Mein Bruder, Muhammad Ali

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Einfach gesagt: Es fiel mir immer leicht, mit Mädchen zu sprechen. Ja, das klingt vielleicht überraschend, aber als wir Teenager waren, interessierten sich die Mädchen mehr für mich als für meinen Bruder. Und ich hatte bereits lange vor ihm Freundinnen. Die Mädchen in der Nachbarschaft und in der Schule kannten uns beide, und Muhammad himmelte sie still aus der Ferne an, denn es fehlte ihm das Selbstvertrauen, sie anzusprechen. Wenn es darum ging, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würden, war er wie gelähmt. Egal wie sehr er sich bemühte, seine Schüchternheit zu verstecken, sie war immer zu bemerken. Trotz seines typisch dreisten Verhaltens und seines entwaffnenden Lächelns war ein Zurücklächeln alles, was er bekam, zumindest in diesen prägenden Jahren unserer Jugend. Es klingt vielleicht recht eigenartig, aber damals sahen einige Mädchen meinen Bruder als das, was man heute als „Nerd“ oder Sonderling bezeichnet – zumindest sagten mir das einige, mit denen ich sprach, denn er spielte kein Football oder Basketball, die Sportarten für „richtige“ Männer. Es lag definitiv nicht an seinem Aussehen. Es hatte mehr mit seiner Persönlichkeit zu tun, die hinter dem draufgängerischen Äußeren mit ihren eigenen Stolpersteinen zu kämpfen hatte. Seine Versuche, dies zu kompensieren, machten die Situation meist noch schlimmer für ihn. So lief er neben dem Schulbus her und rief die Namen von Mädchen und Jungen, und die meisten Mädchen versanken in ihren Sitzen und schämten sich mehr für ihn als für sich selbst.

Muhammad konnte es nicht leiden, dass ich die Aufmerksamkeit der Mädchen auf mich zog, und damals war dies vielleicht das Einzige, was einen Keil zwischen uns als Brüder hätte treiben können. Auf dem Heimweg von der Schule, zum Beispiel, stieg ich meist früher aus dem Bus, um meine Freundin nach Hause zu begleiten und noch eine Weile bei ihr abzuhängen. Die folgende Szene spielte sich nicht nur einmal ab: Meine Freundin und ich hingen also bei ihr zu Hause ab, bis wir ein Klopfen an der Tür hörten. Als wir öffneten, stand da mein Bruder mit unschuldigem Gesicht.

„Hey, Rudy, Mom sagt, du sollst sofort nach Hause kommen oder es gibt Probleme“, war der Standardsatz. „Sie hat mir gesagt, ich soll dich holen gehen und du sollst dich sofort auf den Weg machen!“

Da ich Angst davor hatte, Probleme zu Hause zu bekommen, entschuldigte ich mich bei meiner Freundin, rannte so schnell ich konnte die etwa vier Häuserblocks nach Hause und dachte immer darüber nach, weswegen ich Probleme bekommen sollte.

„Was ist denn los, Mom?“, fragte ich sofort, als ich ins Haus kam, nur um in das ahnungslose Gesicht unserer Mutter zu blicken, die ganz überrascht schien, dass ich da war, und keine Ahnung hatte, wovon ich sprach.

Immer wieder und wieder fiel ich auf Muhammads Masche herein, und er wiederholte diese Scharade, wann auch immer er sich danach fühlte. Ich habe ihn mehr als einmal beschuldigt, das alles nur aus Eifersucht zu tun. Ein paarmal stritten wir auch deswegen. Das war die einzige Zeit in unserer Jugend, in der mich mein Bruder wirklich zornig machte. Das war kein Spiel, in dem er mich schlagen konnte, und es muss ihn wirklich geschmerzt haben, seinem kleinen Bruder dabei zuzusehen, wie er ihn in einer Sache, die er nicht so ganz verstand, so ausstach. Trotzdem, egal wie hitzig unsere verbalen Auseinandersetzungen waren, es gab keine Phase während unserer gesamten Kindheit, in der wir uns deswegen geprügelt hätten. Kein Mädchen konnte unser Verhältnis zueinander kaputt machen.


Ob wir nun hinter Mädchen herjagten, Touch Football spielten oder uns selbst Spiele ausdachten – unsere Eltern hatten eine goldene Regel, die mit aller Strenge durchgesetzt wurde und die lautete, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein mussten. Das war nichts Ungewöhnliches zu jener Zeit, als Kinder meist frühmorgens das Haus verließen und den ganzen Tag auf der Straße verbrachten, wo sie allerlei Unfug trieben, bevor sie bei Sonnenuntergang wieder nach Hause zurückkehrten. Die meisten Leute in unserem Viertel konnten sich den Luxus einer Armbanduhr nicht leisten. Mein Vater hatte allerdings eine einfache Lösung für das Problem: „Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wie spät es ist. Schau lieber, dass du wieder zu Hause bist, bevor die Straßenbeleuchtung angeht, sonst gibt’s Saures.“

Also spielte sich immer das Gleiche ab. Sobald es dunkel wurde, ging die Straßenbeleuchtung an, und wir liefen alle nach Hause. Doch nicht immer ging es sich rechtzeitig aus. Wenn wir zu spät kamen, wurden wir nach guter alter Tradition mit einer Tracht Prügel im Badezimmer bestraft. Muhammad ging immer als Erster, während ich vor der Tür wartete, bis Vater mich hineinrief, nachdem er mit meinem Bruder fertig war. Muhammad hatte nichts für Vaters harte Bestrafung für unser Zuspätkommen und andere Vergehen übrig, doch der hatte seine eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu regeln waren. Man kann sagen, Vater nahm seine Pflicht, uns Grenzen zu setzen, sehr ernst. Diese Art, wie er seine Stimme erhob und einen gemeinen Blick aufsetzte, der sich über sein Gesicht zog und die bevorstehende Bestrafung ankündigte.

Meist sah er, wie wir aus Furcht vor der Bestrafung schon ganz steif dastanden, doch da war es bereits zu spät. Regeln waren dazu da, um befolgt zu werden, und Vater stellte sicher, dass wir sie auch ernst nahmen. Vielleicht war es das und einige andere Dinge, warum Muhammad am Ende seiner Teenagerjahre auf Distanz zu unserem Vater ging. Damit meine ich nicht, dass sich die beiden zerstritten hätten, aber dieses spezielle Verhältnis, das sich zwischen Vätern und Söhnen oft bildet, war bereits verloren, bevor es wachsen konnte.

Gegenteilig zu dem, was so einige Biografen schrieben, würde ich niemals sagen, dass unsere Kindheit in Louisville von häuslicher Gewalt geprägt war. Erstens tat Vater niemandem absichtlich und grundlos weh. Die meiste Zeit über dachten Muhammad und ich nicht einmal an seine Vorstellung von Disziplin, denn wir brachen die Regeln immer wieder aufs Neue und verschwendeten keinen Gedanken an die Konsequenzen. Natürlich disziplinierte unser Vater uns hin und wieder mit einer Tracht Prügel, doch in den 1940er- und 1950er-Jahren war das ein weithin akzeptiertes und als notwendig angesehenes Mittel. Kindern den Hintern mit dem Gürtel zu versohlen, war sicherlich nichts Außergewöhnliches in der afroamerikanischen Gemeinde, vor allem wenn das Brechen von Regeln ernste Konsequenzen haben konnte. Im Nachhinein erkannte Muhammad, dass Vater es nur gut meinte, und akzeptierte, dass es nur zu unserem Besten gewesen war. Denn es war wirklich gefährlich, spät abends noch unterwegs zu sein, vor allem in unserer Gegend, und egal was er sich sonst noch dabei dachte, unser Vater wollte nicht, dass seine Kinder in die üblen Dinge, die nachts auf den Straßen passierten, verwickelt wurden. Schon damals waren Drogen ein Problem, genauso wie Raubüberfälle, Schlägereien und brutale Messerstechereien, und als Vater zweier schwarzer Jungs hatte er noch viel mehr Sorgen, die er sich machen musste. In den 1950er-Jahren gerieten in einigen Teilen der USA die Vorurteile Farbigen gegenüber völlig außer Kontrolle. Die Gewalt, die von verschiedenen rassistischen Gruppierungen angezettelt wurde, war speziell in den Südstaaten weitverbreitet, und Louisville war nicht weit davon entfernt. Als Jugendlichen wurde es Muhammad und mir schnell bewusst, dass die Tatsache, dass wir schwarz waren, uns anders machte. In unserer Stadt versuchten die Schwarzen, auf ihrer Seite zu bleiben und sich sozusagen in Selbstisolation zu begeben. Wir hatten so gut wie keine Probleme in unserem Viertel, doch in anderen Gegenden wurde man immer mit seiner Hautfarbe konfrontiert. Die Lage war sehr angespannt, und Schwierigkeiten lauerten an jeder Ecke.

Vor allem eine Geschichte zeichnet ein gutes Bild, wie Diskriminierung in unserer Jugend als etwas Alltägliches akzeptiert wurde. Als Muhammad acht war, nahm Mutter ihn mit in die Stadt. Als sie wieder nach Hause kamen, liefen Tränen über seine Wangen. Es stellte sich heraus, dass er durstig gewesen und vor einem Laden gestanden war und weinend um Wasser gebeten hatte – nur, dass der Laden Farbige nicht bediente. Mutter nahm ihn bei der Hand, ging in den Laden und bat die Verkäuferin um ein Glas Wasser, doch die Frau – so erzählte Mutter später – hatte Angst. Sie erzählte unserer Mutter, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn sie „Neger“ bediene. Da stand also ein kleiner, schluchzender Junge, der weinte und nur um ein wenig Wasser bat, um seinen Durst zu stillen, und seine Mutter konnte ihm nicht einmal Wasser in einem Laden in seiner Heimatstadt kaufen. Der Vorfall gipfelte darin, dass ein Wachmann zu Mutter und Muhammad ging und sie aufforderte, den Laden zu verlassen, damit die Situation nicht noch weiter eskaliere. Mutter vermied Konfrontationen und machte auch kein großes Aufheben darum, doch dieser und andere Vorfälle erinnerten meinen Bruder und mich permanent daran, dass wir im Prinzip nur zweitklassige Bürger in unserer eigenen Stadt waren.

Unsere Hautfarbe bestimmte, wo wir hin essen gehen konnten, wo unser Vater arbeiten konnte, in welchen Parks wir spielen durften und wie wir behandelt wurden, wenn wir gegen das Gesetz verstießen. Es war etwas, das Muhammad und ich lange mit uns herumschleppten. Obwohl Mutter für uns beide beinahe wie eine Weiße aussah, wurde sie im Alltag wie eine Farbige behandelt, und selbst als wir uns daran gewöhnt hatten, konnten wir es nie akzeptieren. Vor allem Muhammad fragte unsere Eltern oft, warum Menschen mit schwarzer Hautfarbe so viel Leid ertragen mussten.

Es war zum Teil dieses politische Klima, das – selbst als wir bereits Teenager waren – dafür verantwortlich war, dass Muhammad und ich uns allein nie weit weg vom West End begaben. Wir waren von unseren Eltern und anderen Leuten aus unserer Community gewarnt worden und wussten, was uns unter Umständen in einer Stadt zustoßen konnte, die so weitgehend „aufgeklärt“ war wie Louisville. Die einzigen Schwierigkeiten, in die wir gerieten, waren weiter weg vom West End – wenn wir uns in den falschen Teil der Stadt, dorthin, wo nur Weiße lebten, wagten. Trotzdem, die Tatsache, dass wir so eingeschränkt waren, war ein Stachel, der sehr tief saß. Es kam nicht selten vor, dass einige weiße Jungs in ihren Autos vorbeifuhren und rassistische Beleidigungen brüllten. „Hey, Nigger, was machst du hier?“, riefen sie uns zu und versuchten, uns damit zu provozieren und in eine Situation zu bringen, die schnell gefährlich werden konnte. Natürlich machte es uns was aus, doch mein Bruder und ich taten unser Bestes, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Schließlich waren wir uns der brutalen Schlägerattacken und Lynchmorde, die in Gegenden wie Mississippi noch immer stattfanden, bewusst. Der tiefe Süden war zwar eine andere Welt, doch es war eine Welt, die uns unsere Eltern immer wieder in Erinnerung riefen, indem sie uns Bilder des entstellten Gesichts von Emmet Till zeigten, dessen Mörder freigesprochen wurden, und uns damit vor Augen hielten, wie es uns ergehen könnte, wenn wir aus Hass und Wut zurückschlagen würden.

 

Trotz all dieser Spannungen und auch wenn er seiner eigenen Frustration immer wieder einmal Luft verschaffen musste, hat Muhammad nie jemanden schikaniert. Das kann ich bezeugen. Ja, er war schon auch ein Großmaul, und er hatte definitiv die körperlichen Voraussetzungen und das Können, seinen Worte Nachdruck zu verleihen, aber meines Wissens nach gab es niemanden in unserer Schule oder Gegend, der jemals behauptet hätte, dass mein Bruder ein gemeiner Kerl gewesen wäre. Ich habe niemals gesehen, dass er jemandem etwas getan hätte, der es nicht selbst herausforderte. Wir waren so eng miteinander, dass man sein letztes Geld darauf verwetten hätte können, dass ich mit von der Partie war, egal wohin er ging. Unsere Eltern waren ziemlich deutlich, als sie meinten, dass wir immer aufeinander achtgeben müssten, wenn sie nicht dabei waren, egal wohin wir gingen. Muhammad war stolz darauf, dass ich sein kleiner Bruder war. Er war mein Beschützer, und alle Kinder, die uns kannten, wussten genau, wie nahe wir uns standen. Sie wussten, dass sie sich nicht einfach mit einem Bruder anlegen konnten. Nein, da musstest du dich schon mit beiden anlegen. Wenn es jemand auf Muhammad abgesehen hatte oder versuchte, sich mit ihm anzulegen, war ich sofort zur Stelle und verteidigte ihn wie ein Tiger, auch wenn ich wusste, dass ich den Kampf verlieren würde. Man konnte nicht gegen meinen Bruder kämpfen, ohne dass ich mich einmischen würde, und Muhammad ging dazwischen, wenn jemand versuchte, mir etwas zu tun. Natürlich wurden wir so in einige Raufereien verwickelt, und als Muhammad dann zwölf war, erkannten wir beide, dass wir anscheinend ein Talent fürs Kämpfen hatten.

DER BEGINN EINES TRAUMS

Es war im späten Oktober 1954, als das Fahrrad meines Bruders gestohlen wurde.

Das Rad, ein weiß-rotes Schwinn,

war ein Weihnachtsgeschenk gewesen und sollte eigentlich für uns beide sein, doch mein Bruder fuhr weit öfter damit als ich. Damals fuhren Kinder überall mit ihren Rädern hin – zum Laden ans Eck, aber auch zusammen mit Freunden durch die Stadt auf der Suche nach Abenteuern aller Art. An jenem Tag hatten wir erfahren, dass eine Heimmesse in der 4th Street im Zentrum von Louisville stattfand, und Muhammad und ich sowie ein weiterer Freund machten uns auf den Weg dorthin, um uns das Treiben anzusehen. Wir stellten unsere Fahrräder an einem Geländer neben dem Ausstellungsgebäude ab, wo wir dachten, dass sie sicher wären, und gingen dann hinein, um einen vergnüglichen Nachmittag zu verbringen. Und wir hatten auch unseren Spaß. Es gab Stände mit Haushaltswaren und Kleidung, aber auch Kioske, die Essen und Snacks anboten, sowie schicke Autos. Zur Unterhaltung der Besucher, die mit ihren Familien gekommen waren, gab es dazu auch Livemusik.

Nach etwa drei Stunden beschlossen wir, wieder zu gehen und heimzufahren. Wie schon erwähnt, war es bei uns zu Hause eine der wichtigsten Regeln, rechtzeitig wieder daheim zu sein. Wir gingen also zurück zu unseren Fahrrädern, doch als wir dort ankamen, waren sie verschwunden – gestohlen. Geschockt und aufgebracht begann mein Bruder zu weinen. Einerseits war es ein Weihnachtsgeschenk unserer Eltern, doch vielmehr hatte Muhammad Angst davor, dass uns unser Vater eine ordentliche Tracht Prügel erteilen würde, wenn er von unserer Nachlässigkeit erfuhr. Als dann auch andere Leute aus dem Gebäude kamen, schluckten wir unsere Tränen hinunter und fragten, wo wir einen Polizisten finden könnten. Ein Mann zeigte auf ein Gebäude nebenan, und so machten wir uns auf den Weg, um den Diebstahl zu melden.

Noch immer mit Tränen in den Augen betraten wir einen großen Kellerraum, und das Erste, was wir hörten, waren dumpfe Schläge und Ächzen sowie das Geräusch von Sprungseilen, die auf den Boden klatschten, und von Fäusten in Boxhandschuhen, die auf schwere Sandsäcke einschlugen. In dem Raum befand sich etwa ein halbes Dutzend Männer und ältere Burschen, die verschiedene Boxübungen machten. Das war keine Polizeistation, sondern ein Fitnessstudio, doch auf der anderen Seite des Raums stand ein Mann mittleren Alters in einer Polizeiuniform.

Sein Name war Joe Martin. Er war gerade dabei, einigen Burschen die Feinheiten einer guten Boxstellung zu erklären, als wir zu ihm hinübergingen. Muhammad hatte sich nun gesammelt und sprach ihn an: „Entschuldigung, mein Herr, wir waren gerade oben bei der Ausstellung, und als wir wieder rauskamen und zu unseren Fahrrädern gingen, waren sie nicht mehr da. Jemand hat sie gestohlen. Können Sie uns vielleicht helfen, sie wiederzubekommen?“

Martin, der wie ein Gentleman aussah, nahm die Beschreibung der gestohlenen Räder auf und sagte uns, er würde eine Anzeige schreiben. Allerdings ließ er uns nicht gehen, ohne für sich selbst Werbung zu machen: „Übrigens“, sagte er nebenbei, als der offizielle Teil erledigt war, „warum kommt ihr beiden Jungs nicht morgen noch einmal vorbei, sagen wir gegen sechs Uhr abends, dann könnt ihr boxen lernen.“

Plötzlich hatte Muhammad, der noch immer ganz verweint aussah, dieses herausfordernde Funkeln in den Augen und erklärte diesem imposanten Polizisten, dass er dem Dieb eine ordentliche Abreibung verpassen würde, wenn er ihn zu fassen bekäme. Martin, der, wie wir mit der Zeit lernen sollten, ein sehr geduldiger Mann war, hörte sich den Schwall an Drohungen an, bevor er meinem Bruder vorschlug, er solle zuerst lieber kämpfen lernen, vor allem boxen, bevor er überhaupt über so etwas nachdenken könnte. Wir wussten nur wenig über das Boxen und hatten uns nie ernsthaft überlegt, diesen Sport zu betreiben, doch wie sich herausstellen sollte, war Muhammad so verzaubert von dem, was er da sah, von dem Geruch und der Atmosphäre in der Boxhalle, dass er darüber beinahe sein Fahrrad vergaß. Martin hatte die Anzeige aufgenommen und wiederholte noch einmal die Öffnungszeiten des Boxstudios und gab Muhammad ein Mitgliedsformular mit nach Hause. Noch immer um den Verlust seines Fahrrads besorgt, aber ganz aufgeregt, diesen Sport einmal auszuprobieren, nahm mein Bruder das Stück Papier freudig entgegen.

Um es gleich vorwegzunehmen – das Fahrrad tauchte nicht mehr auf. Was allerdings etwas überraschend war, dass unsere Eltern Verständnis zeigten, als wir ihnen von dem Diebstahl erzählten, und unser Vater unsere Nachlässigkeit ignorierte. Das Interesse meines Bruders am Boxen bestand allerdings weiter, und so wurde er Mitglied in Joe Martins Boxstudio, und ich folgte ihm, so wie immer.

Was die meisten Leute nicht wissen, ist, dass auch einer unserer jüngeren Cousins ein Boxer war. Er boxte bereits lange, bevor wir damit begannen. Noch vor Martins Angebot hatte er bereitwillig angeboten, Muhammad das Boxen beizubringen, denn er wusste um das Talent meines Bruders, in Schwierigkeiten zu geraten, und wollte, dass er sich verteidigen könnte, wenn es zu Auseinandersetzungen mit anderen Kindern käme. Es war auch unser Cousin, der uns anfangs ins Boxstudio begleitete und dafür sorgte, dass wir unser Interesse am Boxen nicht verloren und uns nicht durch irgendwelche Kindereien ablenken ließen. Auch wenn unser Cousin bestrebt war, Muhammad zum Boxen zu bringen, so war er selbst kein besonders guter Boxer und gab den Sport schließlich auf. Mein Bruder und ich blieben aber weiter dabei.

Ich erinnere mich noch deutlich an Muhammads ersten Tag im Studio. Er sprang sofort ins kalte Wasser und stieg mit einem älteren Jungen in den Ring, da er dachte, er könne locker mit ihm mithalten, auch ohne Boxerfahrung. Doch mein Bruder brauchte keine Minute, um festzustellen, dass es nichts half, einfach wild um sich zu schlagen. Muhammad versuchte alles, um den anderen Jungen k. o. zu schlagen. Doch die überlegene Erfahrung seines Partners und dessen Schlagkraft bescherten Muhammad einige Sterne vor den Augen und eine blutige Nase. Martin gefiel die Begeisterung meines Bruders – dieser erste, schiefgegangene Ausflug in die sogenannte „süße Wissenschaft“ zeigte die Leidenschaft und das Herz, das mein Bruder besaß.

In Martins Boxstudio, dem Columbia Gym, trainierten sowohl schwarze als auch weiße Boxer unter einem Dach. Trotz der Rassenprobleme in Louisville zu dieser Zeit brachte der Boxsport Menschen unterschiedlicher Hautfarbe auf eine Art und Weise zusammen, die es sonst nur selten wo gab. In diesem Keller wurden alle gleich behandelt und trainierten unvoreingenommen miteinander. Als Muhammad in Martins Studio trainierte, zog er die Aufmerksamkeit eines Boxtrainers namens Fred Stoner auf sich. Stoner hatte selbst ein Boxstudio auf der anderen Seite der Stadt, wo eigentlich nur farbige Boxer trainierten. Auch wenn Muhammad loyal zu Martin war, so waren mein Bruder und ich bei unserem ersten Turnier, an dem wir teilnahmen, sehr von Stoners Schützlingen beeindruckt – ihre Schuhe und Shorts passten zu ihren Mänteln, und überhaupt sahen sie so aus, als ob gut für sie gesorgt wurde.

Trotzdem wollte Muhammad sein Verhältnis zu Martin nicht belasten, und so fand er einen Weg, mit beiden zu arbeiten – ohne dass einer der beiden etwas davon mitbekam. Wie üblich folgte ich meinem Bruder – etwas, in dem ich damals bereits sehr geübt war. Ich überließ Muhammad die Führung und klebte an ihm wie ein Magnet. Wir trainierten am frühen Abend zusammen in Martins Studio und fuhren dann in Stoners Keller für noch mehr körperliche und mentale Torturen. Aber es machte sich bezahlt. Jeder Trainer hat so seine Eigenarten, und verschiedene Stile und Tricks zu lernen, war am Anfang sehr hilfreich für unsere Entwicklung.

Meine Größe und Stärke und Muhammads schnelle boxerische Entwicklung halfen uns dabei, rasch die Rangliste in beiden Studios hochzuklettern. Wir trainierten beide sehr hart, doch ich muss zugeben, dass meine Selbstdisziplin im Vergleich zu der meines Bruders zu wünschen übrig ließ. Boxen wurde zu Muhammads Lebensinhalt: Er rannte neben dem Schulbus her und verzichtete auf Softdrinks in seinem Streben nach Erfolg. Ich machte mit, denn er war mein Bruder, und ich hing mit ihm ab, aber seine Leidenschaft fürs Boxen war um einiges stärker als meine. Er wollte es wirklich bis ganz oben an die Spitze schaffen und war gewillt, die nötigen Opfer dafür zu bringen. Er verschlang alles, was mit Boxen zu tun hatte. Er hatte sich in die „süße Wissenschaft“ verliebt und prahlte vor mir damit, wie er der Allergrößte sein und damit das Leben unserer Familie verändern würde. Das spielte von Anfang an mit. Muhammad, dem die Geldprobleme unserer Familie immer bewusst waren, wollte von Anfang an berühmt werden.

Dieser Traum vom vielen Geld sollte später einmal beinahe ironisch erscheinen – denn als er es schließlich zu Reichtum gebracht hatte, war ihm das alles ziemlich egal, und er verschenkte sein Geld, so als ob Reichtum etwas Unanständiges wäre. Doch in jener Zeit waren das Streben nach Reichtum und der Aufstieg unserer Familie aus der Armut eine wichtige Motivation für meinen Bruder. Andererseits, welcher Teenager wäre nicht davon inspiriert, ein Sportheld zu werden, berühmt zu sein und so viel Geld zu haben, wie er wollte? Meine Motivation war mehr das Geld und der Ruhm als das Streben nach Perfektion.


Es dauerte nicht lange, bis wir regelmäßig an Wettkämpfen teilnahmen. Die anderen Kinder in der Schule wussten, dass wir boxten, denn sie sahen uns im lokalen Fernsehen in der Sendung Tomorrow’s Champions, die Amateurkämpfe übertrug. Für jeden Kampf, die meistens von Joe Martin organisiert wurden, bekamen wir vier Dollar. Wie sich herausstellte, verfolgten auch die Leute aus der Nachbarschaft unsere Karriere als Amateurboxer, und nach nur wenigen Kämpfen waren wir so etwas wie lokale Promis in unserer kleinen Welt – speziell in der afroamerikanischen Community in der Umgebung. Was uns allerdings mehr überraschte, war die Tatsache, dass weiße Kinder, mit denen wir Kontakt hatten, sich nun freundlicher gegenüber Muhammad und mir verhielten, da sie wussten, wie beliebt wir waren. Als weißes Kind mit Vorurteilen warst du damals trotzdem beeindruckt, wenn du über Muhammad gelesen hast oder ihn kämpfen sahst.

 

„Hey, ich habe deinen Kampf gestern Abend im Fernsehen gesehen“, sagten die Kinder zu ihm auf der Straße, die gleichen Kinder, die ein oder zwei Jahre davor nicht einmal in unsere Richtung geblickt hatten.

Dadurch kam mein Bruder schon früh auf den Geschmack von Ruhm, lange bevor er dazu auserkoren wurde, unser Land bei den Olympischen Spielen zu vertreten, was ihn schließlich weit über die Grenzen unserer lokalen Gemeinde hin berühmt machte.

Wie in den anderen Bundesstaaten des Südens waren die Schulen in Louisville auch nach Rassen getrennt – von der Grundschule bis zum Ende der High School. Muhammad und ich schlossen eine Schule, an die nur Farbige gingen, ab. Dort waren alle ziemlich gleich, da sie aus ähnlich bescheidenen Verhältnissen kamen. Viele der jungen Burschen und Mädchen, die in der Gegend aufwuchsen, bekamen staatliche Beihilfen für ihr Schulessen, und keiner hatte besondere materielle Besitztümer. Die Rassentrennung und die Armut lehrten uns schnell, dass schwarz sein bedeutete, dass man anders war. Doch meinem Bruder und mir wurde auch schon früh bewusst, dass dies furchtbar ungerecht war. Wenn wir den Fernseher einschalteten, sahen wir immer wieder Horrorgeschichten: Hunde, die auf Schwarze losgelassen wurden, und Lynchmorde – alles begleitet von Bildern, die sich für immer in unser Gedächtnis einbrannten. Als zwei junge farbige Männer dachten sich Muhammad und ich: Warum werden Afroamerikaner hier in Amerika anders behandelt? Als Kinder und Jugendliche konnten wir nichts dagegen tun, doch ich glaube, dass Muhammad schon damals den Plan hegte, die Welt zu verändern.

Andererseits nahm Muhammad die Schule aber nicht so wichtig. Er war der Klassenclown. Er war von vornherein nicht gerade der beste Schüler und bemühte sich auch nicht wirklich in der Schule, selbst noch bevor er mit dem Boxen begann. Bildung und Lernen waren nicht gerade etwas, dem er viel Bedeutung oder Wert beimaß, und als er dann in der High School mit dem Boxen begann, stellte er den Boxsport über die Schule. Muhammad musste sich manchmal sogar richtig motivieren, um nicht die Schule zu schwänzen, doch da seine Chancen, aufgrund von Bildung erfolgreich zu sein, eher dünn waren, fokussierte er seine Bemühungen auf andere Dinge.

Damit war er nicht allein. Wenn es eine Person gab, die der treibende Motor hinter meinem Bruder war, dann war das unser Vater. Unsere Mutter hatte nichts dagegen, aber Cash Clay stieg aufs Gas. Weder Mutter noch Vater hatten einen wirklich sicheren Job, und als mein Bruder und ich ein gewisses Talent fürs Boxen zeigten, sah unser Vater darin einen Weg, unseren Sorgen zu entkommen. Nicht nur einen Weg aus unseren Geldproblemen und der Armut heraus, sondern auch einen Weg zu Ruhm und Reichtum. Unser Vater bildete sich ein, dass beide seiner Söhne Weltmeister werden würden. Er hatte großes Vertrauen in uns. Vater war es ernst damit, und er saß bei allen unseren Kämpfen in der vordersten Reihe. Er war ein stolzer Vater. Er war einer unserer größten Fans. Und ich möchte es noch einmal wiederholen: Vater dachte wirklich, dass wir beide groß rauskommen würden – nicht nur Muhammad.


Ich denke, nicht einmal mein Bruder wüsste, wie viele Kämpfe genau er im Alter zwischen 12 und 18 Jahren unter Joe Martins Führung bestritt. Ich weiß, dass er sehr oft kämpfte – mehr als einmal im Monat, und ich ebenso – und selten einmal aussetzte. Schon in den ersten Kämpfen konnte man erste Hinweise auf sein großartiges Können, das er später entwickelte, entdecken, als er lernte, um die Gegner herumzutänzeln, Schlägen auszuweichen und sich den Schwingern seiner Kontrahenten so zu entziehen, dass einige Traditionalisten dabei Albträume bekamen. Er gewann sechs Kentucky Golden Gloves und zwei nationale Meisterschaften und bestritt dabei sicherlich über 100 Kämpfe, von denen er bloß acht verlor. Im Jahr 1960 nahm er im Halbschwergewicht an den Golden Gloves teil, um zu vermeiden, dass wir während des Turniers aufeinandertrafen, und er gewann den Titel mühelos.

Etwas später im selben Jahr reiste er nach San Francisco, um dort an einer Vorausscheidung für einen Platz im Nationalteam teilzunehmen. Dabei schaltete er überlegen eine Handvoll Gegner aus, bevor er dann einen harten Kampf gegen Allen Hudson gewann und sich somit einen Platz im Team für die Olympischen Spiele in Rom sicherte.

Ich fuhr nicht nach Rom. Meine Eltern und ich sahen die Kämpfe meines Bruders im Fernsehen. In den Kämpfen sah er wie gewohnt unbesiegbar aus und schlug seine Kontrahenten mit Leichtigkeit. Die schienen noch nie ein Schwergewicht gesehen zu haben, das so beweglich war, ausweichen konnte und tänzeln. Doch wir wussten, dass das Finale viel härter werden und er dort auf einen sehr erfahrenen Gegner stoßen würde.

Es war der 5. September 1960, als er gegen den Polen Zigzy Pietrzykowski in den Ring stieg. Beide Boxer wogen etwa 81 Kilo. Der Pole war ein harter Linkshänder und mit seinen sieben Jahren mehr auf dem Buckel deutlich erfahrener als mein Bruder. Nichtsdestotrotz triumphierte Muhammad nach einstimmiger Entscheidung und gewann damit die Goldmedaille im Halbschwergewicht. Es war ein Traum, der Realität geworden war, ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Bei seiner Ankunft am Flughafen von Louisville wurde er von einer großen Menschenmenge empfangen. Meine Eltern und ich, der Bürgermeister von Louisville, der Stadtrat, einige lokale Geistliche sowie Schüler, Direktoren und Lehrer der Central High School waren gekommen, um ihn zu begrüßen. Zahlreiche Fotografen der örtlichen Presse warteten, um einen Schnappschuss vom neuen Champion machen zu können. Mein Bruder, unsere Eltern und ich wurden mit einer Eskorte vom Flughafen durch die Straßen von Louisville bis zur Central High School gefahren. Dort tummelten sich bereits die Schüler und viele andere Menschen mit Transparenten, auf denen stand: Willkommen zu Hause Cassius Marcellus Junior, Olympiasieger im Halbschwergewicht. Als unser Wagen sich der Schule näherte, liefen Schüler und Gratulanten herbei, um ihren Lokalhelden aus Louisville persönlich zu sehen, und Muhammad genoss jeden Moment. Wir folgten Muhammad in die Aula, wo bereits zwei Sessel auf der Bühne für unsere Eltern bereitstanden. Unsere bescheidene Familie wusste natürlich, dass dies ein großer Moment war, doch er war sogar noch größer, als wir uns je hätten vorstellen können.

Als dann alle ihre Plätze eingenommen hatten, trat der Direktor der Schule, Mr. Alwood S. Wilson, nach vorne und begann mit seiner Rede. Er erzählte dem Publikum, wie furchtbar stolz er, die Lehrerschaft und die Schüler auf einen ehemaligen Schüler waren, der die Goldmedaille errungen hatte. Nach einer emotionalen Ansprache bat er Muhammad vor das Mikrofon, um von seinen Erlebnissen bei den Olympischen Spielen zu erzählen. Das Publikum stand auf und feierte ihn minutenlang mit stehenden Ovationen.