Sprachenlernen und Kognition

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2.2.3 Räumlichkeit und Temporalität in Lernergrammatiken

Sehen wir uns nun ein paar Grammatiken an, die sich mit Temporalität und Räumlichkeit beschäftigen.

Abbildung 2.8:

Auszug aus Hammer’s German Grammar zu Zeitausdrücken (Durrell & Hammer 2011: 204)

Abbildung 2.9:

Auszug aus Hammer’s German Grammar zu Zeitausdrücken (Durrell & Hammer 2011: 71)

Die Hammer’s German Grammar versucht eigentlich, Sprache in aktuellen, auch umgangssprachlichen Gebrauchskontexten darzustellen. Sie wendet sich dabei an Sprecher des Englischen und geht daher oft explizit oder implizit kontrastiv vor. In diesem Ausschnitt behandelt sie die Verwendung von Zeitausdrücken aus einer implizit anglophonen Perspektive. Die Frage, ob ein Artikel verwendet wird oder nicht, könnte ansonsten auch relativ nachgeordnet sein. Für Lerner mit der L1 Englisch stellt sie aber ein großes Erwerbsproblem dar. Bei der Darstellung der Tempora nimmt die Grammatik – wie oft – direkten Bezug zum Englischen, in der Annahme, dass diese Kenntnis ein Erwerbsvorteil für Sprecher des Englischen sein könnte. Die spezifischen Unterschiede der Sprachsysteme werden ebenfalls in der Hoffnung herausgestellt, damit Transferfehler zu vermeiden. Insofern ist diese Grammatik eine Mischform unterschiedlicher Ansätze: kontrastiv, gebrauchsorientiert, mit authentischem Sprachmaterial arbeitend und auf die Bedürfnisse der Lerner ausgerichtet. Sie ist damit aber gleichzeitig auch eine Grammatik, die sich sehr an den strukturellen Formen der Sprache ausrichtet und die funktionalen Aspekte in den Hintergrund stellt. Auf kognitionslinguistische Prinzipien geht die Grammatik verständlicherweise nicht ein.

Abbildung 2.10:

Darstellung des Tempussystems in Hammer’s German Grammar (Durrell & Hammer 2011: 183)

Abbildung 2.11:

Darstellung des Tempussystems in Grammatik mit Sinn und Verstand (Rug & Tomaszewski 2013: 26)

Abbildung 2.12:

Auszug aus Minigrammatik Deutsch als Fremdsprache (Roche & Webber 2009: 20)

Die beiden Grammatiken verstehen sich als Lernergrammatiken, sind also explizit an den vermeintlichen Progressionen der Lerner ausgerichtet. Diese sind jedoch nicht empirisch ermittelt worden, sondern beziehen sich auf Vereinfachungsstrategien und Plausibilitäten, die sich aus der Lehrerfahrung der Autoren ergeben. In gewisser Weise werden damit spätere Erkenntnisse der kognitiven Linguistik vorweggenommen. Beiden Grammatiken ist gemeinsam, dass sie die Komplexität des Tempussystems, d.h. des Formeninventars, dadurch reduzieren und transparent machen wollen, dass sie zu den kommunikativen Grundlagen des Systems, nämlich dem Ausdruck der Temporalität, zurückkehren. Dabei stellt sich heraus, dass Temporalität unterschiedlich ausgedrückt werden kann: mit gleichen Formen (z.B. Präsens), durch Adverbiale (lexikalisch) oder durch den Kontext. Die Funktionen stehen also im Vordergrund. Gleichzeitig werden aber auch Wege aufgezeigt, wie die Grammatik im Tempussystem differenziert werden kann. Im Bereich der Wechselpräpositionen zeigt die Minigrammatik, dass sie Ansätzen der kognitiven Linguistik verwandt ist, da sie zumindest in diesem Bereich auf Bildschemata zurückgreift, wie sie parallel in der kognitiven Linguistik beschrieben wurden.

Abbildung 2.13:

Auszug aus der Textgrammatik von Weinrich (Weinrich 2005: 184)

Dieser kurze Auszug aus der Textgrammatik illustriert einige Besonderheiten textlinguistischer Ansätze. Zum einen findet Sprache nicht in Silben, Funktionswörtern (wie Artikeln), Wörtern oder Sätzen, sondern immer in Texten statt. Auch wenn diese kurz sind. Hierzu gehört, dass es in der Sprache keine namenlosen Sätze gibt, sondern Sprecher bestimmte Rollen übernehmen: hier deutlich gemacht durch die Sprecherrolle, die Adressatenrolle und die Referenzrolle. In der Tabelle werden dazu die wichtigsten formellen Merkmale zugeordnet. Interessant ist ferner, dass sich diese Textgrammatik im pragmalinguistischen Sinne folgerichtig als Signalgrammatik versteht. Sprecher und Adressat geben sich über sprachliche Symbole Signale zum Austausch ihrer unterschiedlichen Wissensbestände. So wird das Partizip Perfekt zu einer Anweisung an den Adressaten, nach bekannter Information im Vorwissen zu suchen (Rück-Partizip). Wann immer dieses Partizip auftaucht, verweist es also auf vorbekannte oder vorgenannte Information. Auch dieser textlinguistische Ansatz ist in vielerlei Hinsicht ein Vorläufer der kognitiven Grammatik und mit ihr im Unterricht kompatibel. Auch hier stehen die Transparenz, die Funktionalität und die Einfachheit/Plausibilität und Erfahrbarkeit im Vordergrund.

Experiment

Sie sind nun Versuchsleiter und wollen unterschiedliche Lernkonzepte der Zeit- und Raumdarstellung an Ihren Lernern erproben. Formansätze kennen Sie vermutlich schon. Probieren Sie also mal funktionale und textlinguistische Verfahren. Wie gehen Sie vor, was stellen Sie fest?

2.2.4 Zusammenfassung

Anhand der Ausführungen in dieser Einheit können Sie Folgendes erkennen:

 Den sprachlichen Formen unterliegen tatsächlich klare Konzepte elementarer Raum- und Zeitdomänen.

 In den Zeitkonzepten finden sich die meisten Raumkonzepte wieder.

 Die Konzepte basieren auf sprachenübergreifenden Bildschemata (oben – unten, früh – spät, Dauer …), weisen aber sprachtypische Profilierungen und Perspektivierungen auf, etwa die Nicht-Abgeschlossenheit, Wiederholbarkeit und andere.

 Aus Erwerbsstudien ergeben sich bestimmte natürliche Reihenfolgepräferenzen unabhängig von den Ausgangssprachen der Lerner.

 Eine große Rolle im Erwerb spielt die Salienz und Relevanz der Strukturen in der Zielsprache.

 Formale Aspekte der Beschreibung grammatischer Strukturen halten im Wesentlichen nur die Merkmale der Oberfläche fest, zum Beispiel ob in Adverbialen Artikel oder Präpositionen erscheinen und wie sich starke und schwache Verben verhalten können. Für das Lernen einer fremden Sprache steht der Nutzen solcher Beschreibungen nicht wirklich fest.

 Eine kontrastive Betrachtung metaphorischer Konzepte von Raum und Zeit hilft, Transparenz zu schaffen und Nachhaltigkeit zu sichern. Form-Funktionsaspekte lassen sich durch Darstellungen der Funktionen und – in den Anfangsphasen – auch durch Chunkingverfahren vermitteln (siehe Kapitel 3).

2.2.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Warum sind Raum und Zeit essentielle oder gar existentielle Kategorien unserer Wahrnehmung?

2 Welche Rolle spielt die individuelle Perspektive eines Sprechers?

3 Wie wirken sich linguakulturelle Weltsichten in Bezug auf die Raum- und Zeitwahrnehmung und ihre sprachliche Realisierung aus?

4 Erläutern Sie die Grundkategorien des Temporalitätsmodells von Reichenbach.

5 Wie spezifiziert Kleins Modell das Grundmodell nach Reichenbach?

6 Was ist unter der deiktischen Dimension zu verstehen?

2.3 Kognitive Grammatik

Wie ist Grammatik in unseren Köpfen eigentlich repräsentiert? Nutzen wir bildhafte Vorstellungen zur mentalen Repräsentation von Grammatik? Welche Rolle kann die Bildhaftigkeit im Zweit- beziehungsweise Fremdsprachenunterricht spielen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Lerneinheit. Zur Beantwortung dieser Fragen sollen zunächst Grammatiktheorien und Ansätze aus der kognitiven Linguistik vorgestellt werden, die die Grammatik anhand verschiedener bildhafter Vorstellungssysteme des Menschen beschreiben. Im Mittelpunkt der Ausführungen in dieser Lerneinheit stehen einerseits die kognitive Grammatik von Langacker (2008a) und andererseits die kognitive Semantik von Talmy (2000). Beide Ansätze nutzen Prinzipien allgemeiner menschlicher Wahrnehmung und Kognition wie bildliches Denken und Metaphorisierung, um die konzeptuelle Motiviertheit von Sprache und Grammatik zu erklären. Im ersten Teil der Einheit soll gezeigt werden, inwiefern bildhafte Vorstellungen bei Konzeptualisierungsprozessen eine Rolle spielen und wie sie sich in der sprachlichen Realisierung niederschlagen. Im zweiten Teil dieser Einheit werden ausgewählte Grammatikthemen anhand von bildhaften Darstellungen exemplarisch analysiert. Das Kapitel schließt mit einem Ausblick auf das Potenzial dieser Ansätze für die Fremdsprachenvermittlung.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 die wichtigsten Prinzipien der Konzeptualisierung anhand konkreter Beispiele erklären können;

 verschiedene Grammatikphänomene anhand bildhafter Elemente analysieren können;

 das Potenzial bildhafter Erklärungsansätze zur Veranschaulichung der Grammatik begründen können;

 die Erkenntnisse in der eigenen Vermittlung von Grammatik umsetzen können.

 

2.3.1 Grammatik und Konzeptualisierung

Oft werden bildliche Darstellungen zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge der Grammatik verwendet. Die bisherigen Studien haben jedoch gezeigt, dass die Nutzung solcher visuellen Mittel nur dann effektiv ist, wenn die bildlichen Darstellungen lernrelevante Aspekte transparent machen und daher auch kognitiv verankert werden (vergleiche Scheller 2009; Roche & Scheller 2008). Vor dem Einsatz solcher visuellen Mittel sollte man sich im Klaren darüber sein, welche Konzepte hinter der Grammatik stehen und wie sie anhand von bildlichen Darstellungen den Lernern nähergebracht werden können. Zu diesem Zweck erweist sich die kognitive Grammatik von Langacker (2008a) als äußerst produktiv, da sie die konzeptuelle Motiviertheit von grammatischen Konstruktionen bildhaft beschreibt. Auf welchen Hintergründen diese Idee beruht, schauen wir uns im Folgenden an. Die kognitive Grammatik von Langacker (2008a) teilt einige Grundprinzipien und Postulate mit den Ansätzen der Konstruktionsgrammatik und der allgemeinen kognitiven Linguistik (vergleiche Goldberg 1995; Croft 2001), nämlich das symbolische Prinzip, das Prinzip der Konzeptualisierung und das Prinzip der Schematisierung. Diese Prinzipien wurden zwar bereits in der Lerneinheit 1.1 einführend behandelt, in der vorliegenden Einheit befassen wir uns jedoch intensiv mit dem Aspekt der Konzeptualisierung.

Die zwei Beispielsätze der Tisch unter der Lampe und die Lampe über dem Tisch zeigen, wie wir dieselbe Situation durch Sprache konstruieren. Das heißt, durch die Sprache nehmen wir stets eine bestimmte Perspektive ein, die nur partiell durch die Eigenschaften der objektiven Welt bestimmt ist und damit nur eine Interpretationsmöglichkeit darstellt (vergleiche auch Evans & Green 2006: 571). Diese Fähigkeit, Erfahrungen auf eine bestimmte Weise mental zu konstruieren, ist in der Literatur als Konzeptualisierung bekannt (Evans & Green 2006; Langacker 2008a). Begriffe wie construal (Langacker 2008b) und imaging system (Talmy 2000; vergleiche auch Clausner & Croft 1999) werden synonymisch zu Konzeptualisierung verwendet. Zum Zweck der Konzeptualisierung werden unter anderem Entscheidungen in Bezug auf die Spezifizität, Fokussierung, Salienz und Perspektivierung der auszudrückenden Erfahrungen getroffen (vergleiche Langacker 2008b), die sich dann an der sprachlichen Oberfläche in unterschiedlichen lexikalischen beziehungsweise grammatischen Realisierungen niederschlagen.

All diese Konzeptualisierungsprinzipien sind zwar für eine erfolgreiche Kommunikation entscheidend, bleiben jedoch den Sprechern in der Regel verborgen, da sie in der Regel auf den Inhalt fokussiert sind. Diesen Umstand erläutert Langacker (2000: 46) am Beispiel der Brille: Die Brille ist zum größten Teil für die Wahrnehmung der Welt durch den Brillenträger verantwortlich und bestimmt also, was gesehen werden kann. Trotzdem ist der Brillenträger so intensiv auf die externe Situation konzentriert, dass die Brille für ihn praktisch undurchsichtig wird. Im Kontext der Sprachvermittlung erweist es sich aber gerade als sehr hilfreich, die verschiedenen Möglichkeiten der Organisation konzeptuellen Inhalts sichtbar zu machen, die die Brille der Zielsprache anbietet. Da die Konzeptualisierung den Prozess der Formulierung von sprachlichen Nachrichten steuert (vergleiche Levelt, Roelofs & Meyer 1999), kann auch nur die angemessene Konzeptualisierung den Ausgangspunkt für die Grammatikvermittlung darstellen (vergleiche Scheller 2009). Im Folgenden betrachten wir deshalb, welche Prinzipien bei der Veranschaulichung der konzeptuellen Struktur der Grammatik relevant sind.

Salienz

Durch die Salienz heben wir beim Sprechen stets einen Aspekt oder eine Teilstruktur der Szene hervor (vergleiche Langacker 2008a). Die Salienz ist jedoch kein eindimensionales Konstrukt, sondern sie manifestiert sich auf mehreren Ebenen der Versprachlichung. So differenziert Langacker (2008a) zunächst zwischen einer Basis und einem Profil, wobei andere Autoren wie Fillmore (1985) das Begriffspaar concept und frame jeweils für Profil und Basis verwenden. Nach Langacker (2008a) bildet die konzeptuelle Basis die kognitive Domäne, innerhalb derer die Profile eine bestimmte Bedeutung erlangen. Der Unterschied zwischen Basis und Profil lässt sich durch einzelne Konzepte wie zum Beispiel Stuhlbein gut veranschaulichen: Ein Stuhlbein kann zum Beispiel nur auf der konzeptuellen Basis des Konzepts Stuhl als solches verstanden werden. In diesem Fall bildet das Stuhlbein ein konkretes Profil der konzeptuellen Basis Stuhl (vergleiche auch Langacker 2008b: 68f).

Abbildung 2.14:

Profil und Basis (Möbel Ideal 2016)

Auf den ersten Blick haben die Basis-Profil-Beziehungen keinerlei Verbindungen mit der Grammatik, könnte man denken. In Wirklichkeit stellen sie aber ein wichtiges Instrument zur Beschreibung von Wortklassen unter anderen. Die folgenden Graphiken zeigen exemplarisch, wie sich die konzeptuelle Basis der Handlung kaufen je nach Profilierung entweder als verbale Relation mit zwei Argumenten oder als Substantiv konstruieren lässt.

Abbildung 2.15:

Verb (b) und Substantiv (c) als unterschiedliche Profilierungen derselben konzeptuellen Basis (in Anlehnung an Langacker 2007: 436)

Durch die Bildung von Substantiven oder Verben entscheiden wir uns also für ein bestimmtes Profil der Basis und heben gezielt nur einen Teilaspekt der Gesamtszene hervor. So stellen Sie sich bei kaufen immer einen zu kaufenden Gegenstand, einen Käufer und vielleicht auch einen Verkäufer vor. Bei Käufer denken Sie hingegen an das Agens im Kaufgeschehen, während der Verkäufer eher nur implizit vorhanden ist. Diese Profilierungen der Basis in Form eines Verbs und eines Substantivs weisen eine völlig unterschiedliche konzeptuelle Struktur auf, die Langacker (2008a) jeweils anhand der Begriffe Ding und Relation charakterisiert. So werden Substantive in der kognitiven Grammatik als Dinge beschrieben, die aus materieller Substanz bestehen und konzeptuell autonom sowie unabhängig von jedem Ereignis und im (fiktiven) Raum spezifisch situiert sind. Verben stellen hingegen nicht materielle Relationen dar, die lediglich Interaktionen zwischen Dingen (Energietransfer, Bewegung, Kraftausübung, Zustandsveränderung etc.) beschreiben. Verben haben als Relationen weiterhin eine eigene zeitliche Dimensionen und werden in Abhängigkeit mit den Dingen konzeptualisiert. Andere Wortkategorien wie die Adverbien, Präpositionen, Adjektive, Infinitive, Partizipien etc. beschreiben nach Langacker ebenfalls Relationen, die allerdings atemporalen Charakter besitzen. Nehmen wir als Beispiel die Handlung präsentieren. Wenn wir diese Handlung als zeitliche Relation zwischen zwei Dingen ausdrücken möchten, dann bilden wir zum Beispiel den Satz Der neue Chef hat die Ziele für das neue Jahr präsentiert. Möchten wir hingegen die Handlung konzeptuell autonom beschreiben, dann bilden wir zum Beispiel den Satz Die Präsentation der Ziele für nächstes Jahr war sehr langweilig (vergleiche auch Langacker 2008a: 101). Das folgende Diagramm zeigt, wie sich die verschiedenen Wortkategorien in Bezug auf die Unterscheidung Ding und Relation sowie temporal und atemporal klassifizieren lassen:

Abbildung 2.16:

Klassifizierung der Wortkategorien nach Evans & Green (2006: 571)

Die verschiedenen Profilierungsmöglichkeiten einer Sprache bilden keineswegs ein beliebiges Inventar von Sprachmitteln, sondern werden von Sprechern gezielt genutzt, um bestimmte Effekte bei der Fokussierung der Aufmerksamkeit zu erreichen. Nach Talmy werden Informationen, die nominal kodiert sind, als kognitiv salienter wahrgenommen als verbal kodierte Informationen. Auch durch die Wahl von Wörtern offener Klassen (Nomen, Verben) wird eine höhere kognitive Salienz gegenüber Items geschlossener Klassen wie Tempus- oder Genusmarkierungen erreicht (vergleiche Talmy 2008: 29).

Ein weiteres Werkzeug der Salienz ist aus der allgemeinen Wahrnehmung bekannt: Sie haben bestimmt schon mal ein Bild gesehen, auf dem sowohl eine alte Dame als auch eine junge Frau dargestellt sind, wobei sie nicht beide gleichzeitig wahrnehmen können (siehe 2.17). Dieses Salienzprinzip, das auf Erkenntnissen der allgemeinen Wahrnehmungspsychologie beruht, wird Figur-Grund-Prinzip genannt (Wertheimer 1967; Talmy 2008; vergleiche auch trajector und landmark nach Langacker 2008a) und sollte nicht mit dem Begriffspaar Basis-Profil verwechselt werden.

Abbildung 2.17:

Alte Dame und junge Frau (Brillen & Seehilfen 2016)

Dem Figur-Grund-Prinzip zufolge nehmen Menschen stets ein Element aus einer Szene als vordergründig (Figur) und alle anderen Elemente einer Szene als hintergründig (Grund) wahr. In der Grammatik lassen sich durch dieses Salienzprinzip grundlegende Grammatikkategorien wie Subjekt und Objekt beschreiben. Im Beispielsatz Der Kontrolleur hat einen Schwarzfahrer erwischt ist der Kontrolleur die Figur und der Schwarzfahrer der Grund. Auch bei intransitiven Sätzen mit einem Präpositionalobjekt lässt sich eine solche Figur-Grund-Konstellation gut veranschaulichen: Moritz Bleibtreu (Figur) geht in die Talkshow (Grund).

Experiment 1

Sie haben jetzt die Möglichkeit zu testen, wie Figur und Grund tatsächlich wahrgenommen werden. Zu diesem Zweck müssen Sie mindestens drei Personen darum bitten, das folgende Bild in einem Satz zu beschreiben:

Abbildung 2.18:

Figur und Grund (tinypic 2016)

Höchstwahrscheinlich sind die Sätze der verschiedenen Personen nicht identisch. Es gibt aber doch gewisse Ähnlichkeiten in Bezug auf die Bestimmung der Figur und des Grundes. Welches Element wird als Figur gewählt? Durch welche Merkmale, glauben Sie, unterscheidet sich die Figur vom Grund in Bezug auf die Größe und den Bekanntheitsgrad?

Die Figuren einer Szene stellen in der Regel die kleineren, beweglicheren, relevanteren und nicht erwarteten oder bekannten Elemente dar (vergleiche Talmy 2000: 315f). Solche Elemente müssen aber zunächst einmal wahrgenommen werden, bevor sie diese erhöhte Salienz erlangen. Überträgt man das auf die Sprache, werden die Figur durch das Subjekt und der Grund durch das Objekt beziehungsweise durch das Präpositionalobjekt realisiert. Syntaktische Rollen in der Sprache lassen sich also nicht nur anhand formeller Merkmale (zum Beispiel Subjekt-Verb-Kongruenz, Deklination etc.) erklären, sondern können anhand von Prinzipien aus der allgemeinen menschlichen Wahrnehmung konzeptuell begründet werden. Dabei ist anzunehmen, dass die Bewusstmachung dieser Prinzipien im Unterricht den Lernern einen viel leichteren Zugang zur Sprache bietet als die vorwiegend logisch-formellen Beschreibungsparameter. Durch das Einbeziehen dieser Erfahrungen können syntagmatische Beziehungen innerhalb von Sätzen auch sprachübergreifend dargestellt werden. Mit dem Figur-Grund-Prinzip lässt sich beispielweise die Subjektfunktion auch in Sprachen wie dem Chinesischen oder Japanischen beschreiben, in denen keine Subjekt-Verb-Kongruenz besteht (die Konjugation der finiten Verbform bleibt gleich unabhängig von Person und Numerus des Subjekts) und eine Charakterisierung des Subjekts nach formellen Kriterien schwer möglich ist. Die folgenden Beispiele aus Roche & Sun˜er (2014: 129) zeigen, welche Salienzeffekte das Figur-Grund-Prinzip in weiteren grammatischen Phänomenen bewirken kann:


(1a)Der Toaster steht hinter der Kaffeemaschine.
(1b)Die Kaffeemaschine steht vor dem Toaster.
(2a)George Clooney gefällt mir.
(2b)Ich mag George Clooney.
(3a)Der Trainer wechselt Lewandowski aus.
(3b)Lewandowski wird vom Trainer ausgewechselt.
(4a)Er hat Krapfen gekauft, bevor er zur Arbeit gegangen ist.
(4b)Nachdem er Krapfen gekauft hat, ist er zur Arbeit gegangen.

Die Autoren fassen die Salienzeffekte folgendermaßen zusammen:

 

Bei (1a) und (1b) werden unterschiedliche Zielbereiche oder Referenzpunkte verwendet, um die jeweilige Figur in der Szene räumlich zu situieren. Die Beispielsätze in (2a) und (2b) versprachlichen beide zwar eine Relation zwischen einem Stimulus George Clooney und einem Experiencer ich, stellen jedoch, durch die Verwendung unterschiedlicher Verben (gefallen und mögen), jeweils den Stimulus und den Experiencer in den Vordergrund. (3a) und (3b) beschreiben eine transitive Handlung mit einer unterschiedlichen Fokussierung der Partizipanten: Bei (3a) steht das Agens Der Trainer durch die Verwendung des Aktivs im Vordergrund, während das Passiv in (3b) eine Deagentivierung und damit die stärkere Fokussierung des Patiens Lewandowski bewirkt. Schließlich werden in (4a) und (4b) zwei Handlungen durch die Verwendungen zweier temporaler Konnektoren unterschiedlich fokussiert: Während bei (4a) der Kauf der Krapfen im Vordergrund steht und in Bezug auf die (Hinter)Grundsituation zeitlich situiert wird, ist es bei (4b) umgekehrt.

Perspektivierung

Durch unser »mentales Auge« können wir die Erfahrungen und Szenen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Diese Möglichkeiten der Konzeptualisierung, die sich wiederum in unterschiedlichen sprachlichen Realisierungen niederschlagen, fasst Talmy als Perspektivierung auf (vergleiche auch vantage point bei Langacker 2008b: 69; vergleiche Talmy 2000: 217; Langacker 2008a: 73). Im Unterschied zur Alltagssprache wird der Begriff »Perspektivierung« im Bereich der kognitiven Grammatik (Langacker 2008a & Talmy 2000) zur Bezeichnung von drei spezifischen Dimensionen der Konzeptualisierung verwendet. Talmy unterscheidet die interne und die externe Perspektive, so zum Beispiel bei Die Tür öffnete sich und er kam ins Zimmer (intern) und Er öffnete die Tür und ging ins Zimmer (extern). Dabei fungiert die Position des Sprechers in Bezug auf die wahrgenommene Szene als Origo (vergleiche Talmy 2000: 69; vergleiche auch Langacker 2008a: 75–77). Dieses Prinzip erklärt zum Beispiel die unterschiedlichen Perspektiven, die die Sprecher durch die Nutzung des progressiven oder des nicht-progressiven Aspekts einnehmen können (vergleiche Radden & Dirven 2007: 177; Niemeier & Reif 2008; Reif 2012). Mit dem nicht-progressiven Aspekt wird eine Art globale beziehungsweise externe Perspektive eingenommen, die bei perfektiven Verben die Betrachtung des Anfangs- und/oder des Endpunkts eines Prozesses ermöglicht (zum Beispiel Er schläft ein). Mit dem progressiven Aspekt wird hingegen eine lokale beziehungsweise interne Perspektive eingenommen, die auf eine einzelne Komponente des Prozesses fokussiert und daher auch Anfangs- und Endpunkt des Prozesses ausblendet (zum Beispiel Er ist am Einschlafen):

Abbildung 2.19:

Bounded event (links) und unbounded event (rechts) (Radden & Dirven 2007: 178)

Eine zweite Dimension der Perspektivierung nach Talmy betrifft die mitlaufende und die feste Kameraperspektive. So wäre im Satz Auf der Zugstrecke sind mehrere Tunnel eine feste Kameraperspektive anzunehmen, während im Satz Auf der Zugstrecke fahren wir ab und an durch einen Tunnel eine mitlaufende Kameraperspektive eingenommen wird. Eine weitere Möglichkeit der Kameraperspektive stellt nach Talmy die wechselnde Betrachtung von Ereignissen an verschiedenen Orten dar, so zum Beispiel im Satz Der Zug fährt durch den Wald, dann am See vorbei.

Schließlich beschreibt Talmy eine dritte Dimension der Perspektivierung, die sich bei der Lokalisierung von Objekten ausdrückt. Die Beispielsätze Hinter dem Baum steht ein Radar oder Vor dem Baum steht ein Radar könnten sich durchaus auf dieselbe Situation beziehen. Die Situierung des Radars nimmt einen anderen Bezugspunkt ein. Dabei wird ersichtlich, dass neben der Figur Radar und dem Grund Baum ein weiterer Grund erforderlich ist: Die sogenannte secondary landmark, die die Objekte im Raum situiert (nach Langacker 2000). Wird der Sprecher als Bezugspunkt genommen, so bestehen nach Radden (2011: 17ff) zwei weitere Möglichkeiten für die Lokalisierung von Objekten: Man spricht von einer ego-aligned Perspektive, wenn die Blickrichtung des Sprechers nach hinten und nach vorne als Bezugssystem zugrunde gelegt wird; werden die Objekte relativ zur gegenläufigen Blickrichtung des Zuhörers im Raum lokalisiert, spricht man von einer ego-opposed Perspektive. Neben diesen zwei subjektzentrierten Perspektiven existieren nach Levinson (2003: 55) auch die objektzentrierte Perspektive und die absolute Perspektive. Die objektzentrierte Perspektive ist dann möglich, wenn ein Referenzobjekt eine intrinsische vordere und hintere Seite hat. So lässt sich zum Beispiel die vordere und die hintere Seite eines Autos leicht bestimmen, während das bei einer Kugel unmöglich ist. Bei der absoluten Perspektive geht es darum, ein Orientierungssystem aus der Umwelt als Grundlage zu nehmen, welches unverändert bleibt, wie zum Beispiel die Himmelsrichtungen.

Experiment 2

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Sardinien (Italien) und möchten mit dem Auto zum Strand fahren. Nachdem Sie 30 Minuten lang nach einer Parklücke gesucht haben, werden Sie endlich fündig (siehe Foto). Sie sind sich zwar nicht ganz sicher, ob man dort parken darf, aber offenbar haben es andere auch so gemacht. Wie sagen Sie aus einer subjektzentrierten Perspektive dem Fahrer Bescheid, er soll zwischen dem schwarzen und dem grauen Auto parken? Und wie wäre es aus einer objektzentrierten Perspektive? Nehmen Sie in beiden Fällen das schwarze Auto als Referenzobjekt, um die Parklücke zu situieren?

Abbildung 2.20:

Perspektivierung (sardinien.com 2016)

Kraft-Dynamik

Das Vorstellungssystem der Kraft-Dynamik von Talmy (2000) wurde bisher als Grundlage zur Erklärung zahlreicher Aspekte der Sprache angewandt. Einen besonderen Schwerpunkt des Ansatzes bildete jedoch die Nutzung kinästhetischer Erfahrungen (körperliche Erfahrungen in Bezug auf Kraft und Bewegung) sowie somatosensorischer Erfahrungen (körperliche Erfahrungen in Bezug auf Druck und Schmerz) zur Beschreibung der Kausalität (vergleiche Evans & Green 2006: 199). Die Erklärung der konzeptuellen Struktur bestimmter Sprachbereiche anhand des Kraft-Dynamik-Ansatzes erklären Roche und Suñer (2014: 131) folgendermaßen:

So kann der Satz Das Flugzeug stürzte ins Meer sowohl in Bezug auf die verursachende Kraft ergänzt werden Das Flugzeug stürzte ins Meer wegen eines Anfängerfehlers des Piloten als auch in Bezug auf die dynamische Opposition Das Flugzeug stürzte ins Meer trotz des starken Auftriebs. Diese Interaktionen zwischen Kraft und Dynamik überträgt Talmy unter anderem auch auf psychologische und soziale Domänen. So unterscheidet sich der eher neutrale Satz Peter öffnete die Tür beträchtlich vom Satz Peter wurde dazu gezwungen die Tür zu öffnen, und zwar in der sozialen Kraft, die auf ihn ausgeübt wird. Peter erfüllt in diesem Satz die Funktion des Agonisten (in gewisser Weise der »Protagonist«), der eine Tendenz zum Ruhezustand hat und daher gegen gewisse Kräfte (Antagonisten), die die Fortbewegung von Peter bewirken wollen, resistent ist (vergleiche Talmy 2000: 413).

Auch die konzeptuelle Motiviertheit von Konnektoren und Präpositionen (konzessive, kausale etc.) und Modalverben heranziehen, die sozialen und psycho-soziale Beziehungen ausdrücken, lässt sich anhand der Kraft-Dynamik-Verhältnisse transparent machen. Im Beispielsatz Pep ging trotz der Niederlage gegen Dortmund auf das Oktoberfest drückt die konzessive Präposition trotz folgendes kraft-dynamisches Verhältnis aus: Die Tendenz zur Fortbewegung des Agonisten Schweinsteiger ist stärker als die Gegenkraft vom Antagonisten die Niederlage gegen Dortmund, so dass die Fortbewegung auf das Oktoberfest gehen trotz des Widerstands nicht verhindert werden kann. Im Gegensatz dazu drückt die kausale Präposition wegen im Beispielsatz Wegen des Streiks fuhr der Garmischer Ski-Express heute nicht ein komplett anderes kraft-dynamisches Verhältnis aus: Der Antagonist der Streik konnte durch entsprechende Gegenkraft die Fortbewegung des Agonisten der Garmischer Ski-Express verhindern.

Im Beispielsatz Pep ging trotz der Niederlage gegen Dortmund auf das Oktoberfest drückt die konzessive Präposition trotz folgendes kraft-dynamisches Verhältnis aus: Die Tendenz zur Fortbewegung des Agonisten Schweinsteiger ist stärker als die Gegenkraft vom Antagonisten die Niederlage gegen Dortmund, so dass die Fortbewegung auf das Oktoberfest gehen trotz des Widerstands nicht verhindert werden kann. Im Gegensatz dazu drückt die kausale Präposition wegen im Beispielsatz Wegen des Streiks fuhr der Garmischer Ski-Express heute nicht ein komplett anderes kraft-dynamisches Verhältnis aus: Der Antagonist der Streik konnte durch entsprechende Gegenkraft die Fortbewegung des Agonisten der Garmischer Ski-Express verhindern.

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