Ein erlesener Mord

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KAPITEL FÜNF

Die Morgensonne bohrte sich auf grausame Weise durch Olivias weiße Schlafzimmervorhänge und in ihren hämmernden Schädel.

„Und Kopfschmerz, wenn der Morgen graut“, stöhnte sie. Sie setzte sich vorsichtig auf und zuckte vor Schmerz zusammen.

Einer halben Flasche eines großartigen toskanischen Rotweins war ein großes Glas sulfitgeladener, geschmacksverstärkter, mit Alkohol versetzter Traubensaft gefolgt. Immerhin wusste sie, dass sie diese Kopfschmerzen tapfer verdient hatte. Und der Wein hatte ihr eine willkommene Taubheit verschafft, als sie in ihrer halbleeren Wohnung ankam, wo die unordentlichen Regale und die Schleifspuren auf dem Teppich Beweis waren, dass Matt sein Hab und Gut in einer spätabendlichen Ausräumaktion abgeholt hatte.

Den war sie also ein für allemal los. Tschüss und auf Nimmerwiedersehen.

Sie schlurfte ins Badezimmer und schluckte zwei Advil mit einem großen Glas Wasser. Dann kletterte sie zurück ins Bett und betete, dass die Wirkung schnell einsetzen würde, denn selbst das Denken tat ihr weh.

Um sich die Zeit zu vertreiben, scrollte Olivia sich durch die sozialen Medien auf ihrem Telefon. Sie hatte ihr Profil schon seit Wochen nicht mehr aktualisiert, geschweige denn nachgesehen, was ihre Freunde so trieben.

Sie scrollte sich durch Instagram und freute sich mit einer ihrer Kolleginnen aus einem vorigen Job, die zwei Kätzchen adoptiert hatte. Ihr Feed war voller Bilder von dem rot getigerten Pärchen, wie sie miteinander spielten, Spielzeuge jagten und schliefen.

Ein weiterer Bekannter hatte einer Hochzeit auf Hawaii beigewohnt, und Olivia war fasziniert von den bunten Bildern.

Doch dann blickte sie mit großen Augen auf das nächste Bild.

Es war eine dramatisch schöne, toskanische Villa. Olivenbäume, warme, sandfarbene Steine, mit einer Aussicht auf Hügel und Weingärten dahinter. Einen Momentlang fühlte sie sich, als hätte ihre eigene Einbildungskraft dieses Bild erträumt.

Dann sah sie, dass es ein Foto aus dem Feed ihrer Freundin Charlotte war.

Charlotte war Olivias älteste Freundin. Seit Schulzeiten waren sie beste Freunde gewesen. Als sie beide noch Kinder waren, hatten sie Leuten gegenüber, die sie nicht kannten, immer so getan, als wären sie Schwestern oder sogar Zwillinge. Im Laufe der Jahre hatten sie sich mehr und mehr auseinandergelebt, weil sie so lange in unterschiedlichen Städten gelebt hatten. Olivia erinnerte sich, dass Charlotte bald heiraten würde. Vielleicht waren sie und ihr Verlobter dort auf der Suche nach einem Schauplatz für ihre Hochzeit.

„#VillaVibes“, hatte Charlotte geschrieben. „#ToskanischerSommer #Wein #Freiheit.“

Olivia kommentierte ihr Bild.

„Sieht klasse aus!“

Zu ihrem Erstaunen kam das Ping einer Antwort beinahe sofort.

„Komm vorbei! Ich bin allein hier und auf der Suche nach jemandem, mit dem ich das hier teilen kann. Zwei Schlafzimmer und den ganzen Sommer über gemietet!“

„Allein?“, textete sie, zusammen mit einem überraschten Emoji. „Was ist mit deiner Hochzeit?“

„Abgesagt. #Singleseinistfreisein #einguteslebenistdiebesterache“, kam die Antwort von Charlotte mit einer langen Reihe von Smileys.

Olivia starrte geschockt auf die Nachricht. Was hatte bei ihrer Freundin nur zu so einer drastischen Entscheidung geführt? Olivia verspürte einen Stich aus Neid, denn Charlotte hatte sich ganz klar für einen Tapetenwechsel entschieden und brachte ihr Leben in einer exotischen Umgebung wieder in Ordnung.

Olivia, in der gleichen Situation, hatte bisher nur genug getrunken, bis ihr Kopf beinahe explodierte.

„Schön wärs! Vielleicht beim nächsten Mal!“, antwortete sie.

Sie schloss ihre Augen. Wenn sie in ihrem Leben bessere Entscheidungen getroffen hätte, würde sie jetzt auf einer gusseisernen Schaukel sitzen, sich unter einem Olivenbaum mit Charlotte unterhalten und auf einen gepflasterten Hof mit Hügeln und Weinreben im Hintergrund hinausblicken. Sie konnte beinahe fühlen, wie eine sanfte Brise durch ihr Haar strich, während sie an einem Glas mit gekühltem Chianti nippte.

Charlottes Bewältigungsmechanismus war dagegen viel konstruktiver. Allerdings war Charlotte auch nicht in den Zwängen einer gigantischen Kampagne gefangen wie sie.

Olivia erinnerte sich an das wichtige Meeting, das heute Morgen stattfinden sollte. Hatte sie wirklich die Nerven, zu tun, was sie sich letzte Nacht versprochen hatte, und sich eine Auszeit zu nehmen und James zu sagen, dass sie an einem anderen Projekt arbeiten wollte?

Jetzt, im grellen Licht des Tages und mit monströsen Kopfschmerzen, schien das lächerlich. Zu so einer unverantwortlichen, spontanen Sache war sie nicht fähig. Sie würde damit Menschen im Stich lassen. Man würde schlecht über sie denken. Und James würde sowieso nein sagen. Er würde ihr wahrscheinlich ins Gesicht lachen.

Als sie ihre Aufmerksamkeit schließlich von Instagram losriss, sah Olivia zu ihrem Entsetzen, dass es schon sechs Uhr war.

Während sie ihre Zeit vertrödelte, indem sie online chattete und von der Toskana träumte, war eine Textnachricht auf ihrem Telefon eingegangen. Sie war von James.

„Olivia, ich brauche dich spätestens um 06:50 Uhr im Büro. Jetzt nimmt auch die komplette Geschäftsführung von Kansas Food und Valley Wines an dem Meeting teil. Ich muss dich zehn Minuten vorher unbedingt briefen.“

Egal, wie schnell sie jetzt ihr Apartment verließ, sie würde zu spät zu ihrem wichtigen Briefing kommen.

Vor sich hin fluchend sprang Olivia aus dem Bett, schnappte sich den erstbesten Businessanzug, den sie zu fassen bekam, schlüpfte hinein und flitzte ins Badezimmer für ihr Make-Up.

Als sie das Licht anknipste, brannte mit einem Plopp die Glühbirne durch.

Olivia fluchte erneut. Sie war fast nie zu spät. Nun ja, zumindest nicht auf regelmäßiger Basis. Aber wieso musste sich in einem solchen Fall immer ihr gesamtes Leben gegen sie verschwören?

Sie trug ihr Make-Up im Halbdunkeln auf und machte sich die mentale Notiz, später zu prüfen, ob ihr Mascara auch nicht verschmiert war.

Dann griff sie ihre Handtasche und Arbeitsmappen und sprintete aus der Wohnung.

Als sie an der Nachbarswohnung vorbeijoggte, ging die Tür auf.

„Hallo, Fremde. Mit dir wollte ich sprechen.“

Es war Len, ihr Nachbar. Langatmiger Len, wie sie ihn nannte, weil er seine Unterhaltungen nie schnell beenden konnte. Er konnte sie nicht einmal schnell anfangen, wenn sie ehrlich war. Len verdiente sich mit irgendeinem IT-Kram dumm und dusselig und war auffallend exzentrisch.

Olivia lächelte, obwohl sie spürte, dass sie nur eine angestrengte Grimasse zustande brachte. Von allen Tagen musste sich Langatmiger Len ausgerechnet den heutigen Tag aussuchen, um seine Wohnung zur gleichen Zeit wie sie zu verlassen.

„Es tut mir leid. Ich bin spät dran und –“, begann Olivia.

Len fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört und strich sich sein zotteliges Haar glatt. Er sah aus, als trüge er noch immer seinen Schlafanzug. Doch so sah Len immer aus, also besaß er vielleicht nur Schlafanzüge.

„Ich hatte dich doch letztes Jahr gefragt, ob du vielleicht vorhast, deine Wohnung zu verkaufen. Ich wollte dich nur an dieses Angebot erinnern, weil ich dringend mehr Platz brauche, und diese Glasfaserkapazitäten wie hier gibt es sonst nirgends in der Stadt. Und ich brauche nicht nur mehr Platz zum Arbeiten, sondern habe jetzt auch noch ein ganzes Set an Miniatur-Eisenbahnmodellen, die ein ganzes Zimmer beanspruchen, und zwei Sets der Größe Z, die vielleicht kleiner sind, aber dafür beachtliches Grundeigentum benötigen.“

„Tatsächlich?“, Olivia holte Luft, um ihm eine höfliche Absage auszusprechen, aber er redete weiter.

„Zudem habe ich jetzt drei weitere Katzen, die ihr eigenes Spielzimmer brauchen. Ich kann sie unmöglich zu den Zügen lassen.“ Er schüttelte besorgt seinen Kopf. „Ich habs versucht, es ist aber nicht gut ausgegangen. Die Züge haben klar den Kürzeren gezogen, wie es dich vielleicht freut zu hören.“

„Da bin ich ja erleichtert“, sagte Olivia.

„Ich bin bereit, mein Angebot zu erhöhen.“

Olivia wollte am liebsten schreien.

„Len, nein, es tut mir leid. Für deine Katzen und deine Züge gleichermaßen. Und deine zusätzlichen Katzen. Und deine neuen, noch kleineren Züge. Ich bin nicht interessiert zu verkaufen, aber ich verspreche dir, es dich als erstes wissen zu lassen, wenn ich meine Meinung ändern sollte.“

Len schien ihr nicht mehr zuzuhören. Stattdessen sah er sie nur seltsam an.

„Hast du dich verletzt? Hatten du und dein Freund eine gewalttätige Auseinandersetzung?“

Olivia blinzelte.

„Nein. Wieso?“

„Du siehst aus, als hättest du ein blaues, linkes Auge.“

„Oh. Das ist mein Make-Up. Danke für den Hinweis.“

Während sie hektisch unter ihrem Auge herumrubbelte, sprintete sie zum Ausgang.

*

Eine halbe Stunde später erreichte sie das große, gläserne Bürogebäude, in dem JCreative zwei Stockwerke belegte.

Sie nahm den Aufzug nach oben, ihn drängend, doch bitte schneller zu machen, und begann zu rennen, sobald ihre Füße den Teppich des Korridors betraten. Sie platzte um genau eine Minute nach sieben in James’ Büro.

„Sorry für die Verspätung“, keuchte sie.

James saß in seinem Chefsessel, den Olivia als viel zu groß für ihn empfand. Er sah sie streng an, als wäre ihre verspätete Ankunft eine große Enttäuschung.

Wie sie ihn so anschaute, überkam Olivia ein Schauer der Angst, weil sie sehen konnte, wie sie den gleichen Pfad einschlug wie er. Das hier war alles, was er kannte – diese Firma war sein Leben. Er hatte sich vor ein paar Jahren scheiden lassen und sah seine Kinder nur selten. Und obwohl es Sommer war, bemerkte sie, wie blass seine Haut war, als hätte er nie die Gelegenheit, sich in der Sonne zu entspannen, da er all seine Zeit damit verbrachte, sich mit Vorständen in Meetings herumzuschlagen.

 

„Setz dich. Ich habe aufregende Neuigkeiten für dich“, sagte er.

„Was ist?“, fragte sie und zwang sich zu einem Lächeln.

„Kansas Foods, die Holdinggesellschaft von Valley Wines, ist vom Erfolg dieser Kampagne beeindruckt. Sie witzeln, dass wir ihrer Konkurrenz einen Korken aufgedrückt haben.“

Olivia lächelte noch breiter und wünschte sich, dass das wirklich gute Neuigkeiten wären.

„Es ist im Grunde nicht mal ein Witz. Drei konkurrierende Marken haben so viel Regalfläche verloren, dass sie wahrscheinlich bald pleitegehen werden.“ James lächelte.

„Das ist – ähm.“ Olivia konnte sich nicht dazu überwinden, „gut“ zu sagen. Es war schrecklich, und sie hatte Schuld daran.

„Ab heute sind wir daher für alle Kampagnen von Kansas Food zuständig“, gab James stolz bekannt. „Deswegen sind alle Vorstandsteams bereits im Konferenzraum. Wir machen heute Morgen die Übergaben und unterschreiben einen Fünfjahresvertrag für alle Marken. Dieser Deal ist mehrere hundert Millionen wert.“

Olivia spürte, wie ihr das Lächeln auf den Lippen gefror.

„Das ist großartig. Was für ein Erfolg.“ Sie war sich nicht sicher, wie sie klang, aber sie hoffte, dass James nicht bemerkte, wie sie sich innerlich fühlte.

„Du fragst dich bestimmt, was das für dich bedeutet“, sagte James. Er lächelte. „Ich hoffe, du hast nicht zu viel Urlaub geplant. Du wirst jede Menge zu tun haben, weil du alle wichtigen Kampagnen leiten wirst. Du wirst ein paar zusätzliche Angestellte rekrutieren müssen und deine Zeit abwechselnd hier und in ihrer Zentrale in Wichita verbringen. Du wirst wahrscheinlich eine Woche hier und eine Woche dort verbringen. Für dich sollte das ja kein Problem sein. Du bist doch nicht verheiratet, oder?“

Olivia verkniff sich eine bissige Antwort. Würde ihr Familienstand irgendeinen Unterschied machen? Ja, zufällig war sie seit gestern ohne Freund, aber wie kam James, ein geschiedener Mann, auf die Idee, dass es für sie ein und dasselbe war, unverheiratet und single zu sein?

„Nein, das bin ich nicht“, antwortete sie kühl.

James sah sie überrascht an, als hätte er erwartet, dass seine Worte mit blinder Zustimmung aufgenommen werden würden.

„Du erhältst eine Beförderung zum Account Director, eine wesentliche Gehaltserhöhung, und die Bonusstruktur wird doppelt so hoch sein wie bisher. Da steckt jede Menge Geld drin, mein Mädchen. Eine große Menge Geld.“ Er rieb sich die Hände.

Olivia blinzelte. Sie dachte, sie würde bereits eine Menge Geld verdienen. Wenn also noch mehr kommen würde, wie viel würde das sein? Hieß es nicht, jeder hätte seinen Preis? Sie begann sich zu fragen, ob sie den auch hatte.

„Ich –“, begann Olivia, aber James redete einfach weiter.

„Einer der größten Accounts bei uns wird Daily Loaf sein – das ist ihr Brothersteller.“ Er hackte auf die Tastatur seines Laptops ein. „Deren CEO hat mir gestern ein paar Details geschickt. Ihr Brot hat eine Haltbarkeitsdauer von bis zu zwei Wochen. Zwei Wochen! Kannst du das glauben?“

„Unfassbar“, sagte Olivia. Innerlich überkam sie Panik. Sie wollte nicht für ein Brot mit zweiwöchiger Haltbarkeit werben. Sie wollte mit handgemachtem Brot arbeiten, dessen Mehl in echten Mühlen gemahlen und in rustikalen Lehmöfen gebacken wurde.

„Der charakteristische Geschmack wird mit einer Mischung aus Sucrose und Maissirup verstärkt, was das Brot besonders lecker macht“, fuhr James fort. „Ich glaube, das könnten wir in die Kampagne einarbeiten. Vielleicht etwas wie ‚Täglich Daily auf den Tisch, immer gut und immer frisch‘? Du kannst das bestimmt ein wenig besser ausfeilen, davon bin ich überzeugt. Sie haben auch eine gesunde Version. Es hat zusätzlich zehn Prozent Vollkornmehl und angeblich weniger Zucker.“

James studierte seinen Bildschirm.

„Nein, ich sehe gerade, dass das gesunde Brot den gleichen Zuckergehalt hat. Aber Vollkornmehl, das ist das große Schlagwort. Daily Loaf hat großes Potenzial, und ich kann kaum erwarten zu sehen, was du daraus machst.“

Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen wurde Olivia langsam schlecht.

„Es wäre klasse, wenn du dir aus dem Stehgreif ein paar Ideen, Slogans und Richtungen einfallen lassen könntest, sodass wir sie gleich bei unserem Meeting direkt von den Socken hauen können. Ich weiß, dass du immer viele spontane Einfälle hast.“ Er zog eine verschwörerische Augenbraue hoch.

Olivia zuckte zusammen. Hieß das, was sie dachte, was es hieß?

„Ich habe nur Gutes von dir berichtet, das Vorstandsteam hat also hohe Erwartungen. Sie erwarten nur das Beste von dir, aber ich weiß, dass du sie überzeugen wirst. Wie dem auch sei, zurück zu den Produkten. Lass mich dir kurz von den Softdrinks –“

Olivia stand auf. Sie konnte kein einziges Wort mehr ertragen. Nicht einmal die Aussicht auf das Geld, den Bonus und die Beförderung konnte ihre Meinung jetzt noch ändern. Egal, wie viel Geld es war.

„Das klingt alles sehr aufregend“, begann sie. „Aber das ist leider nichts für mich.“

Sie konnte nicht glauben, dass diese Worte wirklich aus ihrem Mund kamen. James’ geschockter Gesichtsausdruck sagte ihr, dass sie nicht die Einzige war. Unfähig aufzuhören und im Wissen, bereits eine Grenze überschritten zu haben, fuhr Olivia fort.

„Ich kann leider nicht weiter mit dieser Marke und anderen damit in Verbindung stehenden Marken arbeiten. Hiermit reiche ich also meine mündliche Kündigung ein und bitte dich, sie anzunehmen.“

„Was zum Teufel soll das?“, platzte James hervor. „Das ist doch Bullshit. Du kannst doch jetzt nicht einfach aussteigen und gehen!“

„Genau das tue ich gerade“, sagte Olivia entschlossen.

Sie atmete tief durch, stand auf und verließ den Raum. Hinter ihr hörte sie James’ verzweifelten Schrei.

„Olivia! Bleib hier! Wir müssen reden!“

Doch sie zwang sich, standhaft zu bleiben, weiterzugehen und nicht zurückzusehen.

Draußen auf der Straße verspürte sie eine erschreckende Freiheit. Sie drehte sich fassungslos zu der dunklen Glasfront des Gebäudes um. Ihre Hände zitterten vor Schock. Was hatte sie da gerade getan? Das war ein Moment des Wahnsinns gewesen, und es gab keinen Weg zurück.

Das war nicht mehr ihr Arbeitsplatz und würde es auch nie mehr sein. Sie würde wahrscheinlich bis ans Ende ihres Lebens keinen Fuß mehr hineinsetzen.

Angst und Ungewissheit brodelte in ihr, als sie Instagram auf ihrem Telefon aufrief und Charlotte eine neue Nachricht schrieb.

„Ich habe meine Meinung geändert“, tippte sie. „Ist das Zimmer in der Villa noch frei?“

Sie hielt den Atem an, während sie auf eine Antwort wartete.

KAPITEL SECHS

Der Wäscheberg auf Olivias Bett wurde immer größer.

Bisher bestand er aus Jeans, Shorts, T-Shirts, lässigen Tops, schicken Tops, einigen langärmeligen Oberteilen und einer Jacke.

Atemlos vor Aufregung starrte sie auf die Klamotten. In wenigen Stunden würde sie in ein Flugzeug steigen. Morgen früh würde sie in der Toskana landen.

„Ich tu es. Ich tu es tatsächlich. Ich kanns nicht glauben“, sagte sie zu sich selbst.

An diesem Morgen war sie mit einem Kater aufgewacht, war gestresst und hasste ihren Job. Nur zwei Stunden später hatte sie gekündigt, einen Flug gebucht und packte gerade für die Reise.

Okay, sie hatte heute Morgen also noch einen Job gehabt. Heute war das erste Mal in zwölf Jahren, dass sie arbeitslos war. Aber nach einem zweiwöchigen Urlaub in der Toskana würde sie sich nach einem neuen Job umschauen können. Zwei Wochen waren eine lange Zeit. Sie erstreckten sich vor ihr, voller Aufregung, voller Möglichkeiten.

Sie wühlte in der hinteren Ecke ihres Kleiderschranks nach einer Trainingshose. Es war lange her, seit sie das letzte Mal gejoggt war. Jahre, um ehrlich zu sein. Sie hasste Joggen, aber sie war sich sicher, dass sie es in Italien lieben würde. Und sie musste sich fit halten, vor allem, weil sie seit Ewigkeiten jeden Abend Wein trank und Nudeln mit Sahnesoße aß. Und leckere Käsepizza und knuspriges Brot getunkt in Olivenöl und Balsamico-Essig.

Sie dachte an all das Essen und warf zusätzlich noch ihre Yoga-Hose auf den Haufen. Sie war nie ein Yoga-Mensch gewesen und hatte sich die Hose nur gekauft, weil sie sich irgendwann einmal vorgenommen hatte, einen Kurs zu besuchen. Aber in der Villa könnte sie Yoga machen. Sie könnte googlen, wie. Sie stellte sich vor, wie sie elegant auf ihren Händen balancierte, während hinter ihr die Sonne aufging.

Nach weiteren zehn Minuten hatte sie zu Ende gepackt.

Als sie ihre schwere Tasche nach draußen hievte und die Tür hinter sich abschloss, fiel ihr auf, dass sie rein gar nichts zurückließ. Nicht einmal eine Pflanze, die gegossen werden musste. War das ein Zeichen dafür, wie leer ihr Leben mittlerweile war?

„In der Villa gibt es bestimmt Pflanzen“, redete sie sich optimistisch ein.

*

„Amore mio“, flüsterte der gutaussehende Mann, und sein Atem kitzelten auf Olivias Haut. „Wie schön, dass du endlich da bist. Lass mich dein Gepäck nehmen.“

Olivia starrte ihn liebestrunken an.

Liebestrunken und völlig verwirrt. Wieso wurde sie von diesem atemberaubend gutaussehenden Mann empfangen, der mit einem starken, italienischen Akzent sprach? War er ihr Freund? Wie war das passiert, und was würde Matt dazu sagen?

Der große Mann schwang ihren schweren Koffer von ihrem Trolley und legte seinen freien Arm um Olivias Hüfte. All ihre Zweifel verblassten, als er sie fest an sich drückte. Irgendwie würde das alles schon funktionieren, da war sie sich sicher.

„Ich bringe dich nach Hause, meine Schönheit“, hauchte er.

Das Knistern der Lautsprecherdurchsage riss Olivia wieder in den Wachzustand zurück.

„Wir beginnen jetzt den Landeanflug. Bitte bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position und verstauen Sie Ihre Tabletts.“

Olivia setzte sich desorientiert auf und lächelte verlegen die Frau neben sich an, auf deren Schulter sie eingenickt war. Für einen verwirrten Moment dachte sie, sie wäre auf einem Inlandsflug, auf dem Weg zu einem Businessmeeting. Als sie sich erinnerte, wo sie war, starrte sie begeistert aus dem Fenster.

Gleich würde sie in Italien landen. Sie hatte ihren Job gekündigt und mit Matt Schluss gemacht, und war gerade auf dem Weg zu einem Spontanurlaub in einer toskanischen Villa.

Olivia hielt den Atem an, als sie den Teppich aus Feldern, Hügeln und Wäldern unter sich sah. In der Landschaft konnte sie kleine Städte sehen, die Häuser sandfarben, beige und ocker. War das ein Weingarten? Sie spähte hinab und versuchte zu erkennen, was diese grünen, feinsäuberlichen Reihen waren, doch ihr Atem ließ das Glas beschlagen, und sie lehnte sich wieder zurück.

Ihr Traum war so klar gewesen, dass es sich wie Realität angefühlt hatte. Ein gutaussehender Mann, der auf sie gewartet hatte. Naja, wer wusste schon, was auf diesem spontanen Urlaub alles passieren konnte? Als das Flugzeug aufsetzte, fragte Olivia sich, ob sie in dieser romantischen Umgebung vielleicht den Mann ihres Lebens kennenlernen würde.

Als sie in die überfüllte Ankunftshalle trat und ihre schwere Tasche hinter sich herzog, sah sie ein Schild mit ihrem Namen.

Olivia Glass.

Olivia starrte fassungslos auf das Bild, das sich ihr bot.

Da musste Zauberei im Spiel sein. Hinter dem Schild stand ein großer, umwerfend gutaussehender Mann. Er war gebräunt und hatte breite Schultern. Seine starken Gesichtszüge akzentuierten seinen dunklen Dreitagebart.

Als er sie sah, strahlte er und winkte ihr überschwänglich zu.

Mit großen Augen winkte Olivia zurück und lächelte erfreut, als sie sich ihren Weg durch die Menge auf ihn zu bahnte.

Ihr Traum war wahr geworden; ihr Urlaub begann wie in einem Bilderbuch. Wer hätte gedacht, dass das Mieten eines Autos ihr die Bekanntschaft zu solch einem italienischen Adonis verschaffen würde?

Hatte er sie von dem Foto auf ihrem internationalen Führerschein erkannt? Olivia spekulierte über die Möglichkeiten, als sie sich ihm näherte. Es musste der Führerschein gewesen sein, entschied sie, aber sie könnte ihn ja fragen. Das war doch auch ein guter Einstieg in eine Konversation, während er sie zu ihrem Auto begleiteten würde.

Als sie einem langsameren Passagier auswich, kippte ihr Koffer um.

„Upps“, sagte sie und hielt an, um ihn wiederaufzurichten.

Währenddessen überholte sie eine zierliche Frau in einem stylischen, leuchtendroten Mantel.

Der hübsche Mann winkte noch immer, aber Olivia sah zu ihrem Entsetzen, dass er nicht ihr winkte.

Die zierliche Frau erreichte ihn, und er schloss sie fest in seine Arme.

 

Olivia schnappte verblüfft nach Luft und lief sofort dunkelrot an, als sie merkte, dass das Schild gar nicht zu dem gutaussehenden Mann gehörte. Es wurde von einem kleinen, älteren Herrn links von ihm gehalten, der das Schild in die Höhe gehalten hatte, damit sie es besser sehen konnte.

Olivia wusste genau, dass ihr Kopf gerade genauso rot anlief wie der Mantel der Frau.

Und das Schlimmste von allem war, dass der italienische Adonis ihren Faux-Pas ganz klar bemerkt hatte, denn er warf ihr einen mitleidigen Blick zu und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Einige Schaulustige starrten sie ebenfalls amüsiert an.

Es gab nur eines, was sie tun konnte, um ihre in tausend Einzelteile zerschmetterte Würde wieder zusammenzuflicken.

Ihren Adonis ignorierend, als hätte sie ihn nicht einmal bemerkt, blickte sie nun direkt auf den älteren Herrn. Sie zwang sich zu einem erneuten Lächeln, eines, das sogar breiter war als das vorige, und winkte überschwänglich.

„Hallo! Es ist so schön, Sie zu sehen!“

Schau dich nicht um, redete Olivia sich ein. Wenn sie mit ihrem verzweifelten Versuch, einer lebenslangen Demütigung zu entgehen, erfolgreich sein wollte, musste sie sich jetzt voll und ganz auf diesen Herrn hier konzentrieren, ohne jemand anderen auch nur anzusehen.

Als sie auf den älteren Mann zueilte und ihn wie einen guten Freund, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, begrüßte, hoffte sie, dass niemand bemerkte, wie verdutzt dieser dreinschaute.

*

Wenige Minuten später verließ sie den Flughafen am Steuer eines kompakten, babyblauen Fiats. Als sie das in Grün gehüllte Terminal hinter sich ließ, fühlte Olivia sich, als würde ihr Abenteuer nun endlich tatsächlich beginnen. Seit Jahren stand Italien auf ihrer Liste von beliebten Reisezielen ganz oben, aber sie hatte nie geglaubt, dass sie jemals die Gelegenheit bekäme, tatsächlich hierherzukommen. Der längste Urlaub, seit sie begonnen hatte, für JCreative zu arbeiten, waren dreieinhalb Tage gewesen. Zudem hatte Matt ihr Interesse an Italien nie geteilt.

Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihre Obsession mit der Toskana nie mehr als eine Fernbeziehung sein würde, aber jetzt war sie tatsächlich hier.

Zu ihrer Freude war die Landschaft genauso, wie sie sie sich vorgestellt hatte. Felder in allen Größen und Formen mit säuberlichen Reihen aus Weinreben fügten sich wie Puzzleteile an Olivenhaine und Wäldchen. Sie erspähte ein Farmhaus errichtet aus honigfarbenem Stein und umgeben von Baumgruppen. Unterwegs blickte sie erwartungsvoll zum Horizont, in der Hoffnung, die Küste des Tyrrhenischen Meers sehen zu können.

Ihr GPS funktionierte einwandfrei und lotste sie zuverlässig durch die pittoreske Landschaft.

Doch nicht so zuverlässig, korrigierte Olivia, als sie auf einmal rechts in eine schmale Straße abbog, die sie angeblich nach Collina führen sollte, einer Stadt am Fuße eines Berghangs. Stattdessen verlief die Straße jetzt im Zickzack hoch in die Berge hinauf.

Wo war sie? Sie blickte auf ihre Straßenkarte hinunter, und als sie wieder aufsah, bemerkte sie erschrocken, dass ihr ein eleganter, orange-schwarzer Sportwagen an der Stoßstange klebte.

Olivia sah erstaunt, dass es ein Bugatti Veyron war, als der Fahrer sie mit einem kehligen Aufheulen des Motors überholte und hinter der nächsten Kurve verschwand. Sie hatte noch nie einen gesehen, aber sie wusste, dass diese Fahrzeuge Millionen kosteten und ihre Leistung für Auto-Fans jeden Cent wert waren. Sie ging davon aus, dass es keine Seltenheit war, solche auf den Straßen eines Landes zu sehen, für das schnelle, stylische Autos ein wesentlicher Teil der Kultur darstellten.

Sie widmete sich wieder ihrer Straßenkarte, doch ihr Kopf schnellte wieder hoch, als sie bemerkte, dass da ein weiteres Auto hinter ihr war.

Es war ein Polizeiwagen mit Blaulicht, ganz klar auf einer Mission. Er überholte sie ebenfalls und schoss mit kreischendem Motor den Berg hinauf.

„Hoffentlich kriegen sie ihn“, rief Olivia ihm unterstützend hinterher, obwohl sie nicht glaubte, dass der Polizist auch nur den Hauch einer Chance hatte. Dieser Bugatti hatte eine mörderische Beschleunigung gezeigt.

Das GPS hatte sie fehlgeleitet, aber die Route führte sie dafür in ein höchst außergewöhnliches Bergdorf. Es musste einst ein mittelalterlicher Außenposten gewesen sein, mit hohen, kantigen Türmen und schmalen Gebäuden mit winzigen Fenstern, eng an den Berg gedrängt. Das Städtchen selbst war ein wirres Durcheinander aus Straßen. Es gab nicht genug Platz, um zu wenden, und Olivia fragte sich, ob sie jemals wieder daraus hinausfinden würde.

Konzentriert schielend manövrierte sie das Auto um eine Kurve, die selbst für den kleinen Fiat viel zu eng zu sein schien. Zwischen den hohen Steinmauern blieb Olivia kein bisschen Spielraum. Sie hielt die Luft an und betete, dass ihre Stoßstange diese Herausforderung überleben würde. Sie stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus, als sie und ihr Auto die Engstelle unbeschädigt passierten, und sie die Hauptstraße vor sich liegen sah.

Ihr GPS berechnete die Route neu und lotste sie den Berg wieder hinab.

Olivia verlangsamte ihre Fahrt, als sie fasziniert den Bugatti betrachtete, der an der Straßenseite vor dem Polizeiwagen geparkt stand. Die gepflasterten Straßen und der schmale Engpass hatten dem Polizisten anscheinend dazu verholfen, aufzuholen. Was das den Fahrer wohl kosten wird?, fragte sie sich. Doch als sie an den beiden Fahrzeugen vorbeifuhr, kicherte sie amüsiert.

Der Fahrer und der Polizist standen vor dem Bugatti und waren in eine angeregte und enthusiastische Unterhaltung vertieft. Der Polizist hatte sein Telefon gezückt und schoss Fotos von dem Sportwagen. Das schien der einzige Grund für seine Verfolgungsjagd gewesen zu sein.

So etwas gibt’s nur in Italien, dachte Olivia, froh, diese Szene erlebt haben zu dürfen.

Als sie wieder auf die Straße zurückkehrte, sah sie endlich das Schild für Collina. Jetzt musste sie nur noch Ausschau nach der Villa halten.

Ihr stockte der Atem, als sich die imposante Auffahrt vor ihr ausbreitete, flankiert von hohen, steinernen Torsäulen. Das gusseiserne Tor stand offen, und sie fuhr den gepflasterten Weg zu dem eleganten Steinhaus hinauf. Die Säulen des Portals und die hohen, geschwungenen Fenster waren genau wie auf dem Instagram-Foto, aber der enge Kamerawinkel war dem atemberaubenden Panorama aus sanft wogenden Hügeln und bewaldeten Tälern, dem klaren, azurblauen Himmel und der duftenden Sommerluft nicht gerecht geworden.

Sie parkte unter einem hölzernen Carport, dessen Pfosten von Weinreben umrankt waren.

Olivia kletterte aus dem engen Fahrersitz, streckte ihre Arme über dem Kopf aus und atmete tief ein. Sie drehte sich langsam und ließ dabei die einmalige Szenerie, die sie umgab, auf sich wirken.

Sie hatte es sich wunderschön vorgestellt, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie bei ihrer Ankunft solch ein Gefühl von Frieden empfinden würde. Irgendwie war ihr die Landschaft vertraut und hatte einen beruhigenden Effekt auf sie, obwohl es ihr erster Besuch in Italien war.

Als sie ihren Koffer aus dem Kofferraum wuchtete, entschied sie, dass das an ihrer jahrelangen Obsession mit dieser Gegend liegen musste. Kein Wunder, dass sie sich schon wie zuhause fühlte.

Sie ging auf die hölzerne Tür mit den zwei großen Tontöpfen links und rechts zu, in denen leuchtend pinke Geranien wuchsen.

„Hallo?“, rief sie und klopfte an die Tür. „Charlotte, bist du da?“

Sie drückte die Türklinke herunter, aber die Tür war verschlossen.

Olivia runzelte die Stirn und fragte sich, ob das die richtige Villa war. Vielleicht hätte sie den Hügel noch weiter hinauffahren müssen?

Dann bemerkte sie ein flatterndes Blatt Papier in einem der Blumentöpfe.

Olivia nahm es in die Hand und faltete es auseinander.

„Habe verschlafen!“, stand da. „Bin los, um uns Mittagessen zu holen! Schlüssel ist im Blumentopf!“

Als sie genauer hinsah, sah sie den Schlüssel, halb versteckt unter einem Blatt.

Sie schloss die Tür auf und trat in die angenehme Kühle des Hauses. Der glatte, gekachelte Fußboden lud ein, seine Schuhe direkt auszuziehen und barfuß darüber zu laufen.