Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte

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Er stellte dann sein Fahrrad an der Haustür ab und schlurfte, als würde ihn bei jedem Schritt der Schmerz einer Wunde quälen, in die Schnapsbrennerei, die der Werkstatt angegliedert war und die er als Nebenerwerb betrieb. Sie brachte ein schönes Sümmchen auf sein Konto bei der Vereinsbank. Sein Kirschwasser und sein Mirabellenschnaps waren begehrt und wurden in verschiedenen Wirtshäusern angeboten, in denen der Vater auch ein guter Gast war.

Ich habe oft neben dem großen Brennkessel gehockt und zugeschaut, wie der Vater dicke Holzscheite in den Ofen unter dem Kessel schob und den nicht trinkbaren Vorlauf, der wie der Leim aus seiner Werkstatt roch, für andere Verwendungen abfüllte. In einem zweiten Brennvorgang rieselte dann der Feinbrand in einem dünnen Strahl aus dem Kessel in eine der bauchigen Korbflaschen. Einmal beobachtet ich ihn dabei, wie er ein paar Handvoll Nüsse, die noch in den grasgrünen Schalen steckten, in einer der großen Pullen versenkte, Zucker dazuschüttete und den noch warmen Trester-Schnaps darübergoss, bis sie zu drei Vierteln gefüllt war. Die Buddel blieb den ganzen Sommer auf dem Sims vor dem großen Werkstattfenster in der prallen Sonne stehen, mit einer dicken Schnur vertäut. Im späten Herbst wurde das Gebräu abgeseiht und als Nusslikör zur Verdauung eines kräftigen Sonntagsessens serviert.

Die Großmutter mochte es nicht, wenn ich mich in den Alkoholschwaden der überhitzten Brennstube aufhielt. »Das vernebelt dir den Kopf, davon wirst du betrunken«, sagte sie, wenn sie mich aus dem Dunst der Brennerei herausholte und dem Vater einen bösen Blick zuwarf. Das galt nicht für den Samstag. Da roch es nicht nach Schnaps, da duftete es nach frisch gebackenem Brot. Neben dem Brennkessel stand ein aufgemauerter Backofen, den die Großmutter schon am Morgen so stark heizte, dass sie mittags den zu großen Laiben geformten Teig auf einem Backbrett mit einem langen Stiel in die Glut des Ofenschlunds schieben konnte.

Der Vater war kein Genussmensch, aber auf den Leckerbissen des selbst gebackenen Brotes wollte er nicht verzischten. Es kam ihm kein Brot aus einer Bäckerei auf den Tisch. Er hielt es für ungesund. »Man weiß nicht, was da wirklich drinnen ist«, wetterte er, wenn die Mutter ihm mal eine Scheibe Bäckerbrot dazwischenschmuggelte. Er aß das selbst gebackene Brot, zum Frühstück mit Butter und Kunsthonig, zur Vesper mit Speck, den er mit dem Taschenmesser in kleinen Brocken von der Schwarte schnitt. Abends genoss er das Brot zur Suppe, selbst wenn es eine Brotsuppe war.

Zwei Scheiben vom selbst gebackenen Brot mit Bibeleskäs, wie der Quark im Alemannischen heißt, packte mir die Großmutter regelmäßig in den Schulranzen, nachdem ich an Ostern 1940 mit noch nicht ganz sechs Jahren eingeschult worden war. Eigentlich ging das nicht. Aber weil ich schon ein wenig lesen und schreiben konnte und Freude an den Buchstaben und Ziffern hatte und überhaupt ein aufgewecktes Bürschchen war, habe der Schulleiter ein Auge zugedrückt, erzählte die Großmutter, als sie mich in eine Hose steckte, die sie für den ersten Schultag nach einem Schnittmusterbogen auf ihrer Singer-Maschine genäht hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich stundenlang vor einem Blatt Papier sitzen konnte und die großen und kleinen Buchstaben aus Großmutters Gebetbuch abmalte. Ich hatte bald heraus, dass es sechsundzwanzig Buchstaben gab. Die Großmutter brachte sie für mich auf einem Blatt in eine Reihe, die sie Alphabet nannte. Auch die Sache mit den Beistrichen, Punkten und Fragezeichen, von denen das Gebetbuch nur so voll war, erklärte mir die Großmutter so, dass ich damit etwas anfangen konnte.

Als der ersehnte Tag der Einschulung endlich da war, brachte mich die Großmutter in die Volksschule. Wir gingen so langsam wie beim Sonntagsspaziergang, weil die Großmutter immer wieder stehen blieb. Sie wechselte mit Bekannten ein paar Worte oder machte vor einem Baum halt und rief: »Ist der aber gewachsen.« Ein paar Mitschüler mit ihren Eltern überholten uns. Ich war traurig, dass ihre Tüten mit Schokolade und Bonbons, die sie im Arm hielten, größer, bunter und viel besser gefüllt waren als die, die mir die Großmutter hergerichtet hatte.

Als wir dann endlich vor dem Schulgebäude standen, überkam mich ein eigenartiges Gefühl. Irgendetwas störte mich. Es war die abstoßend braungraue Farbe, mit der der Klotz angestrichen war. »So braun wie die meisten Lehrer, die hier unterrichten«, sagte die Großmutter. Damit konnte ich noch nichts anfangen.

Der Lehrer setzte mich in die erste Bank. Nur einen Schritt vor mir hing eine kleine Tafel an der Wand auf der etwas stand, das ich trotz meiner Lese- und Schreibkenntnisse nicht entziffern konnte. Der Spruch war in Sütterlinschrift verfasst, die wir nun rasch erlernten. Mancher Zacken, manche Rundung der deutschen Schrift, wie Sütterlin auch genannt wird, hat sich bis zum heutigen Tag in meiner lateinischen Handschrift erhalten, was die Lesbarkeit ein wenig erschwert.

4.

Die Großmutter war eine sparsame Frau. Die Sparsamkeit hörte allerdings da auf, wo die Frömmigkeit begann.

Als der Tag meiner Erstkommunion näher kam, fuhren wir mit dem Bähnle in die Kreisstadt in ein weithin bekanntes Bekleidungshaus. Dort wurde ich von einer der Verkäuferinnen mit einem Zollstock vermessen und dann mit einem dunkelblauen Bleyle-Anzug mit Matrosenkragen ausstaffiert.

»Das gehört sich so«, sagte sie, als die Eltern fragten, warum sie nicht selbst einen Anzug geschneidert habe. Das ginge ihr doch leicht von der Hand.

Ostern lag früh im Jahr. Die Mutter hatte eine Sonderration Mandeln ergattert und zwei Linzer Torten damit gebacken, eine für den Osterkaffee und eine für meinen Erstkommunionstag, den »Weißen Sonntag«, der eine Woche darauf folgte. Ins neue Gebetbuch, das ich von der Großmutter zu diesem Tag geschenkt bekam, konnte ich schon meinen Namen in Sütterlin-Buchstaben eintragen.

Es schneite an diesem Apriltag, als ich mit den anderen Kommunionskindern, die Mädchen in langen weißen Kleidern, am feierlich geschmückten Hochaltar vom Pfarrer die Oblate auf die Zunge gelegt bekam und einen Schluck aus dem goldenen Kelch nehmen durfte. Vorsichtshalber schenkte man aber Apfelsaft aus statt des Weins, von dem in der Heiligen Schrift die Rede ist. Ich empfand bei der heiligen Handlung durchaus, dass da etwas Außergewöhnliches geschehen war, obwohl ich mir trotz der vielen Gedanken, die ich mir darüber machte, einfach nicht vorstellen konnte, das Blut und den Leib Christi in mich aufgenommen zu haben. Der Pfarrer, den ich im Religionsunterricht daraufhin ansprach, wand sich ein wenig, dann stampfte er mit dem Fuß auf, als ob er mich zurechtweisen wollte: »Das ist einfach so. Da gibt es nicht viel zu erklären. Das musst du glauben, wenn du ein Katholik sein willst.«

Damit gab ich mich zufrieden. Ich war schließlich in die katholische Glaubensgemeinschaft aufgenommen worden und nun so etwas wie ein Festangestellter der Kirche. So kommt es mir heute noch vor.

Zuhause wurde dieser Tag mit einem Festmahl gefeiert, zu dem ein paar Verwandte eingeladen worden waren. Die Großmutter tischte Hasenbraten mit Bandnudeln auf. Dazu gab es den sauren Riesling aus Vaters Rebberg. Ich glaube, ich habe erstmals am Weinglas nicht nur gerochen, sondern auch genippt.

Wie immer, wenn an Fest- und Feiertagen die Familie zusammenkam, holte auch an meinem Erstkommunionstag der Vater die Spielkarten aus dem Wohnzimmerschrank, nachdem der seltene Bohnenkaffee getrunken und die Linzer Torte gegessen war. »Ja, heute gibt es Bohnenkaffee«, hatte die Großmutter Aufmerksamkeit heischend gesagt. Der Onkel, der auf Fronturlaub war, die Tante, Vater und Mutter droschen bis tief in die Nacht hinein mit »Oh!« und »Ah!« die Cego-Karten auf den Tisch, ein vor allem in Baden verbreitetes Spiel, bei dem immer einer gegen alle anderen spielt. Es wurde dabei auch immer ein wenig politisiert. Der Vater hatte ja stets etwas Spannendes zu erzählen, schließlich drehte er am Knopf des Radios so lange, bis er den Sender mit den Paukenschlägen empfangen konnte.

An diesem Nachmittag schnappte ich die Bemerkung auf, dass die Ostfront nicht mehr zu halten sei. Immer wieder erwähnte der Vater einen Ort namens Stalingrad. Der Onkel auf Fronturlaub verdrehte die Augen, während der Vater immer weiterredete, um ihm zu verstehen zu geben, dass er mit seiner Darstellung nicht einverstanden war.

Es dauerte nur noch ein paar Wochen, bis die Prophezeiung des Vaters sich erfüllte. Die Rote Armee durchbrach an sämtlichen Frontabschnitten die deutschen Stellungen. Im Eiltempo warfen die Sowjets die geschwächten deutschen Infanteriedivisionen zurück. Ich konnte dem, was der Vater über den Krieg erzählte, nur mühsam folgen. Ich begriff immerhin so viel, dass wir ihn mit Sicherheit verlieren würden. Den Vater schien das zu erfreuen, was ich nicht verstand und wogegen ich mich innerlich auflehnte. Mir gefiel auch der höhnende Ton nicht, den der Vater anschlug, wenn er über die SS sprach, mir missfiel die Abneigung, die er dem Führer entgegenbrachte, von dem es doch in der Schule hieß, dass er Deutschland aus dem Sumpf gezogen habe, in den die Juden das Vaterland hineingeritten hätten und wofür wir dem Führer ewig dankbar sein müssten. Der Lehrer liebte es, diesen Satz ein paar Mal zu wiederholen. Er war genauso einprägsam, wie die Wochen-Losung, die er vor Jahren schon in Sütterlinschrift auf die kleine Wandtafel geschrieben hatte. Er konnte von seinem Pult aus, auf dem eine Hakenkreuzfahne im Miniformat stand, mit dem Zeigestock auf den Spruch tippen, der darauf stand: »Der Führer hat immer recht.« Jetzt konnte ich das Menetekel an der Wand, das ich bei meiner Einschulung nicht hatte entziffern können, bereits gut lesen.

 

5.

Manchmal frage ich mich, was der Vater für ein Mensch war. Sein Charakter hatte viele Facetten. Seine Sturheit, der Eigensinn, Willkür und Rohheit überwogen die weicheren Eigenschaften, mit denen er mich überraschte, wenn er mir ein Geschenk machte, etwas, das ich mir gewünscht hatte, Schienen für die Spielzeug-Eisenbahn beispielsweise. Aber selbst in solchen Augenblicken kam er mir noch düster und bedrohlich vor. Ich hätte gerne einen anderen, einen verständnisvolleren Vater gehabt.

Mit zunehmendem Alter ließ ich mich immer wieder in Auseinandersetzungen mit ihm hineinziehen, wenn ich seine Befehle und Strafen als ungerecht empfand. Wenn ich etwas angestellt, mich um eine Arbeit in seiner Werkstatt gedrückt oder ihn mit einer rotzigen Antwort herausgefordert hatte, musste ich auf dem Gehweg vor dem Hoftor mit einer schweren Brechstange in den Händen und ausgestreckten Armen Kniebeugen machen. Wenn Passanten an der Quälerei kopfschüttelnd oder protestierend Anstoß nahmen, legte er sich mit ihnen an: »Das geht euch nichts an, kehrt vor eurer eigenen Tür, da liegt viel Dreck.«

Seine immer aufgeregte, immer ein wenig gellende Stimme, die auch der gemächliche alemannische Dialekt nicht zügeln konnte, hallt in meinen Ohren auch heute noch nach. Sie bebte vor Wut, als ich ihm beim Familienkaffee an einem Sonntagnachmittag einmal erklärte, dass ich sonntags lieber bei den Pimpfen im Jungvolk mitmarschieren wolle und bei ihren nächtlichen Mutproben dabei wäre, als in der Messe das Weihrauchfass zu schwenken und die Schelle zur heiligen Wandlung zu läuten. Seit etwa einem halben Jahr war ich Ministrant, versah Dienst am Altar, den Dienst in der Hitlerjugend hatte mir der Vater verboten. Es war ihm nur recht, dass die Großmutter mit dem Stadtpfarrer vereinbart hatte, dass ich Messdiener würde. Als ich dagegen aufmuckte, sagte sie nur: »Das ist doch auch eine Jugendgruppe.«

»Du bleibst Ministrant, das mit dem Jungvolk kannst du dir aus dem Kopf schlagen«, ließ mich der Vater jetzt abblitzen.

»Ich will aber«, beharrte ich. »Der Lehrer hat auch gesagt, dass ich da besser hinpasse als zu den Messdienern.«

»Was ich sage, wird gemacht, das kannst du dem Lehrer ausrichten.«

»Das kannst du ihm selber sagen«, gab ich zurück.

Als der Vater zum Schlag ausholen wollte, fiel ihm die immer um Ausgleich besorgte Großmutter ins Wort und in den Arm. »Ich red mit ihm.«

Das war das erste demonstrative Aufbegehren gegen den Vater, an das ich mich erinnere.

Die Großmutter nahm mich beiseite und ins Gebet. Ich hörte ihr zu. Widerwillig zwar, aber sie war meine einzige Ratgeberin, wenn es Ärger mit dem Vater gab oder ich Kämpfe mit mir selbst ausfocht.

Sie sprach davon, dass der Dienst für den lieben Gott doch wichtiger sei als der für den Führer, der Glaube an Gott, sagte sie, mache vieles wett, was das Leben einem vorenthalte. So, als verrate sie ein Geheimnis, fügte sie dann nach einer langen Pause mit zurückgenommener Stimme hinzu: »Wenn ich dich als Messdiener am Altar sehe, habe ich das Gefühl, du müsstest Priester werden. Das wäre mein Schönstes.«

Ich war baff. Diese Neigung verspürte ich nun gerade nicht. Es kam ja nicht einmal die richtige religiöse Stimmung in mir auf, wenn ich die vielen Altarkerzen anzündete, die dem Gottesdienst das Erhebend-Feierliche gaben.

Das Gespräch hatte jedenfalls bewirkt, dass ich noch eine Zeit lang Ministrant blieb. Ich trug weiterhin den scharlachroten Messdiener-Rock mit dem feinen weißen Hemd darüber statt der braunen Pimpfenkluft mit den goldenen Schnüren und den silbernen Kordeln.

Ich klingelte am Hochaltar weiter mit der Schelle, wedelte mit dem Weihrauchfass, faltete fromm die Hände, statt beim Geländespiel auf die Bäume zu klettern, sang »Großer Gott, wir loben dich«, statt in das Lied »Unsere Fahne flattert uns voran« einzustimmen.

Wenn Klassenkameraden begeistert von ihren Wochenenderlebnissen bei den Pimpfen erzählten, beschlich mich das Gefühl, ein Ausgeschlossener zu sein. Ich war der Einzige in der Klasse, der nicht dazugehörte. Wenn sie mich dann auch noch wegen meines »Mädchenrocks« hänselten, mit dem ich um den Altar herumschwänzeln würde, konnte ich oft die Tränen nicht unterdrücken.

Den Vater rührte es nicht im Geringsten, als ich daheim davon erzählte. Er hatte kein Ohr für meine Nöte, kein Herz für meinen Kummer. Die Großmutter breitete hilflos die Arme aus, die Mutter schwieg und der Bruder war noch zu klein, um mit mir darüber zu reden. Ich fühlte mich in einer beklemmenden Situation.

Einmal jedoch gelang es mir auszubrechen.

Der Vater war verreist, was er ja eigentlich verabscheute, aber sein Bruder, der in Rastatt lebte, war in der Klemme. Er hatte auf zu großem Fuß gelebt und brauchte seine Hilfe.

Es muss um den einundzwanzigsten Juni herum gewesen sein, dem längsten Tag im Jahr und der kürzesten Nacht, an dem Jungvolk und Hitlerjugend sich abends zur großen Sonnwendfeier in der Kleinen Stadt am Rhein auf dem Sportplatz versammelten, wo ein riesiger Holzstapel aufgeschichtet war. Die Buchen- und Eichenscheite hatten die Jungen der Hitlerjugend aus dem Wald herbeigekarrt. Einen Klassenkameraden, der in einem Nachbarhaus wohnte und mit dem ich ein wenig befreundet war, hatte ich gebeten, mich zur Sonnwendfeier mitzunehmen. Der Großmutter sagte ich nichts. Ich schlich mich von zuhause davon. Er hatte ein frisch gebügeltes Braunhemd an und seine Schwester dabei. Sie trug das Kostüm des Jungmädelbundes, dunkelblauer Rock, weiße Bluse und schwarzes Halstuch mit Lederknoten, die langen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten und als Kranz um den Kopf gelegt. Sie war etwa in meinem Alter, vielleicht auch ein wenig darüber. Jedenfalls war sie sehr anmutig und auf eine bezaubernde Art scheu.

Es war ein richtiger Menschenauflauf auf dem Sportplatz, in den wir uns einreihten. Das zarte Mädchen stand dicht neben mir, als die Flammen hochschlugen und das Lied »Flamme empor« angestimmt wurde. Dann folgten endlose Reden. Der Fähnleinführer mit dem breiten Schulterriemen raunte etwas von der nationalen Wiedergeburt und der »völkischen Revolution« ins Megafon, die Mädelschaftführerin erzählte vom Dienst an Volk und Familie, der von der deutschen Frau erwartet werde, und der Bürgermeister, in leuchtend brauner SA-Uniform mit rot-weißer Armbinde, sprach breitzüngig von »Blut und Boden«.

Ich hörte das alles wie aus weiter Ferne. Ich war zu abgelenkt. Den »Zauber der Feierstunde«, von dem ständig die Rede war, erfuhr ich auf meine Weise. Als die Aufforderung erging, uns an den Händen zu halten, und ich Lillys Hand fest in meiner hielt, beschlich mich ein eigentümliches Gefühl, das so schön und beseligend war, dass ich es festhalten wollte. Als ich mich zu Lilly hindrehte und den Duft ihres blonden Haars schnupperte, ging mir das durch und durch. Weihnachten war nichts dagegen.

Das große Sonnwendfest fand ein jähes Ende. Die Sirene auf dem Rathausdach heulte los und kündigte mit einem Glissando von hochgezogenen und abfallenden Tönen englische oder amerikanische Bombenflugzeuge im Anflug an. Die »Fliegenden Festungen«, wie sie wegen ihrer vier Motoren und der schweren Bewaffnung genannt wurden, überflogen in letzter Zeit immer häufiger in großen Formationen und mit gewaltigem Dröhnen die Kleine Stadt am Rhein. Sie warfen ihre Bombenlast über einer der großen Städte im Norden oder Osten des Reichs ab. Von Feuerstürmen war einen Tag später im Radio die Rede.

Am Morgen nach den nächtlichen Überflügen glitzerten auf den Straßen und Feldern eine Menge fingerlanger Staniolpapierstreifen, die aus den Bombern abgeworfen worden waren und die ich zusammen mit anderen Jungen aufsammelte, als wären es Souvenirs. Sie dienten dazu, die deutschen Abfangjäger zu irritieren, die kreuz und quer in die feindlichen Geschwader hineinflogen, wie der Vater mir erklärte. Wenn am Morgen nach einem nächtlichen Bombardement auf Berlin, Leipzig oder Hamburg in den Nachrichten aus dem Volksempfänger die Zahl der von den Jägern oder Flakgeschützen abgeschossenen feindlichen Maschinen bekanntgegeben wurde, konnte sie mir nicht hoch genug sein. Der Vater machte eine böse Miene, wenn ich jubelte.

Als dann im Laufe der Sommermonate die Bomber auch tagsüber zu Hunderten am Himmel erschienen und die Abwehrjäger immer weniger wurden und nicht mehr viel ausrichten konnten, sagte der Vater, dem Reich sei das Benzin ausgegangen. Das gewaltige Dröhnen der Flugzeuge, die lange weiße Kondensstreifen hinter sich herzogen, löste noch mehr Angst bei mir aus, als ich schon bei den Nachtflügen gespürt hatte. Verschreckt und mit eingezogenem Kopf, als könnte mir jederzeit eine Bombe auf den Kopf fallen, ging ich, wenn die Sirene ertönte, in einen mit Betten und Stühlen ausgestatteten Luftschutzkeller. Er war auf Geheiß des Bürgermeisters in einem nahen Bergstollen eingerichtet worden. Der Stollen gehörte dem Vater und lag unter seinem Weinberg. Ich blieb dort auch, nachdem die Sirene mit einem langgezogenen Ton längst Entwarnung gegeben hatte. Nicht einmal das begütigende Zureden der Großmutter konnte mich aus dem bombensicheren Unterschlupf herausholen. Auch die anfeuernden Worte eines Pimpfen-Liedes, das der Lehrer der Klasse beigebracht hatte und das ich auf den Lippen hatte, wenn die Sirenen heulten und die Bomber wummerten, verfehlte seine beruhigende Wirkung: »Vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren.« Der Vater fand das zum Lachen, und die Großmutter empfahl stattdessen ein Stoßgebet.

Ein paar Tage nach dem Sonnwendspektakel bekam der von seiner kurzen Reise zum Bruder heimgekehrte Vater Besuch vom Bürgermeister, dessen schneidige Rede bei der Sommersonnenwende im Sirenengeheul untergegangen war. Er kam in Zivil, in Knickerbockern und genagelten Schuhen. Als er den immer nach Bohnerwachs riechenden Flur betrat, fielen mir seine schweren Tränensäcke und das hochrote Gesicht auf, was, wie man in der Kleinen Stadt tuschelte, von den Ausschweifungen des Bürgermeisters herrührte. »Er trinkt zu viel Cognac«, hat der Vater einmal gesagt.

Es war kein seltener Besuch, denn der Bürgermeister und der Vater kannten sich seit ihrer Schulzeit, waren Freunde geblieben, wiewohl die Freundschaft ein wenig abgekühlt war, als der Bürgermeister in der heimischen Nazi-Partei immer weiter nach oben geklettert war und der Vater dafür nur Hohn und Spott übrig hatte.

Entsprechend frostig war der Empfang.

»Was willst du?«

»Mit dir reden.«

Mit einer Kopfbewegung in meine Richtung wies mich der Vater aus der Küche. Ich blieb hinter der Türe stehen und lauschte. Der Bürgermeister-Freund machte dem Vater Vorhaltungen, weil er sich abträglich über die nationalsozialistische Gemeindepolitik geäußert habe. Dann wurde es laut und lauter hinter der Türe.

»Es sieht nicht gut aus für dich. Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du wenigstens die Klappe halten sollst, wenn du schon nicht mitmachst.«

Das reizte den Widerspruch des Vaters und stachelte seine Aufsässigkeit nur noch an. »Hast du dich noch nicht daran gewöhnt, dass ich sage, was ich denke? Auch die Nazis können mir nicht das Wort verbieten. Das merk dir.«

Daraufhin der Bürgermeister: »Du wirst schon noch sehen, wohin das führt, du bist ein Narr.«

So ging das weiter. Mit sanfter Stimme mischte sich die Mutter in die Auseinandersetzung ein: »Hör auf ihn. Sei doch nicht so starrsinnig. Oder willst du, dass wir alle eingesperrt werden?«

Der Bürgermeister nahm, für mich auf dem Horchposten vernehmbar, einen Schluck vom Kaffee, den die Mutter ihm offenbar hingestellt hatte, und sagte: »Das ist das letzte Mal, dass ich dich warne.« Dann ging er. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Der Bürgermeister meinte es gut mit dem Vater, obwohl der es ihm sehr schwer machte. Er gehörte wohl zu den sogenannten Anständigen in der NSDAP, jenen, die einen nicht gleich anzeigten, wenn man sagte, dass man nichts von dem braunen Regime halte. Der Vater hätte ihm dankbar sein müssen, wenigstens hätten ihn seine Worte nachdenklich stimmen sollen. Aber das war in seinem Charakter nicht angelegt. Manchmal kam er mir vor wie ein gefühlskalter Poltergeist und wirrköpfiger Rechthaber. Immerhin riskierte der Bürgermeister mit seinen Besuchen einiges. Es gab Stimmen in der Kleinen Stadt, vor allem im Gemeinderat, die sogar forderten, dass er die Verbindung mit dem hirnrissigen Systemgegner kappe. Der Bürgermeister-Freund versuchte, seine parteiinternen Widersacher mit dem Argument zu beruhigen, dass er dabei sei, ihn zu bekehren, schließlich stelle er ja in der Kleinen Stadt etwas dar und sei nicht unbeliebt.

 

Es muss zwischen den beiden etwas gegeben haben, das stärker war als die Parteiräson.

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