Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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Kindheitserlebnis

Mit einer Ausnahme hatte ich bis vor zehn Jahren keinen näheren Kontakt zu Ausländern. Ich war damals ungefähr zwölf Jahre alt, als mein Vater, der auch Lehrer war, einen Inder als Gast mit zu uns nach Hause brachte. Nach meinen heutigen Schätzungen war er ca. 20 Jahre alt, freundlich und trug einen Turban. Er saß lange mit meinen Eltern und uns Geschwistern zusammen im Wohnzimmer und unterhielt sich mit uns mehr oder weniger verständlich. Wir Kinder mussten später ins Bett gehen und als er sich dann verabschiedete, kam er noch in unser Kinderzimmer. Ich lag im oberen Stock eines Doppelstockbettes und schlief noch nicht, was ich jedoch von meinen zwei Geschwistern annahm. Plötzlich kam er an mein Bett und legte seine Hand zwischen meine Beine. Ich bekam Angst und schob ihn von meinem Bett weg. Daraufhin wiederholte er dasselbe noch einmal und ich sprang geistesgegenwärtig aus dem Bett. Er erschrak und ich habe ihn wohl irritiert, so dass er schnell aus dem Zimmer verschwand. Meinen Eltern erzählte ich später nichts davon.

Mein Bild von Ausländern entstand, indem ich ihnen dieses Erlebnis als typisch zuordnete. Heute weiß ich längst, dass so etwas nicht ausländertypisch ist, sondern in den besten Familien vorkommt bzw. noch Schlimmeres innerhalb und außerhalb von Kinderzimmern passiert. Es ist bestimmt auch nicht charakteristisch für Angehörige einer bestimmten Religion, sondern einfach eine perfide Eigenschaft bestimmter Menschen, sich an Kindern zu vergehen.

Jahre später hat mir zum Beispiel meine jüngere Schwester anvertraut, dass sich ihr der zweite Mann unserer Großmutter mütterlicherseits unsittlich nähern wollte, als sie als Kind bei den Großeltern zu Besuch war. Und das war ein Deutscher!

Das Erlebnis mit dem Inder habe ich verdrängt, es war ja nichts passiert. Wenn ich so an meine Kindheit zurückdenke, kann ich mich nicht erinnern, dass in meiner Heimatstadt Schwarzenberg Ausländer zu sehen waren. Die Straßen waren praktisch leer davon, es gab nicht einmal Vietnamesen, die viele heute, aus welchem Grund auch immer, Fidschis nennen, obwohl sie ja bekannterweise nicht von den Fidschiinseln kommen.

Man hatte also nur mit Deutschen zu tun, obwohl wir in der Schule Russisch lernen mussten und ich sogar freiwillig am Englischunterricht teilnahm. Komischerweise habe ich mich nie gefragt warum, denn die Aussicht auf einen Auslandsaufenthalt in den betreffenden Ländern war äußerst gering, sozusagen bei fast null Prozent Wahrscheinlichkeit. Heute bin ich natürlich froh, dass ich mich nicht dagegen gesträubt, sondern fleißig gelernt habe. Vor allem meine Englischkenntnisse sind bei meiner Arbeit mit den Migranten von Vorteil, wobei die Muttersprache der meisten Arabisch ist, das ich leider nicht sprechen und verstehen kann. Aber die Sprache drückt sich ja nicht nur in Worten, sondern auch in Gesten, Blicken und Mimik aus.

Migratio

In meiner ersten Klasse am Berufsschulzentrum in Freiberg waren drei junge Männer aus Pakistan, die seit sieben Jahren in Deutschland sind und vier Jahre davon im Asylbewerberheim in der Chemnitzer Straße 50 wohnten. Sie hatten bis dahin keine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen, außer der Aneignung des sogenannten Straßendeutsch, mit dessen Hilfe sie mir von ihrer Reise ins Ungewisse erzählten. Ich erfuhr, dass die Jugendlichen aus relativ wohlhabenden Familien stammen und in ihrem Heimatland große Landflächen besitzen. Asim ist einer von ihnen, der mit den politischen Verhältnissen in seinem Land nicht einverstanden ist. Nach wie vor kommt es seit der Machtergreifung des Reformpolitikers Musharraf zu Übergriffen der Sicherheitskräfte und Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Bereichen, vor allem gegenüber Inhaftierten, Frauen und religiösen Minderheiten. Um seine Reise nach Deutschland zu finanzieren, hat Asims Familie einen Teil ihres Landbesitzes an einen Onkel verkauft. In unserem reichen Land angekommen, lebt er jetzt seit vier Jahren als Geduldeter im Asylbewerberheim. Sein Taschengeld bessert er sich durch Schwarzarbeit auf mit dem ständigen Risiko, von der Polizei kontrolliert zu werden. Er ist unendlich dankbar, in die Schule gehen zu dürfen, um seine Chance eines dauerhaften Aufenthalts in Deutschland zu erhöhen. Im März erfährt Asim von seiner Hepatitis-Krankheit, die für die anderen Heimbewohner eine Ansteckungsgefahr bedeutet. Für ihn beginnt eine Odyssee, die ihn von Behörde zu Behörde und von einem Arzt zum anderen führt. Sein Hausarzt und die Gesundheitsbehörde werden aktiv und informieren den Heimleiter und die Ausländerbehörde. Eine Vertreterin des Sächsischen Flüchtlingsrates hat sich außerdem darüber informiert, dass Hepatitis C in Pakistan nicht erfolgreich zu behandeln ist, um eine eventuelle Abschiebung des pakistanischen Flüchtlings zu verhindern. Im Juni fahre ich mit Asim nach Chemnitz ins Küchwald-Krankenhaus, wo er sich behandeln lassen muss und im Juli eine längere Therapie zur Überwindung seiner Krankheit beginnt. Ich formuliere für ihn einen Antrag an das Landratsamt für eine Wohnungsberechtigung, der auch bewilligt wird. Zusammen suchen wir im Internet nach einer Wohnung und erkundigen uns bei der Städtischen Wohnungsgemeinschaft in Freiberg danach. Leider haben wir keinen Erfolg, da zurzeit ein Mangel an Einraumwohnungen besteht, die in dem Mietpreislimit von 250 Euro liegen müssen. Überraschend erhält Asim Anfang Juli die Ablehnung seiner Wohnungsberechtigung durch das Landratsamt. Die Odyssee beginnt von vorn. Bei der Suche nach Hilfsangeboten erhält der Jugendliche aus Pakistan den Rat, sich an die damalige Landesvorsitzende der Linken im sächsischen Parlament Cornelia E. zu wenden. Ich formuliere einen Brief mit der Bitte an sie, sich für eine Wohnungsgenehmigung für ihn einzusetzen. Es dauert nicht lange und Asim kann eine Einzimmerwohnung in Brand, einem Ortsteil von Freiberg, beziehen. Nach ein paar Wochen besuche ich ihn dort und er berichtet mir, dass seine Krankheit weitestgehend geheilt ist und er eine Arbeitserlaubnis bekommen hat.

Warum verlassen Menschen ihre Heimat mit dem Risiko, in einem fremden Land nicht willkommen zu sein? Die Antwort ist so einfach und kompliziert zugleich und wird für jeden Menschen anders ausfallen. Einfach deshalb, weil die Menschen schon immer gewandert oder umgezogen sind, ob freiwillig oder unter Zwang. Das Wort „Migration“ stammt von dem lateinischen Wort „migratio“ ab und bedeutet so viel wie „(Aus-)Wanderung, Umzug“. Wenn ich in meinem Bekanntenkreis die Frage nach meiner Tätigkeit damit beantworte, dass ich Migranten unterrichte und betreue, wird oftmals nachgefragt, wodurch diese sich von Ausländern unterscheiden. Und ich erkläre es allgemeinverständlich so, dass ein Ausländer auch ein Urlauber sein kann, ein Migrant aber hier lebt bzw. auf einer Zwischenstation in ein anderes Land ist. Kompliziert zu beantworten ist die Frage nach den Gründen für Auswanderungen, weil sie so unterschiedlich wie die Menschen selbst sind. Der eine wurde in seinem Land aus politischen Gründen verfolgt, er ist ein Asylmigrant, der andere ist ein sogenannter „Konventionsflüchtling“, der in seinem Heimatland aufgrund seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedroht wird, aber nach dem Grundgesetz nicht asylberechtigt ist. Viele leben in Deutschland auch als „De-facto-Flüchtlinge“, das heißt, sie sind nur geduldet, können aber aus verschiedenen Gründen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden.

Eine andere Gruppe ist die der Bürgerkriegsflüchtlinge, Kontingentflüchtlinge und heimatlosen Ausländer, die vor allem aus humanitären Gründen aufgenommen werden. Relativ unbürokratisch werden seit 1990 jüdische Flüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen, um sie vor dortigen antisemitischen Übergriffen zu schützen. Dazu kommt eine Zahl von schätzungsweise hunderttausend „illegalen“ Zuwanderern, die in keine dieser Gruppen passen. Unabhängig davon, in welche „Schublade“ sich diese Menschen alle einordnen lassen müssen, gehören sie zu den mehr als 150 Millionen Menschen, die aktuell weltweit als Migrant in einem anderen als ihrem Ursprungsland leben.

Seit Januar 2011 ist Arian, ein Palästinenser aus Syrien, in meiner Klasse. Er lebt seit einigen Monaten in Deutschland und hat acht Geschwister, von denen ein Bruder in Berlin wohnt und die anderen in Syrien zu Hause sind. Seine Adresse ist das Asylbewerberheim in Freiberg, das er aber wie viele seiner Mitbewohner manchmal illegal verlässt, um in einer anderen Stadt zu arbeiten oder Verwandte zu besuchen. Dazu braucht er normalerweise eine Erlaubnis der Ausländerbehörde, umgangssprachlich „Urlaubsschein“ genannt. Wie ich von ihm erfahre, hatte er diesen aber nicht, als er für ein paar Wochen bei seinem Bruder in Berlin war, der dort bei einer GmbH arbeitet. Dort hat er sich einige Euro verdient, um seinen Rechtsanwalt zu bezahlen, der ihm bei der Durchsetzung seiner Aufenthaltsgestattung in Deutschland helfen soll. Bisher besitzt Arian nur ein sogenanntes Identitätspapier, das ihn zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt. In Berlin wurde er bei Kontrollen durch die Polizei erwischt und muss nun eine Strafe von 157 Euro für unerlaubten Aufenthalt außerhalb des Kreises Mittelsachsen bezahlen. Dieses Geld hat er natürlich nicht bzw. kann er nicht mit einem Mal bezahlen, da seine finanziellen Leistungen durch die Ausländerbehörde dafür nicht ausreichen, und das verdiente Geld bekommt ja sein Rechtsanwalt. Arian ist sehr intelligent, er spricht mehrere Sprachen, so außer seiner Muttersprache Arabisch noch Türkisch, Griechisch, Russisch und Englisch. Deutsch kann er ein bisschen sprechen, schreiben und lesen. Aber das Ausfüllen von amtlichen Formularen bzw. Antworten auf Zahlungsaufforderungen fällt ihm schwer, da er ja erst einmal das Amtsdeutsch verstehen muss, worin viele Deutsche ja auch ihre Schwierigkeiten haben. So habe ich für ihn einen Antrag geschrieben, mit der Bitte, den Betrag für die Strafe monatlich in Raten zu 10 Euro zu bezahlen.

 

Dafür hat er sich mehrmals bedankt und seine Erleichterung über die Verbesserung seiner finanziellen Situation zum Ausdruck gebracht. Für mich war dies eine kleine Mühe, für ihn eine große Hilfe.

Solche Erlebnisse sind für mich wichtig, weil mir eine menschliche Reaktion auf eine Unterstützung wichtiger ist als Geld.

Erziehungsmethoden

Einen großen Einfluss auf meine Erziehung hatte meine Großmutter. Ich hatte als Kind und auch später ein enges Verhältnis zu ihr. Sie war eine kluge und fortschrittliche Frau, die in ihrem Wohnort als herzensgut und hilfsbereit bekannt war und in ihrem Leben am wenigsten an sich selbst gedacht hat. Da ihre Kinder- und Jugendzeit in die Kriegs- und Nachkriegszeit fiel und ihre Eltern arm waren und vier weitere Kinder hatten, konnte sie keine „höhere“ Schule, wie es damals hieß, besuchen, obwohl sie die Fähigkeiten dazu gehabt hätte. Ihr Traum war es, Sängerin zu werden, denn sie hatte eine sehr schöne Stimme, die sie nach einer Schilddrüsenoperation verlor. Auch die Fähigkeit zur Schneiderin hätte sie gehabt, deren Lehre jedoch ihre Eltern nicht bezahlen konnten. So erlernte sie den Beruf einer Strumpfwirkerin, den sie bis zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ausübte. Sie erzählte mir, dass sie und ihr Mann während der Hitlerdiktatur unter die sogenannten Doppelverdiener fielen und sie deshalb unfreiwillig arbeitslos wurde. Ihr Mann, der im Zweiten Weltkrieg als Koch in seiner Kompanie in Ägypten tätig war, wurde 1942 durch einen Bombenangriff auf das dortige Feldlager getötet.

Ich habe also meinen Großvater nie kennengelernt, worüber ich heute noch traurig bin und weshalb ich die Absicht habe, irgendwann sein Grab in El Alamein zu besuchen.

Meine Großmutter heiratete mehr oder weniger aus finanziellen Gründen ein zweites Mal. Ich habe nie gespürt, dass sie und ihr Mann sich liebten, sondern eher nur eine „Wirtschaftsgemeinschaft“ waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete meine Oma viele Jahre als Köchin und später bis zu ihrem 67. Lebensjahr als Küchenhilfe. Ich hatte das Privileg, in den Schulferien regelmäßig zu meiner Oma fahren zu dürfen, wo ich sehr verwöhnt wurde und kaum Pflichten hatte. Zu Hause war das Geld knapp, da das Lehrergehalt meines Vaters nicht sehr hoch war und meine Mutter nur wenig als Reinigungskraft dazuverdienen konnte, da sie die meiste Zeit für die Familie da sein musste. Meine Aufgaben bestanden oft darin, das Treppenhaus zu wischen, für die ganze Familie die Schuhe zu putzen oder meiner Mutter bei der großen Wäsche und beim Mangeln dieser zu helfen.

Als ich zur Erweiterten Oberschule ging, hatte ich jeden Tag umfangreiche Hausaufgaben zu erledigen, wofür ich aber keinen Arbeitsplatz hatte und ich meine Bücher und Hefte auf dem Küchentisch ausbreiten musste, denn den Wohnzimmer-Tisch nahm schon mein Vater in Beschlag. Mein Zeitumfang war dadurch jeden Tag begrenzt, denn die Familie wollte ja Abendbrot essen und meine Mutter musste anschließend den Abwasch ebenfalls auf dem Küchentisch erledigen. Dazu holte sie jedes Mal zwei große Schüsseln aus dem Aufwaschschrank im Vorsaal, für den kein Platz mehr in der Küche war. Als Vorsaal bezeichnete man damals den Korridor der Wohnung, der alles andere als einem Saal ähnelte. Manchmal musste ich nach dem Abendbrot meine Schulsachen wieder aufbauen, um die Hausaufgaben zu beenden. In den Ferien dagegen faulenzte ich fast immer bzw. genoss meine Freizeit.

Bei meiner Oma musste ich höchstens mal den Wäschekorb tragen oder einkaufen gehen. Welchem Kind gefällt es nicht, wenn es nur wenig oder gar nicht im Haushalt helfen muss?

Von meinem heutigen Standpunkt aus sehe ich das natürlich anders, denn auch Kinder müssen aus erzieherischen Gründen ihren Beitrag im Haushalt leisten. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich mir einmal erlaubte, einen Brief meiner Eltern an meine Großmutter zu öffnen, in dem sie ihr mitteilten, dass meine Mutter wieder schwanger ist. Das war ziemlich frech, doch mir geschah nichts, aber ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Sonst war ich eigentlich ein pflegeleichtes Kind und machte meinen Eltern und Großeltern kaum Sorgen, wurde aber auch ohne Strenge erzogen. Einmal jedoch bekam ich von meinem Vater eine kräftige Ohrfeige, als ich völlig ahnungslos neben ihm vor dem Kohlenkasten in unserer Küche stand. Ich sollte erraten, wofür ich sie bekam, was mir jedoch nicht einfiel. Mein „Vergehen“ war, dass ich auf dem Heimweg von der Schule mit meiner Freundin ein Wettspucken veranstaltet hatte, bei dem uns mein Vater, der ein paar Meter hinter uns lief, beobachtete. Man hört oft die Meinung, dass eine Ohrfeige oder ein Klaps auf den Po noch niemandem geschadet hat. Mir hat es jedoch auch nichts genützt, denn am nächsten Tag wiederholten wir die „Aktion“, natürlich nicht ohne uns zu vergewissern, dass mein Vater nicht in der Nähe war.

Auch ich habe einmal die Beherrschung verloren und meiner ältesten Tochter eine Ohrfeige gegeben, nachdem sie mich aus irgendeinem Grund als „blöde Kuh“ bezeichnet hatte. Ansonsten halte ich von Schlägen jeder Art gar nichts, denn der körperliche Schmerz ist schnell vergessen, doch der seelische bleibt ein Leben lang.

In der Schule ist zum Glück die Prügelstrafe schon lange abgeschafft worden, obwohl sie heute wieder einige Leute gerne eingeführt hätten. Meine Großmutter erzählte mir, dass auch sie einmal von einem Lehrer mit dem Rohrstock auf die Finger geschlagen wurde und ihr Vater sie nicht nur einmal mit dem Ochsenziemer verprügelte. Meine Oma war das älteste Kind ihrer Eltern und hatte deshalb die meisten Pflichten, auch ihren drei Schwestern gegenüber. Als danach noch ein Junge zur Welt kam und ihr Vater diesen aus dem Fenster hielt mit der Bemerkung: „Else, hier ist dein Bruder!“, schrie sie zurück: „Ich will diesen Affen gar nicht sehen.“ Ihr Bruder ist später wie ihr erster Mann im Zweiten Weltkrieg gefallen.

Verurteilung

Als meine Großmutter 1997 im Alter von 87 Jahren einen Schlaganfall mit den Folgen einer halbseitigen Lähmung erlitt, nahm ich sie in unser Haus auf und pflegte sie vier Jahre lang. Bis zu diesem Alter führte sie noch ihren eigenen Haushalt und half auch mir bei der Bewältigung meiner häuslichen Aufgaben. Da ihre Wohnung von meiner nicht weit entfernt lag, kam sie fast täglich, um mir die eine oder andere Arbeit rund um das Haus abzunehmen. Oft waren, wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, schon die Betten gemacht, die Wäsche gebügelt oder das Geschirr abgewaschen. Ich erinnere mich noch an die Enttäuschung meiner Großmutter, als wir uns einen Geschirrspüler kauften, da sie befürchtete, jetzt weniger zu tun zu haben. Ihr Leben war fast ausschließlich ausgefüllt durch Arbeit, da sie es von Kindheit an nicht anders kannte. Sich selbst hat sie nur wenig gegönnt und immer zuerst an andere gedacht. Finanziellen Reichtum hat sie nie erlebt, doch an menschlichen Eigenschaften war sie reicher als mancher Bankier, Manager oder Politiker. Eines Tages sitze ich mit ihr wie so oft am Küchentisch, als sie die mehr rhetorische Frage stellt, was wohl mit ihr im Krankheitsfall werden wird. Spontan versichere ich ihr, dass ich sie bei mir aufnehmen und sie, wenn notwendig, pflegen werde. Bis zu dem Tag, der ihr und mein Leben verändern sollte, kamen wir nie wieder darauf zu sprechen. Es war an einem Nachmittag, als ich mit ihr meine jüngste Tochter von der Schule abholte. Meine Oma ging in der Zwischenzeit zum Bäcker, um Kuchen zu holen, den sie so gern aß. In dem Moment, als sie bezahlen wollte, erlitt sie einen Schlaganfall und fiel zu Boden. Da die Verkäuferin sofort die Dringende Medizinische Hilfe anrief, konnte ihr Leben gerettet werden, das von nun an ohne fremde Hilfe nicht mehr möglich war. Es begann eine Odyssee über Krankenhausbesuch, Rehakur in Thüringen bis zu Physiotherapie bei mir zu Hause. Meine Oma war nie eine gläubige Frau, doch in den letzten Wochen und Monaten betete sie häufig und rief nach Gott.

Meine älteste Tochter war gerade ausgezogen, so dass wir ein Zimmer in der oberen Etage frei hatten und meine Oma in unser Haus aufnehmen konnten. Da sie lange Zeit bis über das Rentenalter von damals 60 Jahren hinaus gearbeitet hatte, bekam sie eine relativ hohe Rente und außerdem eine passable Witwenrente. Davon hat sie uns die Pflege bezahlen können und vor allem meiner jüngsten Tochter Sandy immer ein paar Scheine zugesteckt. Während dieser Zeit arbeitete ich verkürzt und war ständig unter Zeitdruck zwischen der Erfüllung meiner beruflichen Pflichten und denen zur Pflege meiner Großmutter. Die Mittelschule meines Wohnortes, in der ich arbeitete, ist nur zehn Minuten Fußweg bzw. zwei Minuten Fahrweg mit dem Auto entfernt, so dass ich schnell von A nach B kam. Persönliche Interessen wie Kino- oder Theaterbesuche, sportliche Aktivitäten wie Joggen, Schwimmen oder Skifahren traten in den Hintergrund, da meine Oma ans Bett und ich dadurch ans Haus gefesselt war.

Wenn ich mich heute recht erinnere, besuchte mein Bruder seine Großmutter während dieser Zeit vier- bis fünfmal. Als sie 2001 starb, bekam ich von ihm vorgeworfen, mich an ihr bereichert zu haben. Und außerdem wäre ich schon immer geldgierig gewesen und habe nur deshalb unsere Großmutter gepflegt.

Eine andere Bemerkung von ihm war die, dass ich sie in einem „Loch“ als Zimmer leben ließ, das einer dringenden Renovierung bedurft hätte. Dafür hätten wir lieber eine Terrasse gebaut und mit Aktien spekuliert. Dieses „Loch“ war allerdings ein ganz normales Zimmer, das wir in dem gleichen Jahr, als meine Tochter aus- und meine Oma einzog, renovierten. Die Telekom-Aktien, die wir damals für 1000 Euro kauften, hatten wir übrigens in den sprichwörtlichen Sand gesetzt.

Vier Jahre hat meine Großmutter nur im Bett gelegen, da sie halbseitig gelähmt war und das Zimmer aus eigenen Kräften nicht verlassen konnte. Einmal pro Jahr haben wir veranlasst, dass sie zur Kurzzeitpflege in ein Pflegeheim kam.