Heilbuch der Schamanen

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Möglichkeiten der Annäherung

Bis gegen Mitte des 20. Jahrhunderts neigten die meisten Völkerkundler dazu, den Schamanismus als Oberbegriff für irrationale, mythisch-mystisch verwurzelte Rituale abzutun, die nachgerade charakteristisch für so genannte primitive Kulturen sind. Diese Überheblichkeit beruht auf der mangelnden Fähigkeit des rein mechanistisch denkenden »Vernunftmenschen«, sich bei der Beurteilung einer derart komplexen Materie auf Erfahrungswerte, eine pragmatische Einstellung und seine Intuition zu verlassen.

Von dem deutschen Naturphilosophen und Metaphysiker Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist der Satz überliefert: »Wenn die Wirklichkeit nicht mit meinen Theorien übereinstimmt, ist das umso schlimmer für die Wirklichkeit.« Ein Schamane wird diesem Gedanken nicht folgen. Er nimmt die Wirklichkeit so, wie sie sich ihm darstellt, ohne ständig nachzufragen, warum etwas ist, wie es ist.

Wo naturwissenschaftliches Denken versagt

Wem dieser Vergleich zu gewagt erscheint, der denke an die moderne Tiefenpsychologie. Sie arbeitet mit wissenschaftlich so vagen Begriffen wie Traumanalyse, Hypnose, Farb- und Klangtherapie oder Rückführungen in traumatische Geschehen. Ihre Erfolge mit den Mitteln der exakten Naturwissenschaften erklären zu wollen, wäre ein vergebliches Unterfangen. Doch lassen sich diese einwandfrei empirisch belegen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auf unterschiedliche Patienten übertragen. Es ist beachtlich, was die Tiefenpsychologie seit ihrer Begründung durch Sigmund Freud erreicht hat. Seither sind nicht viel mehr als zwei bis drei Generationen ins Land gegangen. Dabei ist diese Wissenschaft in dieser Zeit allein durch Erfahrungswissen verbessert worden, noch dazu innerhalb eines einzigen Kulturkreises. Im Vergleich dazu kann die wissenschaftlich ebenfalls kaum zu fassende schamanische Methodik aber auf mindestens 40 Jahrtausende rein spirituelles Erfahrungswissen, und dies in nahezu allen Kulturen der Welt, zurückblicken. Beim Schamanismus handelt es sich, so betrachtet, keineswegs um eine primitive Mythologie oder den ritualisierten Aberglauben von »Wilden«.

Es gibt eine Reihe von Krankheiten, an denen ein Mensch spirituell reifen kann. Sie führen u. a. dazu, den Sinn des Lebens klarer zu erkennen und die Gesundheit höher zu schätzen als ein immer Gesunder das vermag.

Gängige Vorurteile über Schamanen

Zwei Vorurteile gegenüber dem Schamanismus hört man häufig aus dem Mund von Schulmedizinern und Psychologen. Die einen bezeichnen Schamanen rundweg als geistesgestört und setzen deren Arbeit mit den ekstaseähnlichen Anfällen von Epileptikern gleich. Dieser Irrtum rührt daher, dass bei manchen Völkern, bei denen Epilepsie vermehrt auftritt, tatsächlich Epileptiker häufig Schamanen sind. Doch darf man deshalb keine falschen Schlüsse ziehen. Man kann allerdings davon ausgehen, dass die Epilepsie die spirituelle Reifung eines Menschen fördern kann.

Mancherorts bezeichnen sich Schamanen sogar selbst als geheilte Heiler. Es sind Menschen, die durch schwere Leiden gegangen sind, den Weg zur Genesung fanden und im Lauf dieser Zeit erkannten, wie sie auch anderen helfen können.

Wahnvorstellungen oder heilende Kräfte?

Das zweite Vorurteil gründet in der Tatsache, dass Menschen in Trancezuständen, die für den Schamanismus typisch sind, so genannte endogene Opiate erzeugen. Ihr Gehirn stellt währenddessen halluzinogene organische Verbindungen her, deren Wirkung jener von Rauschdrogen ähnelt. Als Folge davon, so argumentieren Schulmediziner, entwickle der Schamane Wahnvorstellungen.

Dies gilt es unbedingt richtig zu stellen. Nachweislich sind Schamanen in Trancezuständen in der Lage, sich selbst oder andere Menschen körperlich und seelisch zu festigen oder unter speziellen Umständen sogar zu heilen. Der abwertende Begriff »Wahnvorstellungen« wird diesen komplexen Prozessen wohl kaum gerecht.

Die Grundzüge des Schamanismus

Wenn Schamanismus aber weder eine Naturreligion noch ein primitiver abergläubischer Kult und schon gar keine psychische Krankheit ist, was ist er dann? Was zeichnet ihn aus?

Der Begriff »Schamanismus« stammt aus Zentralasien, genau gesagt aus der tungusischen Sprache. Er bezeichnet die Tätigkeit des Schamanen. Ethnologen waren es, die den Begriff »Schamanismus« einführten. Heute hat sich der Weltrat der Stammesvölker dieser Namensgebung angeschlossen.

Gezielte Arbeit mit der Seele

Ein Schamane kann sich durch bestimmte Techniken willentlich in einen tranceähnlichen Bewusstseinszustand versetzen und in diesem bewusst handeln. Er arbeitet dabei nicht mehr auf der vordergründigen Ebene des Verstands, sondern unmittelbar auf der seelischen.

Das ist an sich nichts besonderes. Jeder Mensch lebt und handelt zuweilen auf dieser Ebene, beispielsweise wenn er sich in einem Schockzustand befindet, wenn er liebt, sich glücklich fühlt oder ein religiöses Erlebnis hat. Üblicherweise geschieht das von selbst, nicht vorsätzlich, willentlich und gesteuert. Kein Mensch kann beschließen, sich zu erschrecken oder plötzlich Liebe zu empfinden.

Dass man heute von indianischem, schwarzafrikanischem, australischem oder europäischem Schamanismus spricht, ist ein Kennzeichen für seine weltweite Verbreitung. Praktisch alle Schamanen auf der Welt setzen im Prinzip gleichartige Techniken ein, selbst wenn sich ihre Rituale oft stark voneinander unterscheiden.

Ein Selbstexperiment zur Seelenarbeit

Ein ganz einfaches Experiment soll verdeutlichen, wie bewusste Seelenarbeit jedem von uns möglich ist:

Bitte denken Sie einmal an etwas, das Sie sehr, sehr lieb haben. Das kann ein bestimmter Mensch sein, vielleicht auch eine Landschaft, ein für Sie bedeutsames religiöses Symbol oder der Gegenstand Ihres Hobbys. Ich selbst wählte für dieses Experiment einmal Soldanellen, jene hauchfeinen Alpenglöckchen, die für mich die unbändige Kraft des Lebens verkörpern. Gleichsam über Nacht drängen sie auf dem ersten winzigen schneefreien Fleckchen zwischen Eis und Schnee hervor und trotzen auch strengsten Nachtfrösten.

Wenn Sie eine Wahl getroffen haben, schließen Sie Ihre Augen, entspannen sich einen Augenblick, atmen ruhig aus und danach gleichmäßig weiter und sagen sich leise: »Ich liebe Soldanellen. Ich liebe Soldanellen.«

Achten Sie dabei auf Ihren Körper: Wie fühlt sich die Atmung an? Welche Bewegungen vollzieht Ihr Zwerchfell? Wie empfinden Sie Ihre Gesichtszüge?

Nach einigen Minuten wiederholen Sie das Experiment, diesmal aber mit der Formulierung: »Ich hasse Soldanellen! Ich hasse Soldanellen!«

Spüren Sie den Unterschied in Ihren körperlichen Empfindungen? Dies ist die Wirkung Ihrer Seelenarbeit. Ihre Seele wehrt sich gegen die unmögliche Behauptung. Und Ihr Körper zeigt das ganz deutlich an, wenn Sie es denn zulassen.

Heute ist der Begriff »Neoschamanismus« in der westlichen Welt gebräuchlich. Darunter ist jedoch keine Ethno-Modewelle zu verstehen, sondern vielmehr eine zeitgemäße Globalisierung schamanischer Techniken aus allen Zeiten und Kulturkreisen.

Die Entdeckung durch die Wissenschaft

Nahezu ein Jahrhundert lang haben Ethnologen das Phänomen des Schamanismus bei Naturvölkern mehr oder weniger argwöhnisch und überheblich betrachtet. Ebenso distanziert fiel ihre Berichterstattung darüber aus.

In der Fachsprache nennt man diese Vorgehensweise eine phänomenologische Beschreibung. Sie umfasst lediglich das äußerlich Wahrnehmbare einer Sache, weshalb sie bisweilen weit an deren wahrem Kern vorbeigehen kann. Man kann sich dies so vorstellen, als beschriebe man von einer ungeöffneten Schatztruhe lediglich die äußere Form. Diese mag rostig, vielleicht auch angefault und modrig aussehen. Ein Anblick, der die Aussage ihres Besitzers über ihren unbezahlbaren Wert höchst fragwürdig erscheinen lässt.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verspürte daher kaum ein Ethnologe den unbändigen Drang, ernsthaft selbst Schamanismus zu praktizieren. Den einen galt er als gotteslästerlicher Aberglaube, den anderen als primitiver, unwissenschaftlicher Nonsens, den man unmöglich ernst nehmen konnte.

Südamerikanische Indianer weisen den Weg

Die Wende trat in den Jahren 1956/57 ein. Der amerikanische Ethnologe Michael Harner begegnete im Zug seiner Feldarbeit im Urwald von Ecuador am Ostfuß der Anden Schamanen der Jivaro-Indianer. Als er vier Jahre später am oberen Amazonas die Conibo-Indianer besuchte und erneut mit schamanischen Praktiken konfrontiert wurde, begann ihn das Thema ernsthaft zu interessieren.

Ein Selbstexperiment mit Folgen

Harner nahm das Angebot der Conibos an, ihn in die schamanische Praxis einzuführen. Dazu verabreichten sie ihm ein hoch konzentriertes Ayahuasca-Gebräu, den Absud einer Urwaldliane, eine der wirksamsten halluzinogenen Drogen. Der Wissenschaftler geriet daraufhin in eine Tieftrance. Wahrscheinlich hätte er seine Erfahrung als Drogenrausch abgetan, wenn ihm nicht tags darauf ein blinder alter Schamane seine Tranceerlebnisse genau geschildert hätte.

Eine ähnliche Erfahrung machte Harner 1964 bei einem erneuten Besuch der Jívaro-Indianer. Nach dem Genuss eines halluzinogenen Datura-Getränks sah er u. a. kleine, rote, grinsende Dämonenfratzen. Später zeigte ihm ein Missionar prähistorische Tonscherben, die mit fast identischen Figuren verziert waren, wie er sie in seiner Vision erblickt hatte.

Der Gebrauch halluzinogener Drogen ist vor allem bei den Indianern in Süd- und Mittelamerika verbreitetet.

 

Die Entstehung des »Core Shamanism«

Diese Erlebnisse veranlassten den Ethnologen, sich ausschließlich dem Forschungsgebiet des Schamanismus zu widmen.

Bei den Schamanen der Wintun- und Pomo-Indianer in Kalifornien, den Küsten-Salish in Washington und den Lakota-Sioux in South Dakota lernte er, wie man auch ohne Gebrauch halluzinogener Drogen schamanisch arbeiten kann. Auffällig war und ist, dass sich die Praktiken der Schamanen bei verschiedenen Stammesvölkern in aller Welt zwar äußerlich in vielem voneinander unterscheiden, dass allen aber auch bestimmte Techniken gemein sind. Auch gleichen die Erlebnisräume auf schamanischen »Trancereisen« einander weitgehend.

Die gemeinsamen Elemente fasste Michael Harner als »Core Shamanism«, zu Deutsch »Kernschamanismus«, zusammen.

Schamanen gibt es bei allen Stammesvölkern der Welt: bei den Eskimos ebenso wie bei den Indianern, in Schwarzafrika, Ozeanien und Australien, in ganz Asien, Nord- und Südosteuropa sowie bei der japanischen Urbevölkerung, den Ainu.

Die Foundation for Shamanic Studies

Harner leitet heute die bedeutende, international wirkende Foundation for Shamanic Studies, die u. a. von der Rockefeller- Stiftung unterstützt wird. In Zusammenarbeit mit der berühmten Moskauer Lomonossow-Universität brachte sie wichtige Forschungsprojekte mit Stammesschamanen in der Mongolei und in Sibirien in Gang. Harner und zahlreiche seiner Schüler unterrichten den von stammesspezifischen Vorstellungen und Ritualen weitgehend befreiten Schamanismus in vielen Teilen der Welt.

Der schamanische Bewusstseinszustand

Um uns dem Phänomen des schamanischen Bewusstseinszustands zu nähern, eignet sich ein Beispiel aus der modernen Alltagswelt: die so genannte Autobahnhypnose.

In diesem Zusammenhang berichten die Akten der ADAC-Verkehrspsychologen in einem Fall von einem Autofahrer, der abends auf der kaum befahrenen Autobahn ohne ersichtlichen Grund plötzlich eine Vollbremsung vollführte und damit einen schweren Verkehrsunfall verursachte. Bei der folgenden Gerichtsverhandlung beteuerte er, vor seinem Wagen sei eine Kuh quer über die Fahrbahn gelaufen. Hätte er nicht scharf gebremst, wäre er unvermeidlich mit ihr zusammengestoßen. Sein Gegner bezeichnete das als bizarre Schutzbehauptung. Von einer Kuh sei weit und breit nichts zu sehen gewesen.

Dennoch glaubte der Verkehrsrichter, gestützt auf die Begründung der Experten, den Beteuerungen des Angeklagten. Verkehrspsychologen sind solche Fälle längst nicht mehr neu.

Im Gehirn des Autofahrers können besondere Sinneseindrücke einen tranceartigen Zustand hervorrufen, für den allerdings der Begriff »Hypnose« bei weitem übertrieben ist. Schließlich kann der Fahrer sein Auto noch ganz bewusst lenken.

Ein rätselhaftes Phänomen

Ein ähnlicher Unfall ereignete sich, weil ein Autofahrer bei Einbruch der Dämmerung drei Elefanten die Autobahn überqueren sah, die selbstverständlich nur in seiner Vorstellung existierten. Der Mann am Steuer ging davon aus, die Tiere seien aus einem Wanderzirkus in der Nähe ausgebrochen.

Noch spektakulärer mutet in diesem Zusammenhang die Aussage eines Fahrers an, vor ihm wäre, etwa einen Meter über dem Boden, ein Haus über die Autobahn geschwebt. Gemeinsam war allen Fahrern, dass sie weder übermüdet am Steuer saßen, noch alkoholisiert waren oder unter Drogeneinfluss standen.

Verkehrspsychologen erklären die Autobahnhypnose so: Der Fahrer ist entspannt und in nicht allzu hoher Geschwindigkeit auf fast freier Strecke unterwegs. Um sich die Fahrt im Zwielicht zu erleichtern, nimmt er den unterbrochenen weißen Trennstreifen zwischen rechter und linker Fahrspur »zwischen seine Beine«. Die Scheinwerfer strahlen diesen an, was einen rhythmischen Lichtwechsel zwischen hell und dunkel hervorruft.

Die Arbeit des Gehirns

Im Gehirn des Autofahrers, der einer Autobahnhypnose unterliegt, spielt sich etwas im Grunde Alltägliches ab. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass unser Gehirn ständig elektromagnetische Wellen erzeugt, so genannte Hirnströme. Ihre Frequenz und Kurvenform, die man in einem Elektroenzephalogramm (EEG) sichtbar machen kann, bilden die Arbeit des Gehirns ab. So verursacht angestrengtes Rechnen beispielsweise völlig andersartige Kurven als körperliche Arbeit, Tiefschlaf andere als Traumschlaf, Freude andere als Hass, entspannte Ruhe andere als tiefe Meditation. Ein erfahrener Gehirnneurologe kann allein aus dem EEG ziemlich genau darauf schließen, mit was ein Mensch gerade beschäftigt war oder was er fühlte, als die Kurven aufgezeichnet wurden.

Auch der Hautwiderstand ist eine Größe, die je nach Gemütsverfassung variiert. Mikroelektronische Messungen haben ergeben, dass der Hautwiderstand bei tiefer Entspannung stark ansteigt, bei schamanischer Arbeit aber auch sinken kann.

Wie eine Trance herbeigeführt wird

Eine ganz bestimmte Kurvenform ist charakteristisch für Trancezustände, wie sie etwa bei einer Zen-Meditation oder auch im schamanischen Bewusstseinszustand auftreten. Sie bildet sich in einem EEG mit einer fast reinen Sinusschwingung in einer Frequenz von etwa drei bis sieben Hertz ab. Und genau diese monotone Schwingung wird dem Gehirn auch durch die oben beschriebenen Lichtreize zugeführt, die eine Autobahnhypnose auslösen können. Unvermittelt und vom Fahrer meist unbemerkt passen sich seine Gehirnströme diesem äußeren Einfluss an. Der Fachmann spricht bei diesem Anpassungsprozess davon, dass das Gehirn »getriggert« wird. Auf diese Weise gerät man in Trance. Dieser Prozess kann allerdings nur einsetzen, wenn man zuvor schon relativ entspannt war, sich das Gehirn bereitwillig von außen führen lässt und keine anderen, wichtigeren Aufgaben zu erfüllen hat.

Denn wer beim Autofahren gerade an die bevorstehende Steuerabrechnung oder den Zahnarzttermin am kommenden Tag denkt, der fährt zwar unkonzentriert und bringt sich unter Umständen dadurch in Gefahr. Kühe, Elefanten oder vorbei schwebende Häuser werden ihm auf seiner Fahrt jedoch sicher nicht begegnen. Um das Risiko einer ungewollten Autobahnhypnose zu vermeiden, gibt es einen sehr wirkungsvollen Ratschlag. Zählen Sie in Gedanken von 1000 rückwärts, und zwar, um Ihr Gehirn zu fordern, in Dreier- oder gar Siebenerschritten, also: 1000 - 993 - 986 - 979 - 972 ...

Rhythmus und Trance

Der Bogen von unserem Beispiel der Autobahnhypnose hin zum Bewusstseinszustand des Schamanismus scheint weit gespannt zu sein. Und doch handelt es sich dabei tatsächlich um ein nahezu deckungsgleiches Phänomen, wenn auch in unkontrollierter und deshalb schädlicher Weise. Das Beispiel verdeutlicht eindrucksvoll die wesentliche Technik, um einen Trancezustand herbeizuführen: die Anwendung eines monotonen Rhythmus von etwa drei bis sieben Hertz. Die Schamanen bedienen sich dazu allerdings nicht optischer, sondern akustischer Reize. Das Hilfsmittel oder »Vehikel« dafür ist die Schamanentrommel.

Ich nenne sie Vehikel, weil viele Schamanen ihre Trommel so oder ähnlich bezeichnen. Die Trommel ist ihr Fahrzeug in andere Realitätsebenen. Harner spricht in diesem Zusammenhang zeitgemäß von einem Zug, Stammesschamanen in den USA oder in Asien nennen ihre Trommel ihr Reitpferd, ihren gesattelten Hirsch, ihr Rentier. Denn der Rhythmus der Trommel ist es, der sie mit sich fortträgt.

Nicht von ungefähr haben bis in die sechziger Jahre Ethnologen die schamanische Trance, die oft von rhythmischen Schritten und stampfenden Tänzen begleitet ist, als Ekstase bezeichnet.

Ein höchst wirksames »Vehikel«

Es gibt zu diesem Thema wissenschaftliche Untersuchungen mit erstaunlichen Ergebnissen: Eine monoton drei- bis siebenmal pro Sekunde - das entspricht dem Rhythmus von drei bis sieben Hertz - geschlagene flache Rahmentrommel kann einen in spiritueller Arbeit völlig unerfahrenen Menschen innerhalb von nur zehn Minuten in eine tiefe Trance versetzen. Einen vergleichbaren Zustand kann beispielsweise ein in Meditation geübter alter Zen-Mönch ohne ein entsprechendes Klanginstrument erst nach mehreren Stunden erreichen. Dies wurde durch Gehirnstrommessungen bewiesen.

Rhythmus, Euphorie und Ekstase in der heutigen Welt

Keineswegs immer sind es Schamanen, die sich zur Erreichung eines Trancezustandes dieses »magischen Rhythmus« bedienten. Man denke nur an den 4/4-Takt von Militärmärschen, die, unterstützt durch den strengen Gleichschritt der marschierenden Soldaten, eine ähnliche suggestive Wirkung auf deren Gehirn haben. Diese gezielte seelische Manipulation hat nur einen Zweck: Das Denkvermögen wird weitgehend ausgeschaltet, und mögliche Angstgefühle werden zum Verschwinden gebracht. Der Soldat gerät in einen euphorischen Zustand, der ihn beflügelt in die Schlacht ziehen lässt. Hier dient der künstlich herbeigeführte Trancezustand dazu, das Ich und die eigenen Bedürfnisse auszumerzen und sie einem übergeordneten Zweck zu weihen. Wie gefährlich der Einsatz derartiger Praktiken sein kann, wird an diesem Beispiel besonders erschreckend deutlich.

Der extremen Rhythmusmusik der Jugend ist mit großer Skepsis zu begegnen. In der Popularität dieser Musik drückt sich allerdings auch eine Sehnsucht aus, die nur zu gut nachzuvollziehen ist - die Sehnsucht danach, sich wirklich zu spüren.

Moderne Musikrichtungen

Ein anderes Beispiel aus der Jugendkultur mit ähnlich verheerenden Wirkungen für Leib und Seele der Betroffenen, ist die Herbeiführung von Trance durch die extremen Rhythmen von Beat-, Heavy-Metal- oder Technomusik. Jugendliche, die sich stundenlang diesen monotonen Klängen aussetzen und ihnen dabei auch noch tanzend mit ihrem ganzen Körper folgen, versetzen sich dadurch in rauschhafte ekstatische Zustände. Diese lassen sich nur schwer willentlich beenden, zumal in vielen Fällen der zusätzliche Konsum von Aufputschmitteln und Drogen mit im Spiel ist.

Die heutigen Heranwachsenden haben in diesen Musikrichtungen etwas wiederentdeckt, was den Angehörigen von Naturvölkern niemals verloren ging: die euphorisierende Wirkung des schamanischen 3- bis 7-Hertz-Takts. Nur arbeiten sie damit nicht bewusst, sinnvoll und zielgerichtet - wie es allerdings auch erst nach gezielter Übung möglich ist -, sondern begnügen sich damit »auszuflippen«.