im vorderen Bereich des Restaurants und futtern, was das Zeug hält. Alles schmeckt sehr lecker und wir sind uns einig: Essen hebt ungemein die Moral und die Motivation. Selbst mein Knie gibt Ruhe, jedenfalls bis zu diesem glitschigen Pfad, der nach Miño hinunterführt.

Am Abend schreibt Pit in sein Tagebuch:

Es ist heiß und anstrengend. Endlich können wir die Straße verlassen und einen schmalen Pfad hinunter zur Küste gehen. Im Nachhinein stellt sich aber heraus: Es ist keine gute Strecke, sehr dornig und rutschig. Evas Knie gibt dieser Abstieg den Rest. Sie ist sichtlich frustriert. Sie tut mir so leid. Wir kommen nur langsam voran. In der kleinen Bucht, in der wir landen, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: nur ein paar alte Häuser und eine Bar am Hang, aus der beste Musik aus den 70er-Jahren zu hören ist. Hier könnte ich mir gut eine alte Hippiekommune vorstellen.

Wir steigen auf eine weitläufige Hochebene hinauf, und Christian entscheidet sich zu bleiben. Er hat ein Zelt dabei und möchte hier die Nacht verbringen. Ob wir uns wohl noch einmal wiedersehen? Doris, Eva und ich überlassen ihm unser restliches Wasser und wandern weiter über die Wiesen auf Castro Urdiales zu. Ein traumhaft schöner Ort. Am Ende des halbrunden Strandes steht auf einem Felsen eine alte Burg neben einer Kirche. Wir sind mal wieder überwältigt, und die Stimmung steigt.

Es gibt ein refugio, gleich hinter der Stierkampfarena, das allerdings noch eine Baustelle ist. Alles ist voller Bauschutt, und ich bin froh, dass ich meinen Schlafsack zum Schutz vor dem Dreck in meinen federleichten und dünnen Seidenschlafsack stecken kann …

Im refugio treffen wir auf sieben weitere Pilger, drei Männer und vier Frauen, alle freundlich distanziert, was uns heute ganz recht ist. Nur Gerd gesellt sich zu uns. Er ist 62 Jahre alt, allein unterwegs und ein richtiger Genießer. Wir lagern uns auf der Bank vor unserer Unterkunft, werfen unsere Vorräte zusammen und essen gemeinsam zu Abend. Pit und Doris haben, während ich unter der eiskalten Dusche stand,Wein eingekauft, und Gerd findet tatsächlich zwischen Stapeln von Fliesen, Zementsäcken und herumliegenden Werkzeugen ein paar Plastikbecher, aus denen wir unseren vino tinto schlürfen. Es wird richtig lustig, besonders, als Gerd eine Packung Zigarillos zückt und Pit einen anbietet. »Nur, wenn du für Eva auch einen hast«, schmunzelt Pit. Gerd fällt fast von der Bank: Was? Eine Frau, die Zigarillos raucht? Und Doris schüttelt nachsichtig den Kopf: Fängt das schon wieder an … Wir schmoken zu dritt, während Doris sich am Wein gütlich tut. Schade, dass wir so erschöpft sind. Vielleicht aber auch ganz gut, denn sonst hätten wir heute Abend sicher lange kein Ende gefunden.

11. TAG CASTRO URDIALES – LAREDO

Nach einer guten Nacht und einer kalten Dusche gehen wir hinunter in den Ort, um uns die Kirche anzusehen und Kaffee zu trinken. Gerd ist bei uns, und zu viert machen wir uns auf zur Besichtigungstour. Wir kommen an einer Meeresbucht vorbei, die bloß durch ein Geländer vom Bürgersteig getrennt ist. Das Meerwasser schäumt im Rhythmus des Wellenganges unter den ausgehöhlten Felsen hindurch in eine Art Becken und überspült einen kleinen Kieselstrand. Auf der linken Seite des Beckens steigen Stufen empor. Das Ganze wirkt wie eine Freilichtbühne für eine Wagneroper: Leda und der Schwan oder so ähnlich. Sehr faszinierend.

Zum Frühstück gibt es cafe con leche und Kekse auf dem Hauptplatz der Stadt am Jachthafen. Es ist ganz still und friedlich hier. Um diese Zeit lassen sich nicht sehr viele Spanier blicken.

Deshalb fällt es auf, wenn ein einziger Mensch, und dann noch einer mit Rucksack und Wanderstiefeln, Basecap ins Gesicht gezogen, forschen Schrittes über den einsamen Platz marschiert. Es ist Christian. Wir freuen uns wahnsinnig, einander zu sehen, und tauschen uns über die Erlebnisse der letzten Nacht aus. Christian hatte eine unschöne Begegnung mit einem Exhibitionisten. Er erzählt keine Einzelheiten, bloß, dass ihm die Lust am Campen vergangen sei und er sein Zelt bei nächster Gelegenheit nach Hause schicken werde. Es ist ihm auf Dauer sowieso zu schwer. Und schließlich gibt es ja am Weg genügend Unterkünfte. Gerd und er verabschieden sich von uns und ziehen weiter. Kein bisschen wehmütig schaut Pit ihnen hinterher. »Ich freue mich richtig, dass wir wieder unter uns sind«, sagt er. Und dann kribbelt es ihm in den Beinen, er will los – und ich auch! »Loswandern ist wie alles hinter sich lassen«, erklärt er euphorisch. Ich kann ihm da nur zustimmen. Jeder Tag liegt neu und unberührt vor uns. Es gibt keine Altlasten mitzuschleppen, nichts zu bereinigen oder zu erledigen, kein Muss, sondern Möglichkeiten, Herausforderungen und Entdeckungen. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.

Doch vorher schauen wir uns noch die Kirche an. Sie liegt auf einem Felsen, der weit ins Meer hineinragt. Leider ist sie geschlossen. Aber wir sind schon begeistert von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Ihre Sandsteinfassade ist mächtig verwittert. Wind, Salzwasser, Regen und Zeit haben den weichen Stein ausgewaschen und ihm eine ganz eigene Prägung aufgedrückt, ähnlich den Falten im Gesicht eines lebensklugen alten Mannes. Doris sagt, es müsse fantastisch sein, in der Nähe solcher alten Gebäude zu wohnen. Die hätten so viel Vergangenheit, so viele Geschichten, die sie erzählen könnten. Daneben müssten sich doch die Probleme, Nöte, Ängste und Sorgen unseres Alltags relativieren. Wir gehen bis zu der Felsenmauer, die den Kirchplatz vom Meer trennt, und blicken in die brodelnde See hinunter. Schulter an Schulter stehen wir zwei Freundinnen beieinander und philosophieren über die einzigartigen Farben des Wassers, und Pit erklärt uns, wie genau er jeden Bissen in seinen Apfel plant. Merkwürdig, welche Gespräche sich auf diesem Weg ergeben.

Am Strand entlang gehen wir zurück Richtung Camino. Bei jedem Schritt schmerzt mein Knie, sodass ich mich schweren Herzens entschließe, auch heute wieder mit dem Bus zu fahren. Doris und Pit begleiten mich bis zur Bushaltestelle vor der Stierkampfarena. Heulend vor Enttäuschung sinke ich auf eine Bank. »Soll ich mit dir fahren?«, bietet sich Doris an. Und auch Pit ist bereit, bei mir zu bleiben. Aber ich will ihnen nicht den Tag verderben. Warum sollen sie auf ihre Wanderung verzichten, bloß weil ich Probleme habe? Tröstend nehmen Doris und Pit mich in die Arme. Der Seele tut das gut. Das Knie jedoch lässt sich nicht im Mindesten davon beeindrucken. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als niedergeschlagen hinter den beiden herzublicken. Von Tränen verquollen klettere ich in den Bus. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Aber die Idee des Weges war ja auch, sich auf unvorhergesehene Situationen einzustellen, mit ihnen umzugehen und das Beste daraus zu machen. Ich krame meine Minibibel aus dem Rucksack und schlage die Wallfahrtspsalmen auf. Es ist nicht leicht, die kleine Schrift in dem schaukelnden Bus zu entziffern, und im Hinblick auf meinen Magen vielleicht auch nicht sehr vernünftig. Aber es tut mir gut, wie die Worte des Psalms 123 meine Blickrichtung neu justieren: Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnst … Genau das werde ich jetzt mal tun. Weiter unten im Psalm steht noch: Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig. Ich habe keine Vorstellung davon, wie Gnade in dieser konkreten Situation aussehen könnte – vielleicht, dass mein Knie in Ordnung kommt, was ziemlich unwahrscheinlich ist und meinen Glauben an seine Grenze bringt. Vielleicht denkt Gott sich aber auch etwas ganz anderes aus. Egal, Hauptsache, ich lasse mir von meinem Knie nicht den Weg versauen, auf den ich mich so lange gefreut habe.

Entschlossen schnäuze ich mir die Nase, packe die Bibel wieder in ihr Rucksackfach und wende mich der schönen Landschaft vor dem Busfenster zu. Nach dem Meer allerdings halte ich vergeblich Ausschau. In Islares, einem winzigen Ort, in dem der Hund begraben liegt, steige ich aus und wende mich sofort unserem Treffpunkt zu, einem kleinen Kirchlein, das genau an dem Weg liegt, an dem Doris und Pit herauskommen müssen. Aber hier zu sitzen ist nicht besonders gemütlich. Also schlendere ich zu einem abgelegenen Kinderspielplatz, von dem aus ich den Wanderweg gut einsehen kann, schreibe Tagebuch, knabbere eine ganze Dose gesalzener Erdnüsse, lasse mich von der Sonne bescheinen, lausche Vögeln und Pferden und in der Ferne vorbeirauschenden Autos, halte mein Gesicht in den Wind und bemühe mich, die Zeit allein zu genießen. Gar nicht so leicht, wenn man nicht weiß, wozu das Alleinsein gut sein soll.

 

Ich mache es mir gerade an einer sonnenwarmen Mauer am Rand einer Wiese bequem, da entdecke ich Doris und Pit. Minuten später sind sie bei mir und erzählen begeistert von ihrem Weg. Zehn Kilometer in knapp zwei Stunden, ein Spaziergang, versichert Doris, völlig unangestrengt und genussvoll. Aber selbst diese Kinderwanderung hätte wohl mein Knie überfordert. Und was nun? Ich plädiere dafür, uns in diesem verträumten Örtchen eine Unterkunft zu suchen und den restlichen Tag irgendwo am Meer zu vertrödeln. Aber Doris streikt. »Was? In so einem Kaff, wo der Hund begraben liegt?« Und auch Pit ist nicht begeistert von meiner Idee. Die beiden wollen Stadtluft schnuppern. Ich dagegen könnte gut darauf verzichten, sofern ich das Meer an meinen bloßen Füßen spüren kann und wir irgendwo eine Flasche Wein, ein paar Oliven und ein Stück würzigen Käse auftreiben. Aber es steht zwei zu eins. Wieder einmal füge ich mich. Erwartungsvoll folgen Pit und Doris mir zur Bushaltestelle, deren Standort ich ja bereits kenne. Es ist ein kleines gläsernes Häuschen mit einer Bank, sonst nichts, kein Fahrplan, keine Liniennummern, nichts. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie wir von hier wegkommen sollen. Der erste Bus, der vorüberkommt und sogar hält, hat ein anderes Ziel. Aber der Fahrer versichert uns, dass in einer Viertelstunde der richtige Bus eintreffen wird. Oder meinte er eine Dreiviertelstunde? Zu guter Letzt müssen wir eineinviertel Stunden in sengender Sonnenglut aushalten. Ich muss dauernd heulen. Meine Tränen führen ein ganz merkwürdiges Eigenleben, und ich habe kein bisschen mitzubestimmen. Mist … Ich denke, wie schön es jetzt wäre, am Wasser zu sitzen statt an dieser Bushaltestelle. Dieser Gedanke allein scheint auszureichen, um wahre Sturzbäche aus meinen Augen zu treiben. Irgendwie bin ich einfach nur frustriert.

Zum Schluss sind wir alle erleichtert, als endlich der richtige Bus auftaucht und uns nach Laredo kutschiert. Der Bus fährt einen weiten Schlenker durch den Ort, sodass wir im gleichen Rutsch eine kleine Stadtführung bekommen. In der Nähe der Altstadt steigen wir aus und suchen zuerst einmal die Touristen-Information, um den Standort unserer Herberge herauszufinden. Doch die Info ist noch bis um fünf geschlossen, was wir uns eigentlich hätten denken können. Hier in Spanien ist in der Mittagszeit einfach nichts los. Alle Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe öffnen erst wieder am späten Nachmittag ihre Türen für die Öffentlichkeit. Na ja, für spanische Verhältnisse ist fünf Uhr nachmittags vielleicht noch längst nicht spät, sondern gerade die beste Zeit kurz hinter der Siesta. An solchen Erfahrungen merken wir, dass wir uns noch lange nicht auf spanische Gegebenheiten eingestellt haben.

Die Stunde bis zur Öffnung der Touristen-Information überbrücken wir in einem Café. Pit pult sich einen Splitter aus dem Arm. Den hat er sich gestern, als er mir den schrecklichen Pfad kurz vor Miño herunterhalf, eingezogen. Die Haut um den Splitter herum ist ganz rot. Doch eine Entzündung ist das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Operation geglückt, Patient wohlauf.

In der Touri-Info holen wir uns einen Stadtplan. Mit seiner Hilfe finden wir rasch unsere Bleibe für diese Nacht: Ein Nonnenkonvent in einer Seitenstraße mitten in der Altstadt. Dort ist alles verriegelt und verrammelt, und wir müssen eine Weile warten, bis uns endlich eine Nonne öffnet. Sie trägt eine weiße Tracht, ist rundlich und ziemlich teilnahmslos. Besonders willkommen fühlen wir uns nicht. Gleichgültig wackelt sie vor uns her in den Gästetrakt des Klosters und öffnet für uns ein Zimmer zur Straßenseite. Gott sei es gedankt: Kein riesiger Schlafsaal, sondern vier saubere Betten erwarten uns. Befriedigt nehmen wir drei von ihnen in Beschlag und machen uns gleich ans Wäschewaschen. Nach einer schönen heißen Dusche geht es hinaus Richtung Strand. Unterwegs erstehen wir Brot,Wein und Oliven. Ich plädiere dafür, auch gleich Wasser für unsere morgige Wanderung einzukaufen. Aber Pit meint, er habe keine Lust, die schweren Flaschen den ganzen Abend über mitzuschleppen. Doris und mir geht es genauso, und ins Kloster zurück wollen wir auch nicht. Also bleibt es bei dem kleinen Proviant.

Am Meer würde ich mich am liebsten dicht am Wasser lagern. Aber Pit und Doris scheuen den Sand. »Also, ich habe keine Lust auf Körner im Brot«, versucht Pit mich zu überzeugen. Und Doris schlägt vor: »Da vorne an der Promenade gibt es Bänke. Lasst uns dorthin gehen.« Keine schlechte Idee, aber eben elend weit weg vom Wasser. Ich bin genervt. Wann – zum Kuckuck – komme ich heute endlich mal auf meine Kosten? Vor lauter Frust trinke ich mir einen kleinen Schwips an, was ohne eine solide Unterlage im Magen eine Leichtigkeit ist. Vom Alkohol ermutigt streife ich meine Sandalen von den Füßen, lasse Doris und Pit auf der Bank sitzen und renne durch den Sand bis zum Wasser. Die Wellen kommen mir freundlich entgegen, und ich patsche übermütig in ihnen herum. Plötzlich ist Pit neben mir. Er ist mir gefolgt, während Doris sich auf der Bank aus gestreckt und sich den Beutel mit unseren Essensresten als Kopfkissen untergeschoben hat. Sie genießt die Abendsonne, die noch angenehm warm ist. Pit und ich laufen Hand in Hand den Strand entlang, reden und schweigen und vergessen die Zeit. Auf einmal bin ich richtig glücklich. Wie schnell das hier geht, der Wechsel von Frust und Freude – manchmal so rasch, dass ich kaum hinterherkomme. Jetzt versuche ich es auch gar nicht, sondern lasse mich in den Augenblick fallen, ein Luxus, den ich mir in meinem Alltag zu Hause fast nie leiste. Warum eigentlich nicht?

Als wir endlich zu Doris zurückkommen, erwartet sie uns schon ganz aufgekratzt. Hat sie etwa den restlichen Wein getrunken? Nein, es ist auch noch genug für mich da. Wir prosten einander zu und werden immer alberner. Doris und ich können zusammen über Sachen lachen, deren Witz nur wir beide verstehen. Zum Beispiel, wie ich mich auf Spanisch für irgendeine Handreichung von ihr bedanke: »Muchas gracias« (Vielen Dank). Und sie, was antwortet sie? »Buenos dias«, was so viel heißt wie: Guten Tag. Mensch, Doris, es heißt: De nada (Keine Ursache). Aber anstatt ihr das zu sagen, lache ich mich fast kaputt über ihren kläglichen Versuch, schlagfertig auf Spanisch zu antworten. Und auch sie findet das Ganze irrsinnig komisch. Wir können gar nicht mehr aufhören zu lachen. »Die spinnen, die Weiber«, murmelt Pit, der Ausgeschlossene. Aber warum solche Situationen witzig sind, lässt sich nicht erklären, und man kann auch niemanden mit hineinnehmen, der nicht sowieso schon mit drin ist. Das ist nun die ausschließliche Zweisamkeit zwischen uns beiden Freundinnen. Punkt. Irgendwann kriegen wir uns zu Pits Erleichterung schließlich wieder ein.

Es ist schon merkwürdig: Dieser Tag hat mit so viel Erwartung begonnen, ist für mich dann frustig und immer frustiger geworden und endet nun so heiter und entspannt. Auf dem Camino kann sich alles in kürzester Zeit verändern und sich sogar in sein Gegenteil verkehren. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Das ist für mich eine starke emotionale Herausforderung, macht aber auch viel Hoffnung: Und morgen ist ein neuer Tag.

12. TAG LAREDO – NOJA

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