Sprachenlernen und Kognition

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1.1.3 Grundannahmen der kognitiven Linguistik

Die erste Grundannahme betrifft die Symbolhaftigkeit der Sprache (vergleiche Evans 2012). Wie auch vorherige Grammatiktheorien, nimmt die kognitive Linguistik Sprache als symbolhaft an. Symbole sind die Grundeinheiten der Sprache und bestehen aus einer Bedeutungskomponente und einer Formkomponente. Demnach sind alle Bereiche der Sprache stets bedeutungsvoll (siehe Langacker 2008b: 8), auch die Grammatik. Daraus ergibt sich eine wichtige Erkenntnis bezüglich der Grammatik, und zwar wird sie nicht mehr als ein abstraktes und arbiträres Regelwerk aufgefasst; vielmehr bildet sie zusammen mit dem Lexikon ein Kontinuum von symbolischen Strukturen (vergleiche Langacker 2008a: 67). Auf diese Weise besitzen sowohl das Wort Kaffeemaschine als auch die verschiedenen Kasus im Deutschen jeweils eine oder mehrere Bedeutung(en). Im Umkehrschluss heißt das, dass es sowohl bei der Wortschatzvermittlung als auch bei der Grammatikvermittlung eigentlich um Bedeutungsvermittlung geht. Ohne die Bedeutungskomponente kann die symbolische Einheit nicht vollständig erworben werden (siehe Langacker 2008c). Trotz der beschriebenen Ähnlichkeiten besteht jedoch ein ganz offensichtlicher Unterschied zwischen den Bedeutungskomponenten beider Symbole, nämlich: Die Bedeutung des Wortes Kaffeemaschine ist relativ unmittelbar und konkret zu bestimmen, während die Bedeutung des Kasussystems vielschichtiger und weniger greifbar ist und einen höheren Abstraktionsgrad besitzt, der auch als Schematizität bezeichnet wird (vergleiche Langacker 2008b: 22; Meex & Mortelmans 2002: 51). Talmy (2000) hat diesen Unterschied genauer unter die Lupe genommen. Demnach besteht die semantische Funktion der Grammatik beziehungsweise grammatischer Strukturen darin, die konzeptuelle Struktur der Sprache zu repräsentieren, während die semantische Funktion des Lexikons beziehungsweise lexikalischer Strukturen darin besteht, den konzeptuellen Inhalt darzustellen. In anderen Worten ist die Grammatik die konzeptuelle Struktur, mit der der konzeptuelle Inhalt – also das Lexikon – organisiert wird. Talmy (2000) ging es aber nicht primär um die Ausarbeitung der Prinzipien der konzeptuellen Struktur der Sprache, also der Grammatik, sondern eher um die Erschließung des allgemeinen konzeptuellen Systems des Menschen anhand der Sprache. Somit dient Sprache nach Talmy als Mittel zur Beobachtung der allgemeinen kognitiven Strukturen.

Diese Position setzt eine weitere Grundannahme voraus: Sprache ist kein separates Modul im Kopf der Menschen, sondern ein Teil der allgemeinen menschlichen Kognition und funktioniert nach denselben Prinzipien. Diese Annahme ist in der Literatur auch als das cognitive commitment bekannt (vergleiche Evans & Green 2006: 193). Demnach spiegeln sich die Organisationsprinzipien des konzeptuellen Systems auch in der Sprache und in der Grammatik wider. Aspekte der Perzeption sowie Prozesse des bildlichen Denkens und der Metaphorisierung sind mit dem symbolischen System der Sprache eng verbunden. Diese Prozesse speisen sich wiederum aus den sogenannten körperlichen Erfahrungen (zum Beispiel Bewegung, Druck, Kraft, Teil-Ganzes-Beziehungen, Vertikalität und Ähnliches; vergleiche Evans & Green 2006). Nehmen wir folgenden Satz als Beispiel: Der Fußball ist durch seine starke Kommerzialisierung weltweit etwas heruntergekommen. An diesem Beispielsatz können wir gut erkennen, wie abstrakte Konzepte der Sprache durch konkrete körperliche Erfahrungen strukturiert werden können: UNTEN ist schlecht, OBEN ist gut. Die körperliche Erfahrung von Vertikalität im Raum wird auf etwas Abstraktes, nicht Greifbares angewandt. Dieser Prozess der Metaphorisierung (auch mapping, vergleiche Gibbs & Ferreira 2011) ist nach der Conceptual Metaphor Theory (Lakoff & Johnson 1980; Lakoff 1987) ein zentrales Werkzeug des menschlichen Denkens und Handelns. Gerade die Nutzung von Metaphorisierungsprozessen eröffnet qualitativ andere Wege für die Vermittlung von scheinbar abstrakten Sprachbereichen wie der Grammatik, denn Metaphern docken letzten Endes an körperliche Erfahrungen an, die bei jedem Lerner im gleichen Maße ausgeprägt sind.

Die dritte wichtige Grundannahme der kognitiven Linguistik betrifft die Gebrauchsbasiertheit der Sprache (auch usage-based approach) (vergleiche Evans 2012; vergleiche auch Behrens 2009: 429; Langacker 2009: 628). Demnach nutzen Sprecher allgemeine Lernmechanismen wie Generalisierung, Kategorisierung oder Komposition, um aus den konkreten Äußerungen Gemeinsamkeiten zu erkennen und daraus eine Art Muster oder Schema abzuleiten (vergleiche Langacker 2008b, 2009). Damit distanziert sich die kognitive Linguistik von der Annahme einer angeborenen Grammatik, denn die Etablierung von Strukturen der Sprache setzt eine intensive Analyse authentischer Äußerungen aus dem Input voraus. Mit der Annahme der schrittweisen Schematisierung von Sprachstrukturen aus konkreten Äußerungen betont die kognitive Linguistik die Wichtigkeit der Sprachverwendung in einem kommunikativen beziehungsweise sozialen Kontext. Demnach stellt die Kodierung und Symbolisierung von Bedeutung in einer Sprache ein geteiltes Wissen innerhalb einer Sprachgemeinschaft dar, womit die soziale und interaktive Funktion von Sprache begründet wird (vergleiche Evans & Green 2006). Für die Grammatikvermittlung ergibt sich daraus eine ganz wichtige Konsequenz, nämlich dass die zunehmende Schematisierung und Kategorisierung sprachlicher Äußerungen einer grammatischen Struktur keinesfalls durch das explizite Regelerklären ersetzt werden kann (vergleiche auch Achard 2008: 440). Die Relevanz der Gebrauchsbasiertheit für die Sprach- und Kulturvermittlung wird in Kapitel 8 ausführlicher behandelt.

Neben den drei Grundannahmen postuliert die kognitive Linguistik außerdem die Existenz von Organisationsprinzipien menschlicher Sprachen, die nicht nur für alle einzelnen Sprachbereiche (Syntax, Morphologie, Lexik und Ähnliches) gleich sind, sondern auch für die allgemeinen Denkprozesse des Menschen, wie zum Beispiel die Kategorisierung nach Prototypen oder die Polysemie. Solche Prinzipien werden im nächsten Abschnitt erklärt.

1.1.4 Organisationsprinzipien natürlicher Sprachen

Wir nehmen die Welt nicht einfach unsortiert wahr, lassen nicht einfach alle Eindrücke in unser Gehirn dringen und dort irgendwie walten, sondern sortieren unseren nichtsprachlichen und sprachlichen Input. Dieser Aspekt unseres Denkens schlägt sich auch in der Ordnung von Sprache in den Köpfen der Sprecher (und Hörer) nieder. Nach Evans & Green (2006: 28; vergleiche auch Evans 2012) sind die natürlichen Sprachen nach bestimmten Prinzipien organisiert, die sowohl im Lexikon als auch in der Grammatik zu beobachten sind. Im Folgenden sollen einige dieser Prinzipien in Anlehnung an Radden (2008) erläutert werden.

Prototypen

Ein erstes wichtiges Prinzip ist der sogenannte Prototypeneffekt. Kognitionspsychologische Forschungen haben gezeigt, dass die Organisation von Konzepten als grundlegende kognitive Entitäten nicht nach Kriterien oder festen Definitionen erfolgt, sondern nach dem Prinzip der Zentralität (vergleiche Evans & Green 2006: 28f; Geeraerts 1989; Radden 2008). Wahrscheinlich ist der Prototypeneffekt aus der Tatsache heraus zu erklären, dass unsere konzeptuellen Kategorien oft mit den konkreten Erfahrungen aufgrund von Abweichungen nicht leicht vereinbar sind (Rosch 1975). So sind Prototypen als zentrale Vertreter einer bestimmten Kategorie zu verstehen. Die anderen Vertreter der Kategorie differieren in unterschiedlicher Intensität und durch unterschiedliche Dimensionen vom Prototypen (Barcelona & Valenzuela 2011: 21f). Der zentrale Vertreter weist in der Regel die maximale Anzahl an Charakteristika auf, die mit den anderen Vertretern der Kategorie geteilt werden können (nicht müssen). Die konzeptuelle Organisation nach Prototypen setzt außerdem voraus, dass es kein Charakteristikum gibt, das allen Vertretern der Kategorie gemeinsam sein muss. Zur Veranschaulichung des Prototypeneffekts nehmen wir das Konzept Kugel als Beispiel:

Abbildung 1.1:

Prototypeneffekt am Beispiel Kugel

An den verschiedenen Abbildungen ist zu erkennen, dass a) den prototypischen und besten Vertreter der Kategorie Kugel darstellt. Die anderen Mitglieder der Kategorie Kugel können zwar als solche erkannt werden, aber sie weichen auf irgendeine Weise vom zentralen Vertreter ab: Während d) eine metaphorische Extension von Kugel (Patronenkugel) darstellt, bezieht sich b) auf Kugel in ihrer synonymischen Verwendung zu (Fuß-)Ball und c) auf eine bestimmte Art von Kugel, nämlich Billardkugel. Die Distanz zwischen dem Prototypen und den anderen Vertretern der Kategorie variiert je nach Art der Abweichung. Wie bereits erwähnt, gibt es auch in diesem Beispiel keine gemeinsamen Kriterien, die alle Vertreter der Kategorie Kugel definieren. So wäre zum Beispiel das Merkmal rundes Objekt, das rollen kann bei d) nicht erfüllt. Folglich lassen sich Prototypen nach Geeraerts (1989) durch folgende Charakteristika festlegen:

 Prototypen besitzen Mitglieder mit unterschiedlichen Graden an Typikalität.

 Periphere Vertreter eines Prototypen sind verschwommen.

 Kategorien können nicht nach Kriterien definiert werden.

 Die semantische Struktur von Prototypen organisiert sich radial.

Der Prototypeneffekt betrifft aber nicht nur die Semantik einzelner Wörter, sondern auch die Phonologie, die Phonetik und die Grammatik im Allgemeinen (vergleiche Evans & Green 2006). So finden sich im Bereich der Phonologie verschiedene Realisierungen eines selben Phonems, die trotz ihrer unterschiedlichen phonologischen Merkmale einem selben Phonem zugeordnet werden können, wobei eine Realisierung als die prototypische bezeichnet werden könnte. So sind zum Beispiel die Laute [ʁ] und [r] im Deutschen unterschiedliche Realisierungen (Allophone) desselben Phonems /R/; je nach Dialekt wird die eine oder die andere Realisierung des Phonems /R/ von den Sprechern als die prototypische bezeichnet.

 

Im Bereich der Phonetik hat Kuhl (1991) festgestellt, dass Vokale wie zum Beispiel der Laut [i] als Kategorie intern so strukturiert sind, dass die verschiedenen phonetischen Realisierungen des Lautes nach der Nähe oder Distanz zum Prototypen beurteilt werden können. Kuhl stellte in weiteren Experimenten auch fest, dass es einen sogenannten Magnet-Effekt (›Perceptual Magnet Effect‹) gibt (vergleiche Kuhl 1998; Iverson & Kuhl 1995): Das Vorkommen des Prototypen als Stimulus bewirkt eine bessere Bewertung der umliegenden Laute. Der Prototyp zieht sozusagen die anderen Laute an sich heran, wie in der folgenden Abbildung gezeigt wird:

Abbildung 1.2:

Magnet-Effekt (Kuhl 1998: 58)

Ein weiteres Beispiel für das Vorkommen von Prototypeneffekten innerhalb des Systems der Sprache ist die Tatsache, dass sich nicht alle transitiven Verben passivieren lassen und trotzdem als Vertreter der Kategorie der transitiven Verben erkannt werden (vergleiche Evans & Green 2006: 32):


1)Er wäscht sich seine Hände;
* seine Hände werden von ihm gewaschen.
2)Der Bertelsmann-Konzern besitzt über 70 % der Aktien der RTL Group;
* Über 70 % der Aktien der RTL Group werden vom Bertelsmann-Konzern besessen.

Einige transitive Verben scheinen also das Merkmal der Passivierung nicht mit den anderen Vertretern der Kategorie zu teilen. Dieser Umstand kann jedoch aus pragmatischer Sicht erklärt werden: Da die Passivierung primär eine Fokusverlagerung vom Agens zum Patiens bewirkt, scheint eine solche Fokusverlagerung bei Äußerungen mit gleichem Agens und Patiens (1) nicht notwendig zu sein. Auch Verben wie zum Beispiel besitzen, haben, behalten und ähnliche Verben (2), die einen Besitzer mit einem Besitztum assoziieren (vergleiche Verspoor & Lowie 2003: 87), scheinen den Vorgangsaspekt durch das Passiv nicht zu benötigen.

Experiment

Machen wir nun ein Experiment zum Prototypeneffekt. Überlegen Sie sich ein bestimmtes Konzept (zum Beispiel Sofa, Fahrrad, Baum oder Ähnliches), suchen Sie ähnlich wie bei Abbildung 1.1 unterschiedliche Bilder zum ausgewählten Konzept und nummerieren Sie diese von 1–5. Im nächsten Schritt fragen Sie drei oder mehr Freiwillige, welche Bilder dem Prototypen des ausgewählten Konzepts näher stehen und welche etwas ferner.

Was können Sie an den Ergebnissen beobachten? Wie würden Sie den verschiedenen Freiwilligen den beobachteten Effekt erklären?

Überlegen Sie gemeinsam, welche Konsequenzen Sie aus Ihren Beobachtungen für Ihren Sprachunterricht ableiten können.

Polysemie

Verbunden mit dem Prototypeneffekt ist der Begriff der Polysemie. Er tritt dann ein, wenn eine linguistische Einheit mehrere (poly) Bedeutungen (seme) besitzt (vergleiche Radden 2008). Im Lexikon werden bei diesem auffallenden Phänomen Wörter – oft durch Metaphorisierung – mit einer anderen Bedeutung verwendet. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Quelle, so kann das Wort sowohl entspringendes Grundwasser als auch den Ursprung einer Information (zum Beispiel bei Zitaten) bezeichnen. In der Grammatik ist Polysemie ebenfalls ein verbreitetes Phänomen. Ein oft genanntes Beispiel ist das Morphem {-er} als Affix bei der Substantivierung von Verben. Im Deutschen besteht die Möglichkeit, das Morphem {-er} für unterschiedliche Zwecke zu nutzen (vergleiche Wildgen 2008). So kann die Kombination eines Verbs mit dem Affix {-er} das Agens einer Szene markieren (zum Beispiel Käufer); {-er} kann jedoch auch ein Instrument kodieren (zum Beispiel Kocher). Ein weiteres Beispiel für Polysemie in der Grammatik sind die Modalverben. So bezeichnet das Modalverb müssen sowohl eine interne Kraft (zum Beispiel: Ich muss gegenüber meinem Freund ehrlich sein.) als auch einen externen Druck (beispielsweise Ich muss morgen den Bericht abgeben.).

Taxonomien

Auch die sogenannten Taxonomien stellen ein weiteres Organisationprinzip natürlicher Sprachen dar, das ebenfalls aus der allgemeinen Kognition bekannt ist: Konzeptuell-semantische Kategorien schweben nämlich nicht isoliert in unserem konzeptuellen System, sondern sie sind miteinander auf eine hierarchieartige Weise verbunden (vergleiche Radden 2008). Durch die Nutzung von Hyperonymen (Fahrzeug => Auto) und Kohyponymen (Auto <=> Motorrad) bieten Taxonomien die Möglichkeit, den Aufbau begrifflichen Wissens ökonomisch zu verwalten (vergleiche Neveling 2004: 42). Zur Systematisierung des Wortschatzes vermitteln einige Vokabellehrwerke wie memo folgerichtig Strategien, die auf Unter- oder Nebenordnung basieren (vergleiche Roche 2013b: 93). Damit lässt sich die Wortschatzarbeit mit den Organisationsprinzipien unseres konzeptuellen Systems besser vereinbaren und zugleich der Aufbau unterschiedlicher Netze lexikalischen Wissens unterstützen, was wiederum die Nutzung unterschiedlicher Speicher- und Abrufwege ermöglicht. Nach Radden (2008; vergleiche auch Neveling 2004) besitzen die sogenannten basic-level-words innerhalb der Taxonomien eine besondere kognitive Prägnanz: Sie können einerseits ein konkretes mentales Bild aus unseren Erfahrungen hervorrufen, enthalten andererseits jedoch nicht zu viele Details, die ihre Speicherung eventuell erschweren könnten. Die Speicherwirksamkeit von basic-level-words lässt sich aber nicht nur durch ihre kognitive Prägnanz begründen, sondern vor allem durch ihre kommunikative Relevanz (Neveling 2004: 44): Ein Wort wie Auto kommt in der Kommunikation öfter vor als zum Beispiel das Wort sidecar und ist daher für Sprecher und Lerner auch relevanter. Die Vermittlung von basic-level-words eignet sich daher für die Anfangsphasen des Wortschatzerwerbs besonders gut.

1.1.5 Die Rolle der kognitiven Linguistik in der Sprachdidaktik

An verschiedenen Stellen dieses Kapitels ist bereits deutlich geworden, wie sich ein kognitionslinguistischer Ansatz auf die Sprachvermittlung auswirken kann. Im Folgenden sollen die wichtigsten Prinzipien einer kognitionslinguistisch ausgerichteten Sprachdidaktik zusammengefasst und ergänzt werden, bevor im letzten Kapitel das Modell einer kognitiven Sprachdidaktik präsentiert und illustriert wird. Festzuhalten ist also:

Für den erfolgreichen Erwerb von grammatischen Konstruktionen ist erstens der Erwerb ihrer Bedeutung zwingend erforderlich (vergleiche Langacker 2008b, 2008c). Zweitens muss die zunehmende Schematisierung und Kategorisierung konkreter sprachlicher Äußerungen einer grammatischen Struktur aus authentischem Input und nicht durch die explizite Regelerklärung erfolgen (vergleiche Achard 2008). Drittens ist die Grammatik kein arbiträres und abstraktes System, sondern sie ist konzeptuell motiviert und organisiert sich nach den Prinzipien der allgemeinen Kognition und Perzeption körperlicher Erfahrungen (vergleiche Evans & Green 2006). Aus diesem letzten Aspekt ist zu schließen, dass die Grammatik auch durch konkrete, körperliche Erfahrungen vermittelbar sein sollte (vergleiche Littlemore & Low 2006b; Suñer 2013: 16). Erst über diesen Weg lassen sich konkrete Handlungen mental simulieren und damit die Grammatik erfahrbar machen. Eine solche Vermittlung kann durch entsprechende körperliche Erfahrungen (Gestik oder Mimik) gestützt werden oder auch durch Animationen erfolgen, die ein grammatisches Phänomen einer Sprache kognitionslinguistisch verbildlichen. Wie das konkret erfolgen kann, zeigt Kapitel 7 anhand verschiedener grammatikalischer Bereiche.

Wie Sie in Kapitel 8 sehen werden, erweisen sich die handlungsorientierten Ansätze als ein besonders geeigneter methodischer Rahmen für den Einsatz von Grammatikanimationen. Ganz im Sinne der kognitionslinguistischen Postulate gehen handlungsorientierte Ansätze davon aus, dass Wörter und Grammatik als Handlungen verstanden werden können und dass aus ihrem Erfolg gelernt werden kann (vergleiche auch das Handlungsprinzip nach Roche, Reher & Simic 2012: 32). In anderen Worten: Erst durch den Gebrauch von Sprache in einer konkreten Handlungssituation können grammatische Konstruktionen erworben und nach situationaler Differenzierung weiter elaboriert beziehungsweise spezifiziert werden (vergleiche auch das Situativitätsprinzip nach Roche et al. 2012: 32). Diese Prinzipien korrespondieren mit dem kognitionslinguistischen Postulat der Gebrauchsbasiertheit insofern, als dass Sprachen erst durch ihren aktuellen Gebrauch in konkreten Situationen schrittweise erworben werden können (vergleiche Behrens 2009; Bybee 2008; ausführlicher siehe Lerneinheit 8.2). Vor diesem Hintergrund unterstützen Grammatikanimationen die mentale Repräsentation konkreter Handlungen und machen damit die Verbindung zwischen situationsspezifischen Aspekten von Handlungen und den entsprechenden Sprachmitteln transparent (vergleiche dazu Kapitel 7). Dieses Prinzip lässt sich beispielweise so umsetzen, dass die Lerner nach einer ersten Phase der Exploration der Animationen die dort abzuspielenden Handlungen selbst gestalten. Durch das anschließende Abspielen der gestalteten Situation können die Lerner ihre Vorstellungen überprüfen und sich den Zusammenhang zwischen Sprache und Handeln nochmals vor Augen führen. Außerdem lassen sich Grammatikanimationen besonders gut in kooperativen Lernsettings einsetzen, denn sie bieten Lernenden durch ihre vordergründige Unvollständigkeit und ihre induktive Präsentationsform vielfältige Impulse für das selbständige Problemlösen in der Gruppe (vergleiche Entwicklungsprinzip nach Roche et al. 2012: 32). Schließlich ist zu erwähnen, dass die in Grammatikanimationen abzubildenden Situationen die Interessen und Bedürfnisse der Lerner berücksichtigen sollen, um die nötige Salienz und Relevanz zu erzeugen (vergleiche auch Relevanzprinzip nach Roche et al. 2012: 32). Erst durch die Einbeziehung der Lernerwelt in die Grammatikanimationen können lernrelevante Prozesse (Hypothesenbildung, Analogiebildung etc.) initiiert werden, die den sukzessiven Aufbau der (Fremd-)Sprache ermöglichen (vergleiche Roche et al. 2012: 32).

Eine im Sinne der kognitiven Linguistik ausgerichtete kognitive Sprachdidaktik lässt sich folgendermaßen beschreiben (ausführlicher siehe Lerneinheit 8.3): Die Bezeichnung kognitive Sprachdidaktik leitet sich von ihrer wichtigsten linguistischen Bezugsdisziplin, der kognitiven Linguistik, ab. Die kognitive Linguistik basiert nach Evans (2012) auf den folgenden Annahmen: Sprache ist Konzeptualisierung (thesis that meaning is conceptualisation), Sprache ist und entwickelt sich gebrauchsbasiert und damit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten (usage-based thesis), Bedeutung ergibt sich aus der Gesamtheit des Wissens aller konzeptuellen Bestände (thesis of encyclopedic semantics) und körperlicher Erfahrungen (thesis of embodied cognition) und Form und Bedeutung bilden eine Einheit (symbolic thesis) (vergleiche Evans 2012). Die kognitive Sprachdidaktik macht die konzeptuellen und semantischen Bezüge linguakultureller Systeme transparent und interkulturell salient. Sie geht nicht nur von strukturellen Unterschieden zwischen Sprachsystemen aus, sondern fasst konzeptuelle Unterschiede als Elemente linguakultureller Systeme auf und vermeidet damit die artifizielle Trennung zwischen Sprache und Kultur, die in der Sprach- und Kulturvermittlung oft in Form von isoliertem Landeskundeunterricht betrieben wird. Die kognitive Sprachdidaktik passt die Sprachvermittlung an das an, was ein Lerner in einer bestimmten Entwicklungsphase verarbeiten kann, verbindet die Erkenntnisse der kognitiven Linguistik mit denen der Spracherwerbsforschung, Lernpsychologie und Psycholinguistik. Da sich Sprachen und ihre Grammatiken phylo- und ontogenetisch aus Handlungen und Bedeutungen entwickeln, ist die kognitive Sprachdidaktik eine handlungsorientierte und grundsätzlich landeskundlich-interkulturelle lernerorientierte Didaktik mit einer starken Affinität zu kommunikativen Prinzipien und authentischer sprachlicher Variation und distanziert sich von Kognitivierung im Sinne metasprachlicher Bewusstmachungsverfahren.