Vom schönen Schein

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„Die heilige Betty, das ist der Geruch, der stammt von der heiligen Betty!“

Alle, die schauen können, sehen einander an.

„Sind Sie sicher?“, frage ich.

Fräulein Marie hat das Gesicht, wie meistens, gesenkt. Sie nickt. „Natürlich. Sonst würde ich es nicht sagen.“

„Und was hätte die bei Hannes gesucht?“, bellt Dr. Hubmann.

„Von ihm hätte sie nun wirklich nichts erben können“, ergänzt Weidmar-Klein.

Da war etwas, das Frau Gerngross gesagt hat. Man sollte ihr hin und wieder doch zuhören, meine Güte, wird das Gehirn langsam, wenn man zu lange keinen Text zu lernen hat. Brei statt Gehirnzellen, ich muss mich konzentrieren. Sie hat etwas über Hannes und die heilige Betty gesagt. Man muss sie fragen, aber sie merkt sich selten, was sie daherredet. Wie ging das? Hannes wollte, dass sie ihr Geld auf die Bank gibt oder so. Die heilige Betty hat sie vor Hannes gewarnt. Ging es da nur um das blödsinnige Geld oder auch um etwas anderes? Er würde es aufschreiben, er sei kein Buchhalter. Was jetzt? Aber seit wann glaube ich, dass Frau Gerngross Sinnvolles erzählt?

Ich sollte längst schlafen, stattdessen wandere ich in meinem Zimmer auf und ab. Das hilft beim Denken, und wenn nicht, dann werde ich davon hoffentlich müde. Es wäre viel besser, gleich weiterzumachen. Es ist halb zwei in der Nacht. Ich war nie eine, die früh zu Bett gegangen ist. Theater, Premieren, Premierenfeiern. Und jetzt dieses Zimmer, das sie Residenzapartment nennen. Ich muss hier raus. Mein Knie ist gut. Gut genug. Warum sollte ich nicht allein leben können? Ich kann ja auch noch arbeiten. Ich bin fürs Werbefernsehen gebucht. Und man hat mir erst vor kurzem eine Filmrolle angeboten. Schon wieder eine alte Frau. Ich will keine alten Frauen spielen. Und wenn, dann eine lustige, keine tragische. Aber was sonst … Ich sollte mich konzentrieren. Mit uns hat Hannes nicht übers Geld geredet. Ich habe fast immer ein, zwei Tausender im Zimmer und Dr. Hubmann hat von einer „kleinen, aber doch bemerkenswerten Summe an einem gut geschützten Platz“ gesprochen. Als ob er nicht Klartext reden könnte, weil auch wir ihn sonst beklauen würden. Warum hat die heilige Betty vor Hannes gewarnt?

Ich habe den dummen Laptop gestartet, aber ich bin aus dem, was ich gesehen habe, nicht schlau geworden. Und ich wollte nicht zu viel herumprobieren. Warum hat die Polizei den Computer nicht mitgenommen? Weil sie alles weiß? Weil ihr alles egal ist? Dazwischen. Meistens liegt die Wahrheit dazwischen. Was wollte die heilige Betty im Zimmer von Hannes? Und: War er da, als sie im Zimmer war? Fräulein Marie hat gemeint, der Geruch sei nur mehr schwach gewesen, ein Hauch. Deswegen hätte sie auch so lange gebraucht, um dahinterzukommen, von wem er stammt. Trotzdem kann man nicht genau sagen, wann die heilige Betty da war. Sie lüften ununterbrochen. Das gehört zu den Grundprinzipien des Hauses, egal, ob wir uns eine Lungenentzündung holen oder nicht. Erfroren sind schon viele, erstunken noch niemand. Mir ist andauernd kalt, ich habe nicht viel Fett. Zum Glück, an sich. „Bald wird Sie der Wind wie ein Blatt hinauswehen, wenn Sie nicht mehr essen“, hat Hannes neulich zu mir gesagt.

Zu ihm hätte ich auch nach Mitternacht gehen können, wenn es wichtig ist. Aber er ist ja tot. Wie absurd. Lauter alte Leute und er ist es, der stirbt. Fran. Der Sohn von Miras Freundin Vesna. Ich rufe ihn an. Jetzt. Mira hat mir seine Nummer geschickt. Mit den blöden Smartphone-Anwendungen komme ich nicht gut zurecht, ich weiß, dass man so einen gesendeten Kontakt irgendwie weiterverwenden und speichern kann, aber es ist einfacher, die Nummer abzuschreiben und sie dann ins Telefon zu tippen. Für meine wichtigen Nummern habe ich nach wie vor ein Notizbuch. Das ist sicherer. Und wenn keiner einbricht, kann auch keiner mitschauen. Wie beim Laptop. Der gläserne Mensch, ich habe erst vor kurzem eine Doku darüber gesehen. Fran geht nicht dran. Es läutet. Und läutet. Dass der schon schläft. In seinem Alter habe ich selten vor dem Morgengrauen geschlafen. Oder störe ich ihn womöglich beim Sex? Ich will nicht nachrechnen, wie lange das bei mir her ist. Natürlich muss er nicht abheben, bloß weil eine alte Schachtel …

„Ja?“

„Habe ich dich gestört?“

„Wer ist da?“

„Rosa Prager.“

„Wer? … Oh … die Schauspielerin … Ist etwas mit Mira? Oder mit Mam?“

Jetzt klingt er schon deutlich wacher. Ich gönne mir eine Kunstpause, damit er noch wacher wird.

„Was ist???“

Ich erzähle ihm, was ich weiß, was wir vermuten, und dass dieser verdammte Laptop bei mir ist. „Möglicherweise mit verschlüsselten Daten.“

Fran seufzt. „Die Spurensicherung war da, richtig? Und die Polizei geht davon aus, dass er sich, wahrscheinlich versehentlich, mit einem Medikamenten-Cocktail aus dem Heim umgebracht hat, richtig?“

„Ja.“

„Dann haben sie auf dem Laptop nichts gefunden, oder die entsprechenden Daten ausgelesen. Die sind nicht so dämlich, wie viele glauben.“

„Und wenn er besser war als sie?“

„Ein Zivi, der durch die Aufnahmsprüfung fürs Medizinstudium gefallen ist?“

„Na und? Er könnte ein Freak sein.“

„Ein Nerd?“

„Ein was?“

„Wie sieht der Laptop aus?“

Was für eine Frage. Wie ein Laptop eben. Ich versuche mich in einer etwas genaueren Beschreibung und Fran erklärt mir, dass jemand, der so einen Laptop habe, wohl kaum besonderes Interesse an den Möglichkeiten der Informatik habe. „Was hätte er übrigens verschlüsseln sollen?“

„Wenn ich das wüsste, müsste ich nicht danach suchen.“

Fran lacht. „Da ist allerdings was dran. Wirklich Wichtiges oder gar Kriminelles würde ich übrigens nie in den Laptop schreiben.“

„Weil sie alle mitschauen können“, assistiere ich ihm.

„So ungefähr.“

„Ja, aber deswegen eben verschlüsselt.“

„Auch nicht verschlüsselt. Da musst du schon sehr gut …“

Schön langsam verliere ich die Geduld. „Es geht nicht um seine Fähigkeiten am Computer, da geht es darum, ob er wirklich …“

„Noch mal: Ich würde so etwas in ein Heft schreiben, auf einen Zettel, meinetwegen in ein Buch, wenn es schon sein muss, dann eben verschlüsselt, und wenn selbst ich …“

„Na gut. Du willst dir den Laptop nicht ansehen. War ja bloß eine Frage.“

Stille. „Klar sehe ich ihn mir an. Auch wenn ich nicht glaube … Was ist übrigens mit dieser Betty oder so? Könnte sie sich mit Computern auskennen?“

„Du meinst … sie ist in sein Zimmer und hat ihm die Daten geklaut?“

„So etwas in der Art.“

Ein verführerischer Gedanke. Allerdings unwahrscheinlich. „Sie ist so um die fünfzig, kommt, glaube ich, von irgendeiner Pfarre und will uns Trost spenden. Eine Nervensäge.“

„Seit wann?“

„Keine Ahnung, jedenfalls länger, als ich da bin. Soll ich versuchen, ihr eine Falle zu stellen?“

„Und die sollte jetzt wie aussehen?“

„Kannst du den Laptop holen?“

„Jetzt?“

„Am besten wäre es. Bevor … bevor jemand bei mir einbricht, um ihn zu stehlen, und mich dafür womöglich niederschlägt.“

„Schlechter Versuch, verehrte Frau Prager. Den hätte man sich schon einfacher holen können, wo sogar Sie …“

„Sogar? Okay, ich habe verstanden. Ich werde kein Auge zutun und ihn bewachen. Vor allem … Frau Gerngross hat noch etwas gesagt, Hannes hat angeboten, mitzuschreiben … wo das Geld ist, oder so.“

„Passt doch. Suchen Sie nach einem Zettel. Wenn Sie schon glauben, dass dieser Hannes eine Nachricht hinterlassen hat. Ich schaue morgen vorbei. Am Vormittag, okay?“

„Ja. Auch wenn ich heute kein Auge zu…“

„Gute Nacht.“

Ich lege mich nur aufs Bett, um besser nachdenken zu können.

„Woher kommt Frau Betty eigentlich?“, frage ich unsere Heimleiterin und versuche ganz harmlos dreinzusehen.

„Woher?“, fragt sie zurück und nestelt an ihrer ewigen Perlenkette.

Ich lächle sie an, freundlich, aber ein bisschen doof. Ich hoffe, ich habe Anne den Blick gut abgeschaut.

„Sie ist bei einem Freiwilligendienst, wenn Sie verstehen …“

„So etwas wie Freiwillige Feuerwehr.“

Ihr Blick wird wachsamer. Und besorgt. „Nun, von einem Dienst, der sich um Menschen kümmert, die sonst niemand mehr haben.“

„Sie hat geerbt, nicht wahr? Weil sie ein guter Mensch ist.“

„Wie … meinen Sie das?“

„Na ja. Geld und so, von Residenzbewohnern, oder?“

„Unsinn! Woher haben Sie das denn, Frau Prager?“

„Ich weiß nicht … Da war was auf dem Computer von Hannes, glaube ich. Der wird gleich abgeholt. Von einem Fachmann.“

„Aber er gehört Ihnen doch nicht.“

„Doch, Hannes hat gesagt, ich kann ihn haben.“

„Hannes’ Sachen werden demnächst von seinem Bruder …“

Ich drücke Tränen aus meinen Augenwinkeln. Das geht einfacher als früher. Ich muss bloß an seine Bettdecke mit den lila Giraffen denken.

Die Heimleiterin legt ihre Hand auf meinen Unterarm. Ich hasse derartige Berührungen. Ein Übergriff. Aber sie lernen das in irgendwelchen idiotischen Seminaren. Nur dass ihnen keiner sagt, dass das nicht alle wollen. Und dass man fragen sollte. Wie bei anderen Annäherungsversuchen auch. „Wo ist der Computer jetzt? Sie geben ihn mir besser, dann brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen, liebe Frau Prager. Die Sache scheint Sie doch ziemlich mitgenommen zu haben.“

Weiterspielen. Verwirrter Anne-Blick. „Ich weiß nicht …“

„Wir sollten uns einen Termin ausmachen, mit Doktor Fandler.“

„Geht es Ihnen nicht gut?“, frage ich zurück. „Ich brauch keine Psychologin …“

Die Residenzdirektorin seufzt. „Vielleicht haben Sie recht.“

 

„Er ist in meinem Zimmer in Sicherheit“, sage ich und gehe ab.

Für meine nächste Erkundung brauche ich Weidmar-Klein. Weil ich schon zu schwach und verwirrt bin. Wir tappen nebeneinander in die Apotheke.

„Sie benötigt dringend etwas fürs Gemüt“, erklärt er Zehetner. „Dieser Todesfall. Er hat sie sehr mitgenommen.“

Ich sehe drein, als hätte ich eine Wagenladung Glückspillen nötig. Oder was man sich da immer einwirft.

„Das geht nicht, das wissen Sie doch, das muss verschrieben werden. Ich kann ihnen etwas Johanniskrautöl geben, ausnahmsweise.“

„Dabei gibt es hier so viele Dinge, die wirklich wirken“, murmle ich. „Oder gibt es die nicht mehr, nachdem Hannes alles gestohlen hat?“

„Das ist doch Unsinn, Frau Prager, aus der Apotheke kann man nichts stehlen, dafür bin doch ich da.“

Ich wechsle einen Blick mit Weidmar-Klein. Ja, er ist immer da. Und wo war er, als wir Hannes gefunden haben? Oder … hat er …

„Aber die Polizei sagt was anderes“, murmelt Weidmar-Klein.

Zehetners Verunsicherung wäre auch für eine Blinde zu spüren. Oder würde Fräulein Marie sie riechen? Wir hätten sie mitnehmen sollen. „Da ist nichts weggekommen.“

„Und was hat man dann bei Hannes im Zimmer gefunden?“ Ich bin außer Übung. Ich bin aus meiner Rolle gefallen. Der Satz kam zu scharf und gar nicht verhuscht. Aber ihm scheint das nicht aufgefallen zu sein. Er wiegt den Kopf. „Ich weiß nicht, ich kann mir das nicht erklären, ich habe der Polizei gesagt, dass nichts fehlt, und es sonst abzuzweigen …“

„Sie meinen, nachdem die Mittel die Apotheke verlassen und bevor sie uns verfüttert werden?“, setze ich nach.

Stirnrunzeln. „Wir sollten vielleicht wirklich etwas tun für Sie.“

„Glaube ich weniger. Was ist?“

Zehetner sieht Weidmar-Klein beinahe hilfesuchend an. Authentisch zu sein wirkt eben doch am besten.

„Na?“, ergänzt mein Freund und stützt sich auf seinen Rollator.

„Das … das hätte man gemerkt. Nicht immer und sofort, aber doch …“

„Das heißt, Sie glauben nicht, dass Hannes unsere Drogen geklaut hat?“

„Wie das klingt, als ob wir Ihnen Drogen …“

„Na?“, sagt mein Freund wieder. Schön langsam könnte er sich einen anderen Text einfallen lassen.

Zehetner seufzt. „Nein, ich glaube es eigentlich nicht. Außer er hat von außen … oder gerade an diesem Tag das allererste Mal …“

„Und warum hat die Residenzdirektorin dann erzählt, dass er Drogen geklaut hat? Aus ihrer Apotheke?“

„Ich … weiß es nicht.“

Ich sehe auf die Uhr. Ich kann im Moment nicht einordnen, was das bedeutet. Es hat schon etwas für sich, wenn das Drehbuch am Tisch liegt und man zur Not nachsehen kann, wie alles ausgeht und wer am Ende der … oder die … Ich muss nach oben. Dringend.

Der dämliche Lift. Er kommt und kommt nicht. Weidmar-Klein braucht ihn. Ich aber nicht. Ich hetze die Treppen hinauf. Tadellos geht das mit dem Knie. Und mir ist auch nicht im Geringsten schwindlig. Ich drücke mich an die Mauer, gleich ums Eck ist mein Zimmer. Und bevor ich noch überlegen kann, was ich als Nächstes tue, sehe ich die Heimleiterin aus meiner Tür kommen. Mit dem Laptop. Sie sieht sich kurz um, richtet sich gerade auf, ganz Dame, trägt ihn unter dem Arm, als ob ihr hier alles gehören würde, und verschwindet den Gang hinunter.

Mein Zimmer kommt mir fremd vor. Obwohl alles so ist, wie es war. Minus Computer. Aber der stand ohnehin erst seit kurzem da. Fran, der Experte. Ich sollte das Naheliegende tun, ihn anrufen.

„Die Direktorin hat ihn“, fasse ich zusammen, nachdem ich ihm in groben Zügen alles erzählt habe. „Sie hat ihn geklaut.“

Schweigen. Ich warte darauf, dass er mich fragt, ob es mir gut geht.

„Wirklich“, füge ich hinzu. Es klingt, als könnte ich es selbst nicht glauben.

„Shit. Dann hätte ich ihn doch gleich in der Nacht holen sollen. Vielleicht will sie ihn bloß dem Bruder weitergeben. Oder aber sie glaubt, dass da was drauf ist, das ihr schadet. Sie haben ja ordentlich Theater gespielt, Frau Prager. Auch egal jetzt. Ich sag Mira, sie soll möglichst rasch kommen. Wenn sie Sie besucht, fällt das nicht auf. Wegen der Biografie. Am besten, Sie sperren inzwischen zu und lassen niemanden rein.“

„Und was ist mit Weidmar-Klein?“

„Wem?“

„Wenn der Apotheker redet …“

„Wer?“

Etwas begriffsstutzig sind sie schon, die Jungen heutzutage. Computerfirma hin oder her.

„Das sind die Fakten“, sage ich, als wir zu viert in der Besucherecke im ersten Stock sitzen. „Die Heimleiterin hat den Laptop aus meinem Zimmer geklaut. Nachdem ich ihr erzählt habe, dass ihn ein Fachmann auf verschlüsselte Daten durchsehen wird. Im Zimmer von Hannes war der Geruch der heiligen Betty.“

„Und es kann nicht der Geruch der Direktorin gewesen sein?“, fragt Dr. Hubmann unser Fräulein Marie.

„Aber sicher nicht“, antwortet sie empört.

„Zehetner sagt, dass aus der Apotheke nichts weggekommen ist, obwohl die Heimleiterin das behauptet hat. Und er glaubt auch nicht, dass Hannes viel von unseren Rationen abgestaubt haben kann. Sonst wären ein paar noch mehr gaga geworden, als sie es schon sind.“

„Sie sind böse“, kichert Fräulein Marie.

„Die stecken unter einer Decke, die heilige Betty und die Direktorin“, konstatiert Dr. Hubmann.

„Oder wir sind alle in einem Irrenhaus und wissen es bloß nicht“, murmelt Weidmar-Klein.

Ich sehe ihn an. Hannes. Er hatte Sinn für Humor. Pension Schöller. Das Textbuch. Wenn er tatsächlich etwas aufgeschrieben hat … Was hat Fran gesagt? Er würde es auf einen Zettel schreiben, oder auch in ein Buch … ein Textbuch … „Ich bin gleich wieder da. Herr Weidmar-Klein, Sie kommen bitte mit. Samt E-Card.“

JOSEF: Nein. Bei uns zu Haus trinkt nur meine Frau – und das hab ich lang nicht gewußt. Erst bis ich sie eines Tages nüchtern g’sehn hab. (will abgehen)

SOPHIE: (altjüngferlich, hat die ganze Zeit geschrieben. Zu Josef) Ich möchte zahlen. Eine Schokolade.

JOSEF: Gebäck?

SOPHIE: Fünf. Von diesen da.

JOSEF: Sind genau fünfzehn Kreuzer.

Der Text ist eigentlich nicht besonders, aber die Notiz darunter …

1.11. – Baumböck 2.000 – 700, Gerngross 15.000 – 6.000, Alt-mann 4.000 – 600, Kowalsky 3.000 – 2.000, Pieber 8.000 – 2.900

Die Namen kennen wir, das sind Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Es könnte um Geldbeträge gehen. Bedeutet der Strich ein Minus oder das, was übrig geblieben ist?

Dr. Hubmann schüttelt den Kopf. „Das Erste ist der Betrag und das Zweite das, was davon abgezogen wurde“, sagt er im Brustton der Überzeugung.

„Vielleicht haben sie das eine auf der Bank und das andere im Zimmer“, überlege ich.

„Oder hatten es im Zimmer“, murmelt Weidmar-Klein.

„Hannes hat es nicht gestohlen“, sagt Fräulein Marie.

„Die heilige Betty. Oder die Direktorin. Oder beide.“

„Oder doch Hannes?“, setzt Dr. Hubmann nach. Er hat eine gewisse Schwäche für die Direktorin, hatte er immer schon. Wahrscheinlich steht er auf den Perlenkettenschmäh.

Ich schüttle den Kopf. „Wir sollten uns an das halten, was wir sehen, und weniger an das, was wir glauben.“

Die beiden alten Männer sehen mich bewundernd an und Fräulein Marie hebt den Kopf, als würde sie etwas Besonderes riechen. Ich muss mir den Satz merken, unbedingt. Er soll in meine Biografie. Die beiden sehen mich noch immer an. Sie warten auf etwas. Für einen Augenblick bin ich etwas durcheinander. Ja. Das war es. Apropos. „Es gibt etwas, das die Leute auf der Liste gemeinsam haben: Sie sind senil, mehr oder weniger verwirrt, altersdement. Die wissen nicht, wo ihr Geld geblieben ist, und selbst wenn sie behaupten, dass ihnen Geld fehlt, würde das als Anfall von Verwirrung gewertet. Ist ja auch häufig so. Meine frühere Nachbarin, Frau Jenny, hat immer wieder herumgeschrien, ich würde ihr alles stehlen, und natürlich habe ich nie etwas angerührt.“

„Wir müssen mit ihnen reden“, schlägt Weidmar-Klein vor. „Oder es zumindest versuchen.“

Die Gespräche mit den mutmaßlich Bestohlenen sind so mühsam wie vorhergesehen. Herr Baumböck bezichtigt umgehend Weidmar-Klein, ihn bestohlen zu haben, er müsste ein paar tausend Euro dahaben, aber er finde nur mehr fünfhundert. Frau Gerngross ist sich sicher, dass es Hannes war, der ihr Geld geklaut hat, die gute Frau Betty habe sie noch vor ihm gewarnt. Frau Altmann findet momentan nicht einmal ihren Kasten, sie hält ihn für das Fernsehgerät. Herr Kowalsky ist zum Glück etwas besser drauf, er war Prokurist und schreibt alles auf, nur dass er den Zettel verlegt hat. Ich stelle gemeinsam mit ihm sein ganzes Zimmer auf den Kopf, aber wir finden ihn nicht. Er erinnert sich jedenfalls daran, dass ihn Hannes davor gewarnt hat, zu viel Geld daheim zu haben. Und er meint, aus seiner Brieftasche fehlen mindestens tausend Euro. Frau Pieber bekommt einen Weinkrampf und wir nichts aus ihr heraus.

„Was wir tun müssen, ist eigentlich ganz einfach“, sage ich, als wir nach dem Mittagessen in einer sonnigen Ecke vor dem Heim lehnen. Fast wie eine Gang. Oder Undercover-Cops. Man sollte eine rauchen. Muss ja kein Joint sein. Aber woher kriegen …

„Was?“, fragt Fräulein Marie, „was müssen wir tun? Und einfach?“

„Eine Falle stellen“, ich sage es lässig und halte mein Gesicht in die Sonne. Novembersonne, aber warm, zumindest heute. „Wir müssen sie in die Falle locken. Mit Geld. Jemand von uns hat Geld bekommen. Und es ist da. Für kurze Zeit.“

„Und was, wenn eines der senilen Weiber der heiligen Betty von unseren Nachforschungen erzählt?“, wirft Dr. Hubmann ein. Er hasst es, wenn jemand anderer die Führung übernimmt.

„Es könnte auch die Heimleiterin sein. Sie hat gelogen. Und den Laptop geklaut“, entgegne ich.

„Das ist doch Quatsch. Ganz abgesehen davon: Wie stellen Sie sich das im Detail vor? Der Lockvogel zwitschert in seinem Zimmer und die anderen verstecken sich irgendwo? Unsere angeblichen Apartments sind keine englischen Herrenhäuser.“

„Sie müssen ja nicht mittun, wenn Sie Angst haben.“

„Angst?“, Dr. Hubmann brüllt derart, dass der Fahrradbote, der gerade in den Hof einbiegt, ins Schleudern kommt.

„Uns mit Drogen umzubringen und dann so zu tun, als wären wir Junkies gewesen, wäre jedenfalls ziemlich unglaubwürdig“, gebe ich zurück. „Also: Wer ist dabei?“

„Ich könnte den spielen, der Geld bekommen hat“, schlägt Weidmar-Klein vor. „Ich bin der Älteste und ich gelte als etwas senil.“

Ich protestiere, er lächelt mich charmant an, um die Augen hat er ganz reizende Falten. „Liebe Rosa, wenn ich bisweilen nicht einmal meine Tochter erkenne? – Das Problem ist nur: Ich habe kein Geld.“

„Das Geld wäre kein Problem“, meint Dr. Hubmann.

„Wir machen es“, sagt Fräulein Marie. „Ich werde auf dem Gang zum Zimmer sitzen und Wache halten. Wer immer kommt. Ich höre sie viel früher, als ihr sie sehen könnt. Und ich sitze ja dauernd in irgendwelchen Gängen herum, damit das Leben zumindest an mir vorbeigeht.“

Ich war noch nie im Zimmer von Weidmar-Klein, man achtet hier auf Privatsphäre und das finde ich gut so. Ich sehe mich interessiert um. Eine Menge Fotos, aber keines von einer Frau, nicht einmal von seiner Tochter, die meisten sind von Hotels und exotischen Gegenden. Es riecht ein wenig nach altem Mann, aber auch sehr nett nach seinem Rasierwasser. Wir haben unsere Köder ausgelegt. Alle wissen, dass Weidmar-Klein von einem verstorbenen Cousin 20.000 Euro geerbt hat. Sie sind in seinem Zimmer, demnächst will er sie zur Bank bringen. Er hat am Nachmittag im Café Residenz für alle Anwesenden eine Runde Sekt spendiert. Ich habe schon lange keinen getrunken, mir ist angenehm luftig im Kopf, ich sollte das viel öfter machen. Die Residenzdirektorin schwirrt aufgeregt herum und hat Weidmar-Klein zugeflüstert, dass sie es für keine gute Idee halte, so viel Geld im Haus zu haben. Wenn es ihm recht sei, gebe sie das Geld in den Safe. Die heilige Betty ist seit mehr als einer Stunde im Haus. Allerdings ist sie sehr rasch zum „armen Herrn Hlavac, der ja leider nicht mehr viel mitbekommt, aber umso mehr braucht er mich“, in die Pflegestation verschwunden.

Ich verstecke mich im Kleiderschrank. Dr. Hubmann, von dem wir jetzt wissen, dass er klaustrophobisch ist, lauert im Klo. Auch nicht viel besser für ihn. Und Fräulein Marie sitzt, wie ausgemacht, am Gang. Wenn sich jemand dem Zimmer von Weidmar-Klein nähert, wird sie husten. Drei Mal für die heilige Betty, zwei Mal für die Heimleiterin. Husten fällt bei uns nicht besonders auf.

 

Ich hoffe, Weidmar-Klein hält durch, mir kommt vor, sein Kreislauf ist momentan nicht besonders stabil. Ein paar Mal hat er sich rasch am Tisch oder einer Wand anhalten müssen, aber er streitet jede Schwäche ab, er habe sich schon lange nicht so wohlgefühlt wie heute, und wenn er sich daran erinnere, wie sie 1954 im Hilton Bagdad den Trickbetrüger überlistet haben …

Es hustet. Drei Mal.

Ich ziehe die Kastentür hinter mir zu. Bin ich es, die eine Kreislaufkrise kriegt? Das Blut rauscht im Kopf. Oder macht das der Sekt?

Das süßliche Gerede im gesäuselten Klageweiberton ist unerträglich.

„Wie geht es Ihnen denn heute, mein Lieber?“

„Gar nicht so gut“, krächzt Weidmar-Klein.

Für einen Moment erschrecke ich, seine Stimme, was hat er? Aber wir haben ja ausgemacht, dass er auf alt, schwach und krank macht. Nun gut, alt ist er wirklich.

„Nein, so was, kann ich irgendwie helfen? Vielleicht wollen Sie mit mir zu unserem Herrgott beten? Oder zur Jungfrau Maria? Oder wollen wir lieber einen kleinen Sekt trinken? Ich habe gehört, dass es etwas zu feiern gibt?“

Nimm ja keinen Sekt von ihr, der könnte vergiftet sein. Fast springe ich schon aus dem Kasten, aber ich halte mich zurück.

„Ja“, sagt unser Komplize mit schwacher Stimme, „mein Cousin hat mir 20.000 Euro vermacht, aber in meinem Alter … Jetzt habe ich das Geld da liegen und muss mir überlegen, was ich damit anfange.“

„So viel Geld? Da müssen Sie gaaaanz vorsichtig sein.“

„Geld? Welches Geld? Ach so.“

„Nicht, dass wir es dann nicht mehr wiederfinden. Wo haben wir das Geld denn?“

Jetzt ist ihr Tonfall nicht mehr Klageweibergesäusel, sondern um einige Töne höher und spitzer.

Weidmar-Klein übertreibt. Jetzt tut er, als würde er das Geld nicht finden. Wir haben es in einen kleinen Koffer gepackt, natürlich nicht die ganzen 20.000 Euro, sondern viel Zeitungspapier mit etwas Geld obenauf. Was, wenn sie ihn einfach niederschlägt? Aber da kennt sie womöglich bessere Wege. Ich zucke zusammen. Weidmar-Klein macht sich am Kasten zu schaffen, er ist wirklich senil, er hat vergessen, dass nicht der Koffer im Kasten ist, sondern ich. Ich kralle meine Finger in den Mittelsteg der Tür, zum Glück habe ich mehr Kraft.

„Der klemmt wohl“, meint er. Ich bekomme vor Aufregung kaum mehr Luft, endlich, jetzt hat er den Koffer unter dem Bett gefunden.

„Soooo viel schööönes Geld“, sagt die heilige Betty mit einer Stimme, die noch um eine Oktave gestiegen ist. Bald singt sie das hohe C. „Da wollen wir doch einen kleinen Schluck darauf trinken, nicht wahr?“

„Ich glaub’, ich muss auf die Toilette“, murmelt Weidmar-Klein.

Wenn er jetzt auch vergessen hat, dass Dr. Hubmann im Klo lauert …

„Soll ich Ihnen helfen?“

„Nicht nötig.“

Ich höre, wie er zur Vorzimmertür tappelt, sie öffnet, dann die Klotür. Aber kein Ausruf der Verwunderung, kein Schrei, entweder ist Dr. Hubmann abgehauen oder die beiden drücken sich im Klo zusammen.

Jetzt bin ich dran. Die Kamera einschalten. Ich öffne die Kastentür einen Spaltbreit. Frau Betty lauscht. Ich öffne die Kastentür weiter, wir haben sie mit Salatöl geschmiert, sie greift zum Geld, steckt ein Bündel in die Tasche, ich fotografiere ohne Blitz, es muss gelingen, ich fotografiere seit Jahrzehnten, nur diese neumodische Digitalkamera hab ich kaum jemals verwendet. Sie sieht mich immer noch nicht. Jetzt ein empörter Aufschrei, sie hat zu tief in den Koffer gegriffen und ist auf das Zeitungspapier gestoßen, ich fotografiere weiter, aber ich muss nicht aufgepasst haben, ich bekomme das Übergewicht und falle förmlich aus dem Kasten.

„Was haben wir denn da?“, säuselt sie mit einem Unterton, spitz wie Eisnadeln.

„Das wars“, keuche ich tapfer, „die Polizei ist schon unterwegs.“

„Ach was?“ Sie schnappt mich, hält mich fest, dass die heilige Betty solche Kraft hat, ich versuche mich zu wehren, sie beutelt mich, mein Arm schmerzt, ich keuche, sie zieht eine Spritze heraus, nein, will ich schreien, aber ich höre keinen Ton, nur mein Keuchen, ich versuche, nach ihr zu treten, sie wirft mich zu Boden, meine Hüfte, Feuer in meiner Hüfte, ich reiße den Mund auf, sie kniet auf mir, ihre wässrigen blauen Augen kommen immer näher, aber das ist nicht Rotkäppchen und der Wolf, sie hält mir den Mund zu, eine feuchte Hand wie eine Qualle, ich werde ersticken, sie hat eine Spritze, sie hebt die Spritze, ich sehe nur mehr diese Spritze, und dann fällt die Spritze, nicht in meinen Arm, sie fällt zu Boden und die heilige Betty sackt auf mir zusammen, wie eine mechanische Puppe, der die Batterie ausgegangen ist.

Dr. Hubmann und Weidmar-Klein stehen da, Dr. Hubmann hat einen Golfschläger in der Hand, wo hat er den her?

Und draußen hat Fräulein Marie offenbar einen Keuchhustenanfall, sie hustet und hört gar nicht mehr auf damit. Ich versuche unter der heiligen Betty hervorzukriechen, das ist gar nicht so einfach, meine Hüfte brennt immer noch.

Ist sie tot? Ganz still ist es plötzlich im Raum. Nur draußen hustet es immer noch.

„Sie atmet“, sagt Dr. Hubmann.

Ich werfe mich mit aller Kraft auf die Seite, komme frei, kauere neben ihr. Blut tropft aus einem Cut auf der Stirn. Ich sehe ihre Augenlider flattern.

Sie öffnet die Augen. „Ich werde Sie anzeigen, wegen Mordversuch. Und wegen Mord an dem Zivildiener“, krächzt sie in Richtung Dr. Hubmann.

„Uns auch?“, frage ich, richte mich an der Wand auf und reibe mir die Hüfte. „Ich habe Fotos. Und wir sind vier. Vier Zeugen.“

Die heilige Betty lacht schrill. „Zeugen? Schöne Zeugen. Eine Blinde und drei Verwirrte. Wem wird man glauben? Ha?“ Da ist gar kein Säuseln mehr in ihrer Stimme.

Ich hole Luft. „Sie haben Hannes mit einer Überdosis ermordet. Er ist Ihnen auf die Schliche gekommen. Er hat eine Liste mit den Namen und den fehlenden Geldbeträgen. Die Sie gestohlen haben.“

„Sie lügen!“

„War es nicht so?“

„Und wenn? Man wird euch debilen Idioten kein Wort glauben, wofür braucht ihr denn euer ganzes Geld? Ihr kratzt doch sowieso gleich ab!“

„Näher mein Gott zu dir“, spöttelt Dr. Hubmann jetzt schon wieder mit fester Stimme.

Die Tür wird aufgerissen, Dr. Hubmann geht mitsamt Golfschläger zu Boden.

Die Heimleiterin. „Um Gottes willen“, ruft sie und beugt sich über die heilige Betty.

„Sie haben Frau Betty niedergeschlagen“, stammelt die Heimleiterin.

Dr. Hubmann rappelt sich auf. In der Hand hält er die Spritze.

„Nein!“, schreit die Heimleiterin.

„Sie haben mich niedergeschlagen“, jammert die heilige Betty, „diese debilen … ich meine, diese verwirrten Menschen haben gedacht, ich will Herrn Weidmar-Klein Geld wegnehmen“, sie lacht scheppernd, „ausgerechnet ich! – Man muss sie ruhigstellen. In ihrem eigenen Interesse. Sie hätten mich umbringen können.“

„Ich …“ Die Heimleiterin sieht verwirrt von ihr zu uns zu ihr. Fräulein Marie tappt bei der Tür herein.

„Sie wissen, was geschieht, wenn Sie die Leute nicht im Griff haben. Mord und Totschlag in der Residenz. Die werden das Haus verkaufen, so schnell können Sie gar nicht schauen“, ätzt Betty. „Sie hängen mit drin, schon vergessen?“

Die Heimleiterin schüttelt langsam den Kopf, die Perlenkette schwingt auf ihrer hellblauen Bluse hin und her. „Nein, ich …“

Fräulein Marie gibt mir Zeichen. Eine Blinde, die Zeichen gibt. Oder hat sie einen spastischen Anfall? Ich hinke zum geöffneten Kasten. Das Aufnahmegerät. Konzentration. Der Knopf zum Zurückspielen. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Startknopf drücken.

„… wofür braucht ihr denn euer ganzes Geld? Ihr kratzt doch sowieso gleich ab!“ knarrt es aus dem Rekorder.

„Ich wollte nie …“, ächzt die Direktorin. Dr. Hubmann ist sich nicht zu blöd, sie zu stützen. Oder hält er sie fest?

„Sie haben den Laptop geklaut“, sage ich.

„Ich … wir können keine Aufregung brauchen, keine schlechte Presse. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin, die Geld … Ich hätte alles aufklären wollen, natürlich, aber ohne Öffentlichkeit. Ich will nicht, dass man das Haus verkauft, es ist mein Leben … und irgendwie doch auch Ihres, das von Ihnen allen, zumindest jetzt …“

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