Leben statt Angst

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Es gibt keine Abkürzung zum Erfolg

Wenn Sie einen Fachmann suchen, der Ihnen dabei helfen soll, Ängste zu überwinden, dann schauen Sie zuerst einmal in seine Augen. Sehen Sie darin Unsicherheit, Unzufriedenheit oder gar eigene Ängste, dann dürfen Sie sich ihm nicht anvertrauen, ganz egal, ob er sich als spiritueller „Meister“ ausgibt oder ein Universitätsdiplom als Psychologe nachweisen kann. Sie würden ja auch keinem Anlageberater Ihr Erspartes anvertrauen, der selbst bankrott ist.

Ich will nicht behaupten, dass der Weg, den ich Sie führen möchte, der allein seligmachende ist. Es mag auch andere Wege geben, die Sie zum Ziel führen. Aber sie sind alle gleich mühsam und anstrengend. Glauben Sie mir: Den einfachen „Königsweg“ gibt es nicht.

Fallen Sie nicht auf Angebote herein, die Ihnen dergleichen versprechen. Es gibt Dutzende esoterische Ratgeberbücher, die mit sensationellen Erfolgen in wenigen Wochen locken. Es gibt Wochenend-Crash-Kurse von marktschreierischen Motivationstrainern, die Sie barfuß über glühende Kohlen oder Glasscherben schicken oder Ihnen Vogelspinnen über das Gesicht krabbeln lassen. Von Ihren Ängsten wird Sie derlei nicht dauerhaft befreien.

Techniken wie Reiki, Autosuggestion, Meditation oder Yoga, sind grundsätzlich geeignete Wege, aber selten in der kommerziellen Gestalt, in der sie heute offeriert werden. Wer Ihnen einredet, Sie könnten an drei Wochenenden für mehrere Tausend Euro zum Reiki-Meister avancieren oder mit täglich einer halben Stunde Sphärenklängen von der CD mit eingeflochtenen subliminalen Befehlen schön, erfolgreich, selbstsicher und angstfrei werden, ist ein Betrüger, der es auf nichts anderes als Ihr Geld abgesehen hat. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Reiki, Yoga, Zen-Meditation und dergleichen mehr sind – ernsthaft praktiziert – Wege, die man intensiv ein Leben lang verfolgen muss, um damit zu einer auch nur bescheidenen persönlichen Reife zu gelangen.

Als in den 1990er Jahren ein regelrechter Reiki-Wahn Mitteleuropa heimsuchte, bekam ich die Auswirkungen davon zu spüren: Zu mir kamen Menschen, die von ihrem selbst ernannten Reiki-Lehrer in kürzester Zeit zwar psychisch äußerst empfindsam gemacht wurden, dann aber mit ihrer neu gewonnen Sensibilität gleichsam alleine im Regen stehen blieben. Ihre Aussagen ähnelten sich alle: „Mein Meister hat meine Chakren geöffnet, und nun nehme ich all die negativen Energien um mich herum wahr und leide darunter.“ Wir mussten diese armen Menschen dann mühsam wieder aufbauen.

Also Finger weg von Instant-Philosophien und vermeintlichen spirituellen Wundermethoden. Wie ungeeignet viele selbst ernannte spirituelle Lehrer und auch so mancher Psychologe oder Psychotherapeut sind, Sie von ihren Ängsten zu befreien, erkennen Sie schon daran, dass diese Menschen selbst massive Ängste ausstrahlen. Wer keine Lebensfreude und gelassen Selbstsicherheit besitzt, ist kein guter Helfer gegen Angst. Auch heißt ein angstfreier Lebensweg nicht deshalb Lebensweg, weil man ihn innerhalb weniger Tage zurücklegt und sich dann für den Rest seines Daseins am rasch erreichten Ziel langweilt. Bereiten Sie sich deshalb innerlich auf einen langen – aber auch schönen und spannenden – Weg vor, der Sie Schritt für Schritt aus Ihrer Angst hinausführen wird, auf einen Weg, der Sie zunächst einmal mit Abbrucharbeiten und dem Legen eines neuen Fundaments beginnt. Ihm ist der erste Hauptteil dieses Buches gewidmet.

Abriss bedeutet nicht planlose Zerstörung

Bevor Sie damit beginnen, Ängste abzubauen, müssen Sie wissen, was für spezifische Ängste Sie überhaupt plagen. Nicht allen Ängsten lässt sich nämlich auf dieselbe Weise beikommen.

Wer ein baufällig gewordenes Haus abreißen will, tut gut daran, erst einmal sorgfältig den Bauplan zu studieren. Sonst kann es unliebsame Überraschungen geben. Erinnern Sie sich an die Bilder aus Fernsehnachrichten, die die missglückte Sprengung eines Hochhauses oder einer alten Fabrikhalle zeigen? Rund um das Erdgeschoss bereitet sich rapide eine dichte Staubwolke aus, und das zehngeschossige Gebäude beginnt in sich zusammenzusinken. Aber kurz darauf bleibt es, leicht windschief geworden und nur rund fünf Meter kürzer, auf den Stahlbetonwänden des zweiten Obergeschosses stehen. So etwas ist der Albtraum eines jeden Sprengmeisters, denn jetzt ist die Bauruine erst zu einer richtigen Gefahr geworden.

Oder Sie rücken mit einer Abrissbirne einer alten Villa zu Leibe, ohne genau zu wissen, welche Wände tragend sind und welche nicht. Und plötzlich bricht die ganze Ruine regelrecht über Ihrem Kopf zusammen.

Oder Sie legen wild und planlos einen ganzen Gebäudekomplex in Trümmer und stellen erst danach entsetzt fest, dass Sie im Übereifer nicht nur Baufälliges abgerissen, sondern zugleich auch durchaus erhaltenswerte Bausubstanz vernichtet haben.

Ein planvoller Abriss ist keine blindwütige Zerstörung, sondern will gründlich überlegt und geplant sein, wenn er Nutzen bringen soll.

Mit Angstbewältigung ist das genauso. Es ist nicht sinnvoll, undifferenziert all seine Ängste mit Stumpf und Stiel auszurotten. Manche sind auf Dauer lebensnotwendig, andere zumindest vorübergehend sinnvoll. Wieder andere erschweren das Leben unnötig und müssen fort. Aber jede Art dieser quälenden Ängste braucht eine andere Abrissmethode. Ein Stahlbetonbunker lässt sich nicht Stein für Stein abtragen, und für ein Fachwerkhaus wäre eine am Fundament ansetzende Sprengung die falsche Methode. Genetisch bedingten Ängsten lässt sich nicht mit denselben Methoden beikommen wie etwa traumatisch erzeugten oder anerzogenen Ängsten.

Erst müssen Sie also gleichsam die „Baupläne“ Ihrer Ängste studieren, bevor Sie ans Werk gehen.

Gehirnentwicklung durch Spezialisierung

Dabei stellt sich zunächst die Frage: Woher kommen Ängste überhaupt? Es zeigt sich, dass es vielerlei Ursachen geben kann. Da sind einmal die Grundängste, die wir gleich bei der Geburt mitbekommen. Das ist nichts Schlechtes.

Unser Gehirn entwickelt seine „Persönlichkeit“ im Kindesalter. Das geschieht nicht durch theoretisches Lernen, sondern nur dadurch, dass wir Fehler machen, sie erkennen und korrigieren, also durch persönliches Üben.

In den letzten Jahrzehnten hat vor allem die Neurologie erkannt, wie sich bei einem Kind von Geburt an bis etwa ins 15. – in mancher Hinsicht bis etwa ins 20. – Lebensjahr das Gehirn entwickelt und dabei differenziert. Neudeutsch ausgedrückt ließe sich sagen: In dieser Zeit spielt sich die „Hardware“-Programmierung des Gehirns ab. Dabei werden intellektuelle Fähigkeiten wie das Sprachvermögen, die Gedächtnismechanismen, Entscheidungsfähigkeiten und so weiter ebenso festgelegt, wie emotionale und künstlerische Qualitäten: Umgang mit Gefühlen, Körpersprache, Musikalität und viele andere. Im Erwachsenenalter ist eine Umprogrammierung der „Hardware“ sehr schwierig und in mancher Hinsicht gar nicht mehr möglich.

Babys sind „Generalisten“. Sie besitzen Anlagen zu vielen Fähigkeiten, die beim Erwachsenen verkümmert sind, weil er sie nicht weiterentwickelt hat. In seinem speziellen Lebensraum braucht er sie nicht. Das trifft auch auf Ängste zu. Die Palette angeborener Ängste wird durch Erziehung und soziales Umfeld punktuell verstärkt oder abgebaut.

Diese Gehirnstrukturierung erfolgt nach bestimmten Spielregeln. Am wichtigsten dabei ist das Lernen aus Fehlern, die „Trial and Error“-Methode, wie das heute international heißt. Versuchen, sich dabei zu irren und aus den eigenen Fehlern zu lernen, ist unentbehrlich für eine gesunde Entwicklung des Gehirns. Allein durch verbales Unterrichten seitens der Eltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer und aus Büchern, kann sich kein wirklich autark funktionsfähiges Gehirn und damit kein freier, selbstbestimmter Mensch entwickeln. Überängstliche Eltern und dem schulischen System intellektueller Belehrung verhaftete Pädagogen sind eine der Hauptquellen späterer intellektueller Unselbstständigkeit ihrer Zöglinge und damit auch für viele ihrer Lebensängste verantwortlich. Wer nicht Herr einer Situation ist, bekommt Angst.

Eine zweite wichtige Erkenntnis der Neurologen ist, dass wir von Geburt an vieles durch Abbau, nicht durch Aufbau von Fähigkeiten lernen, was für die Lebenstüchtigkeit in unserem spezifischen Kulturkreis erforderlich ist. Einem Kind, das bei einem kriegerischen Urwaldstammesvolk groß wird, steht bei Geburt die gleiche Palette an vielfältigen Fähigkeiten zur Verfügung wie einem Kind, das in einer europäischen Professorenfamilie oder in einem international arbeitenden Zirkus-Clan heranwachsen wird. Der Unterschied der neuralen Entwicklung liegt vor allem darin, dass jedes der Kinder die an sich vorhandenen Anlagen, die es in seinem spezifischen Alltag nicht braucht, verkümmern lässt und die benötigten Anlagen ausformt und weiterentwickelt. Das Gehirn spezialisiert sich.

So kommt beispielsweise so gut wie jedes Baby mit dem perfekten Gehör auf die Welt. Die meisten Erwachsenen in unserem Kulturkreis haben diese Fähigkeit unwiederbringlich verloren, denn spätestens mit Schulbeginn werden unsere Wahrnehmungen weitgehend auf den logischen Informationsgehalt von Geräuschen (etwa der Sprache) gelenkt und nicht auf musikalisches Kolorit und den Wohl- oder Missklang von Tonintervallen. Wird dasselbe Kind in einer Musikerfamilie groß oder in einem Land wie China, dem die Tonhöhe ein und desselben gesprochenen Wortes wesentliche Informationen liefert, dann bleibt sein absolutes Gehör nicht nur erhalten, es wird verfeinert.

Ähnlich ist es mit dem Kehlkopf und den Stimmbändern. Die Anatomie eines Babys erlaubt es, sämtliche sprachlichen Geräusche aller Idiome der Welt zu erlernen. Aber schon das Kleinkind, das vorwiegend durch Nachahmen lernt, übt fortwährend nur die Sprachgebungen, die es von seinen Eltern und Geschwistern hört, und dazu gehören etwa in Deutschland nicht gerade die gutturalen Klangbilder, die zum Beispiel ein Araber beim Sprechen erzeugt. Jedes Kleinkind kann etwa bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr die Klangfarben aller Sprachen der Welt erlernen, danach geht das nicht mehr, denn dann ist bereits das Gehirn, das schließlich auch die Stimmbänder steuert, in dieser Hinsicht irreversibel programmiert.

 

Das geht so weit, dass zum Beispiel die erwachsenen Europäer in der linken Großhirnhälfte logische Prozesse verarbeiten und in der rechten Hälfte emotionale Eindrücke auswerten, während sich das bei einem Japaner genau umgekehrt verhält. Diese Gehirnregionen-Belegung ist nicht etwa durch die Rasse bedingt, also genetisch festgelegt, sondern wird in den ersten Lebensjahren durch Gehirnstrukturierung „hardware-programmiert“. Die Sprache und ihre Lautformung spielen dabei eine äußerst wichtige Rolle. Dieses Programmieren geschieht durch Abbau – beziehungsweise Nichttrainieren – von im eigenen Kulturkreis Überflüssigem.

So kommt zum Beispiel auch jedes Kind mit einem angeborenen umfassenden sprachlichen Grammatikgefühl zur Welt. das spezielle Gefühl für die Grammatik der Muttersprache, das sich bis etwa zum 15. Lebensjahr daraus entwickelt, erfolgt nicht durch aufbauendes Lernen, sondern durch Reduktion der angeborenen einfachen Universalgrammatik auf die landesspezifischen Feinheiten. Alles Überflüssige wird nicht geübt, sondern fortgelassen und schließlich gründlich vergessen.

Die Fähigkeit zur Angst ist angeboren

Genauso verhält es sich mit Grundängsten. Jedes Baby bekommt mit der Geburt eine umfassende Palette von potenziellen Ängsten mit, trainiert aber in seiner spezifischen Umgebung nur jene, die ihm dafür hilfreich sind, rechtzeitig Gefahren zu erkennen. Ein Kind, das seine Eltern ohne körperliche Gewalt erziehen, ist nicht ständig von der Gefahr bedroht, sich eine Portion Prügel oder eine Ohrfeige einzufangen, und seine entsprechenden Angstgefühle werden verkümmern. Stattdessen wächst Vertrauen in ihm. Es wäre aber sinnlos, das Spiel zu übertreiben. Eltern, die ihren Kindern eine generell gewaltfreie Welt vorspielen und sie beispielsweise bis weit in die Pubertät von den Gräuelmeldungen der alltäglichen TV-Nachrichten fernhalten, ermöglichen den heranwachsenden Menschen nicht, so etwas wie ein psychisches Immunsystem zu entwickeln. Ich werde auf diesen wichtigen Punkt noch später zurückkommen.

Wie schwer sich unser Kulturkreis damit tut, Kindern zu helfen, mit ihrem angeborenen Angstpotenzial sinnvoll umzugehen, zeigt sich nicht zuletzt an den in unseren Landen besonders verbreiteten Alpträumen bis ins Erwachsenenalter hinein. Die meisten Stammesvölker lehren ihre Kinder, an Angstträumen zu reifen und sie schließlich ganz zu verlieren.

Wie wenig unser Kulturkreis es versteht, sinnvoll mit den angeborenen Urängsten unserer Kinder umzugehen, und welche schwer wiedergutzumachende Schäden dadurch entstehen, wird uns im nächsten Kapitel ausgiebig beschäftigen müssen.

Neben diesen allgemeinen menschlichen Urängsten gibt es genetisch festgelegte, aber individuell spezifische Ängste. Die Erbmasse bestimmt zu einem hohen Maße, ob ein Mensch eine grundsätzlich ängstliche Natur besitzt, oder ob er den Charakter eines weitgehend furchtlosen Draufgängers hat. Auch bestimmte Phobien sind wahrscheinlich angeboren.

„Seelenverlust“

Wer einen geliebten Menschen sehr fest an sich bindet und ihm keinen Freiraum lässt, sich selbst seelisch zu entfalten, programmiert damit Verlustängste bei sich selbst und bei seinem Partner, sofern sich dieser die enge Bindung gefallen lässt.

Von den angeborenen Ängsten sind erworbene Ängste zu unterscheiden. Sie sind meist mit dem gleichzusetzen, was der Schamane unter „Seelenverlust“ versteht. Dafür kann es zahllose verschiedene Ursachen geben. Ein Grund für Seelenverlust liegt zum Beispiel in traumatischen Ereignissen. Jede siebte erwachsene Frau in unserem Kulturkreis wurde als Kind oder junges Mädchen sexuell missbraucht – und das meistens innerhalb der eigenen Familie oder Verwandtschaft. Rund jedem zehnten erwachsenen Mann widerfuhr als Kind Gleiches.

Andere Traumata können Unfälle, schwere Verletzungen, größere Operationen in Vollnarkose, der Verlust nahestehender Menschen, die Beobachtung von Katastrophen und so weiter sein. Seelenverlust kann auch ein ungeliebter Beruf mit sich bringen („Mein Vater bestand darauf, dass ich seine Anwaltskanzlei übernehme.“), eine den Willen brechende militärische Ausbildung oder auch ganz einfach jahrelange, stumpfsinnige Routine.

Es gibt „Seelendiebe“, die anderen Menschen aus reiner Bosheit, aus Neid und Konkurrenzdenken (Mobbing) oder anderen niederen Gefühlen Seelenteile klauen, indem sie ihre Opfer psychisch ruinieren. Und es gibt Menschen, die ihren Kindern oder Lebenspartnern Seelenteile aus falsch verstandener Liebe stehlen. Manche Eltern sorgen sich derart intensiv um ihre lieben Kleinen, dass denen buchstäblich keine Luft zum Atmen bleibt. Sie wollen sie vor allen möglichen Gefahren schützen und ihnen jeden Weg ebnen und begreifen dabei nicht, dass ein Kind eben nur aus eigenen Fehlern und aus objektiven Gefahren heraus lernen und sich zu einer selbstständigen Persönlichkeit entwickeln kann. Ein Ehemann oder eine verheiratete Frau versucht, ihren Partner durch rasende Eifersucht an sich zu binden, oder umsorgt das „geliebte Wesen“ so rund um die Uhr, dass diesem auch der letzte seelische Freiraum genommen wird.

Und schließlich kann man „sein Herz auch bedingungslos verschenken“. Dies ist genauso dumm. Nicht selten kommt es nach einer scheinbar glücklichen und harmonischen Ehe vor, dass einer der Partner stirbt und gleichsam ein Seelenteil, das ihm der andere „geschenkt“ hat, mit ins Grab nimmt. Wenige Monate später ist dann auch der Hinterbliebene schwer krank, depressiv und stirbt wenig später selbst.

All diese Seelenverluste sind unweigerlich mit Ängsten verbunden.

Auch psychische Dauerüberforderung erzeugt Angst

Angst kann man aber auch noch auf eine weitere Art und Weise erwerben; dann nämlich, wenn man ständig im Übermaß objektiven Bedrohungen und Gefahren ausgesetzt ist, wie etwa ein unterdurchschnittlich begabter Schüler, den seine Eltern zwingen, das Gymnasium zu besuchen. In der Schule hat er täglich aufs Neue Angst, abgefragt zu werden, und nach Hause traut er sich mit seinen schlechten Noten schon gar nicht, weil es dann Schelte hagelt. Nicht viel anders ergeht es einem US-Soldaten im Irakeinsatz oder bei einem ähnlich sinnlosen militärischen Unterfangen. Und auch die einheimische Bevölkerung im Kriegsgebiet, die sich nicht mehr auf die Straße wagt, weil sie täglich Gefahr läuft, von einem ihrer „Befreier“, der irgendwo als Heckenschütze lauert, erschossen zu werden, wird so lange von ständiger Angst gequält, bis diese zur zweiten Natur wird.

Welche Arten von Angst gibt es überhaupt?

Nach dieser Grundsatzkategorisierung in verschiedene angeborene und erworbene Ängste wird es Zeit, die genauen „Baupläne“ bestimmter Ausprägungen von Angst sorgfältig zu studieren. Welche Arten von Angst gibt es überhaupt? Wovor haben wir eigentlich Angst? Auf den ersten Blick scheint das Spektrum nahezu unüberschaubar zu sein: Angst vor Hunden, Angst vor dem Chef, Angst vor Krankheit, Angst vor dem Alter und vor dem Tod, Angst vor Kündigungen, Angst vor Verantwortung, Angst vor dem Zahnarzt, Angst vor Dunkelheit oder vor Einsamkeit, Angst vor Einbrechern, Angst vor Verkehrsunfällen, Angst vor dem Ertrinken, Angst, keinen Ehepartner zu finden oder seinen Partner zu verlieren, Flugangst und Höhenangst, Angst vor seinen eigenen Gefühlen …

Es gibt einige wenige Menschen, die aufgrund eines neuralen Defekts ohne jedes Angstgefühl zur Welt gekommen sind. Ihnen fehlen wichtige Warner, die sie vor Alltagsgefahren schützen. Oft werden sie Opfer schwerer Unfälle.

Bei genauerem Hinsehen lässt sich das alles aber relativ einfach in einige wenige Kategorien zusammenfassen. Ich will dabei drei Hauptkategorien A, B, und C für die Grobeinteilung wählen und innerhalb dieser mit 1, 2, 3 … bezifferte Unterkategorien auflisten.

Die Hauptkategorien sind:

A. Unverzichtbare Ängste. Von ihnen sollen wir uns auf keinen Fall trennen.

B. Bedingt hilfreiche Ängste. Hier sollten wir uns gründlich überlegen, ob wir sie auf Dauer weiter behalten wollen oder uns nicht doch gelegentlich von ihnen trennen.

C. Quälende, krank machende Ängste. Sie sind völlig überflüssig, denn sie schaden der persönlichen psychischen und physischen Entwicklung und sollten auf jeden Fall abgebaut werden.

A. Unverzichtbare Ängste
1. ÄNGSTE; DIE UNS VOR GEFAHREN WARNEN

Es ist bekannt, dass manche Tiere schon viele Stunden, manchmal sogar ein oder zwei Tage vor Naturkatastrophen das Gefahrengebiet verlassen. Der Instinkt, der sie dazu veranlasst, ist eine Form von Angst. Er ist aber nicht nur Tieren eigen. Als zur Jahreswende 2005/2006 der verheerende Tsunami große Küstenregionen Thailands, Indonesiens und anderer südasiatischer Länder verwüstete und Hunderttausende Menschenleben forderte, gab es unter den naturnah lebenden Stammesvölkern, die in einigen der betroffenen Regionen wohnten, so gut wie keine Opfer. Rechtzeitig vor der großen Flutwelle zogen sie sich in aller Ruhe in höher gelegene Berggebiete zurück. Woher wussten diese Menschen um die drohende Gefahr? – „Aber das musste doch kommen“, sagten einige danach Gefragte, „wir haben es geahnt.“ Mit solchen Ängsten kann man recht unbefangen umgehen. Sie tun psychisch besonders weh und machen auch nicht handlungsunfähig. Im Gegenteil: Sie bewirken, dass wir rechtzeitig und überlegt vorbeugen können.

Wer derartige instinkthafte Ängste kennt, sollte sich nicht von der Fähigkeit dazu trennen.

Bis zu einem gewissen Grad sind sie uns allen vertraut, nur überhören wir sie oft allzu gerne oder tun sie als irrational ab. Welcher rasante Autofahrer und notorische Drängler hätte nicht in irgendeiner Ecke seiner Seele Angst vor einem fürchterlichen Verkehrsunfall? Aber die meisten dieser Zeitgenossen verdrängen das: „Mir passiert so etwas doch nicht.“ Und dann folgt meistens noch eine mehr oder weniger schwache Begründung dafür: „Ich habe ein sicheres (gemeint ist teures) Auto“ oder: „Ich bin einfach ein Routinier der Straße“. Auch wer bei solchem Selbstbetrug auf Dauer unfallfrei bleibt, weil es die Statistik zufällig gut mit ihm meint, schädigt sich körperlich. Er wird langsam, aber sicher ein Opfer von Stress, Aggressionen, Muskelverspannungen und Kreislaufbeschwerden … Besser wäre es, hier auf seine instinktive Angst zu hören und sie als gesundes Regulativ anzuerkennen.

Gleiches gilt etwa auch für Raucher. Die Angst vor dem Lungenkrebs ist natürlich schon da. Aber die platten Argumente des Selbstbetrugs überdecken sie erfolgreich: „Ich habe eine robuste Natur. Mich bringt das nicht um.“ – „Bisher hat mir das auch nicht geschadet.“ (Diese Aussage erinnert an den Mann, der aus dem zehnten Stock eines Hochhauses fiel und auf dem Vorbeiflug an der ersten Etage dachte: „Bisher ist alles gutgegangen, die letzten paar Meter werden mich auch nicht umbringen.“) Oder: „Wenn ich aufhöre zu rauchen, werde ich reizbar“ …

Solche Ängste mit Warnfunktion helfen einem auch, sich auf eine bevorstehende Situation mit möglichen Gefahren besonders sorgfältig vorzubereiten und genau zu überlegen, ob man ihr überhaupt gewachsen ist. Das minimiert das Risiko. Als ich vor Jahren mit einem Freund die dritthöchste Alpenwand, die berüchtigte Watzmann-Ostwand erkletterte, hielt mich zuvor eine gesunde Furcht zwei Nächte lang vom Schlafen ab und verlieh mir zugleich die Kraft, dabei nicht müde zu werden. In diesen Stunden hellwacher Ruhe ging ich in Gedanken Höhenmeter für Höhenmeter die geplante Route durch, machte Pläne, wie ich welchen objektiven und subjektiven Gefahren an welcher Stelle begegnen könnte, wie viel Trinkwasser wir unterwegs mitnehmen mussten, welche Ausrüstungsgegenstände auf keinen Fall fehlen durften, was bei einem etwaigen Wettersturz zu berücksichtigen wäre …

 

Als die einundzwanzigstündige Gipfelüberschreitung dann wirklich kam, war es für uns beide ein ungetrübter Genuss. Die Furcht im Vorfeld hatte das Fundament für ein solches Gefühl der Sicherheit während der Tour selbst gelegt.

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