Mord im Herrenhaus

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Kapitel drei

Lacey wurde von einem seltsamen Geräusch geweckt.

Zwar saß sie sofort aufrecht im Bett, wusste aber nicht gleich, wo sie sich befand, nicht zuletzt, weil der Lichtstrahl, der durch einen Spalt im Vorhang ins Zimmer drang, ziemlich dünn war. So dauerte es ein paar Sekunden, bis ihr bewusstwurde, dass sie sich nicht in ihrem Apartment in New York befand, sondern in einem steinernen Cottage, das auf den Klippen des Ortes Wilfordshire, England, stand.

Da war das Geräusch wieder. Dieses Mal handelte es sich nicht um ein Klappern in den Rohren, aber trotzdem hörte es sich an wie etwas ganz Grundlegendes, ja irgendwie fast Animalisches. Mit einem schlaftrunkenen Blick auf ihr Handy stellte sie fest, dass es hier 5 Uhr morgens war. Seufzend hievte sie ihren geräderten Körper aus dem Bett. Der Jetlag machte sich bei jedem ihrer schwerfälligen Schritte, die sie in Richtung des Balkons machte, um die Vorhänge aufziehen zu können, bemerkbar. Als sie die Vorhänge geöffnet hatte, sah sie nur bis zu dem Punkt, an dem die Klippe zum Meer hin abfiel und dahinter kam schon der Ozean, der sich bis zu einem wolkenlosen, langsam hell werdenden und dabei schon erkennbar makellos blauen Horizont. Obwohl auf dem Rasen vor dem Haus kein tierischer Krachmacher zu sehen war, war das Geräusch noch da. Wenigstens konnte Lacey inzwischen ausmachen, dass es von der hinteren Seite des Hauses kam.

In dem Kleid, das sie noch in der letzten Minute vor ihrem Abflug am Flughafen erstanden hatte, trottete Lacey die unter ihren Schritten quietschende Treppe hinunter, um zu erkunden woher das Geräusch kam. Sie marschierte ohne zu zögern direkt zur Rückseite des Hauses, deren großes Fenster und Fenstertüren ihr einen guten Blick auf den Rasen hinter dem Haus ermöglichten. Und tatsächlich konnte sie von dort aus den Ursprung des Geräusches erkennen.

In ihrem Garten graste eine ganze Schafherde.

Lacey zwinkerte ungläubig. Das waren bestimmt mindestens fünfzehn Schafe! Oder zwanzig, Oder sogar noch mehr!

Sie rieb sich die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, waren die flauschigen Gesellen immer noch da und hielten sich genüsslich an ihrem Gras schädlich. Dann hob eines der Tiere seinen Kopf.

So kam es, dass Lacey und das Schaf sich in die Augen sahen, ja sozusagen sogar versuchten, sich gegenseitig niederzustarren, bis das Schaf schließlich aufgab und ein langes, klagendes Blöken von sich gab.

Lacey musste unwillkürlich kichern. Sie konnte sich keine bessere Art vorstellen, ihr neues Leben ND zu beginnen. Plötzlich fühlte sich ihr Aufenthalt hier in Wilfordshire weniger wie ein Urlaub an, als vielmehr wie ein gut durchdachter Akt des Willens, eine Rückkehr zu sich selbst oder gar wie das Bekenntnis zu neuen, ihr bisher gänzlich unbekannten Seiten ihres Wesens.

Was immer es auch sein mochte, kam es Lacey vor als rumorten jede Menge sprudelnde Bläschen, etwa wie die, die man von Champagner her kennt, in ihrem Magen herum (vielleicht war dieses seltsame Gefühl aber auch einfach immer noch auf ihren Jetlag zurückzuführen, obwohl sie sich – jedenfalls laut ihrer inneren Uhr – doch gerade erst eine großzügig bemessene Portion Schaf gegönnt hatte). Doch wie dem auch war, brannte Lacey nur so darauf, den neuen Tag zu beginnen.

Denn auf einmal sehnte sich Lacey nach Abenteuern. War sie gestern noch von dem ihr nur allzu vertrauten Verkehrslärm von New York City geweckt worden, so hatte sie heute das dauernde Blöken einer Schafherde aus dem Schlaf gerissen. Hatte sie gestern als erstes den Duft von frischer Wäsche und Putzmitteln in der Nase gehabt, so roch es hier und heute nach Staub und nach Meer. Sie hatte mal eben ihr altes, gewohntes Leben in Scherben gelegt. Als seit neuestem wieder alleinstehende Frau schien ihr die ganze Welt zu Füßen zu liegen. Und sie wünschte sich nichts mehr als diese zu erkunden! Neues zu entdecken! Dazuzulernen! Plötzlich fühlte sie einen Enthusiasmus in sich, den sie nicht mehr gehabt hatte seit…ja, eigentlich seit ihr Vater die Familie verlassen hatte.

Lacey schüttelte den Kopf. Sie wollte sich jetzt nicht mit traurigen Dingen befassen. Sie wollte alles tun, um sich ihre neu gewonnene Lebensfreude zu erhalten. Wenigstens für heute. Sie wollte dieses Gefühl festhalten und nie mehr loslassen. Heute war sie frei.

Um sich von dem inzwischen nagenden Hungergefühl in ihrem Bauch abzulenken, unternahm sie einen Versuch, sich in ihrer großen, altmodischen Wanne zu duschen. Das bedeutete sie nahm die seltsame, an den Wasserhähnen angebrachte, schlauchähnliche Konstruktion und spritze sich damit ab, wie man es sonst vielleicht mit einem dreckigen Hund tun würde. Zwar wurde das zuerst noch warme Wasser von jetzt auf gleich eiskalt und dazu gaben die Rohre die ganze Zeit über das ihr bereits bekannte Klappern von sich, doch hatte diese Dusche auch gute Seiten. Denn das im Vergleich zu dem harten Wasser, das Lacey aus New York gewöhnt war, unglaublich weiche Wasser hier fühlte sich auf ihrer Haut fast wie eine teure Feuchtigkeitslotion an, was Lacey sehr genoss, auch wenn der plötzliche Temperatursturz des Wassers sie dazu brachte, vor Kälte mit den Zähnen zu klappern.

Nachdem sie sich die Ausdünstungen des Flughafens sowie den Schmutz der Großstadt von ihrer jetzt – sogar im eigentlichen Sinn des Wortes – strahlenden Haut gespült hatte trocknete sie sich ab und zog die Sachen an, die sie am Flughafen gekauft hatte. An der Innenseite des riesigen Schlafzimmerschrankes war ein Spiegel angebracht, in dem sie sich in ihrem neuen Outfit betrachten konnte. Doch dieses gefiel ihr ganz und gar nicht.

Lacey zog eine Schnute. Sie hatte die Kleidungsstücke in der Annahme, Freizeitklamotten wären wohl die beste Wahl für ihren Urlaub in einem Badeort, in einem Laden für Strandbekleidung am Flughafen erstanden. Aber während sie sich eigentlich legere Kleidung für den Strand vorgestellt hatte, sah ihr neues Outfit eher aus wie Klamotten aus einem Secondhand-Laden. Die beigen Slacks saßen ein wenig zu eng, dafür war das weiße Baumwollshirt so weit, dass sie förmlich darin verschwand und die schlampig verarbeiteten Bootsschuhe eigneten sich wahrscheinlich noch schlechter zum Laufen auf Kopfsteinpflaster als die Stöckelschuhe, die sie normalerweise immer auf Arbeit getragen hatte! Aus diesem Grund würde sie sich heute wohl gleich als erstes nach ein paar besser passenden Klamotten umsehen müssen.

In Laceys Bauch grummelte es noch immer.

Du bist dann als nächstes dran, dachte sie und rieb sich den Magen.

Ohne darauf zu achten, dass ihr Haar so nass war, dass ihr das Wasser den Rücken hinunterlief ging Lacey nach unten und in die Küche, wo sie bei einem Blick aus dem Fenster feststellte, dass von der Schafherde, die heute Morgen in ihrem Garten herumgestanden hatte, nur noch ein paar Tiere übriggeblieben waren. Weder ihre Suche in den Küchenschränken noch im Kühlschrank förderte irgendetwas essbares zu Tage. Aber es war auch noch zu früh, um in den Ort hinunter zu gehen und sich ein paar Leckereien aus der Patisserie auf der Hauptstraße zu holen. Bis diese aufmachte würde sie wohl noch etwas Zeit totschlagen müssen.

„Zeit totschlagen!“ rief Lacey überglücklich aus.

Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal Zeit totschlagen müssen? Wann hatte sie das letzte Mal die Freiheit gehabt, einfach mal herumzubummeln und nichts zu tun? David hatte immer sehr darauf geachtet, dass sie das Beste aus ihrer wenigen Freizeit herausholten. Da hieß es dann: ab ins Fitnessstudio, zum Brunchen, zu Unternehmungen mit ihren Familien oder auf einen Drink. Jede „freie“ Minute war durchgetaktet gewesen. Plötzlich fiel es Lacey wie Schuppen von den Augen, wie absurd es war, Pläne für seine freie Zeit zu schmieden, denn durch diese Planung war diese Zeit ja dann gar nicht mehr frei! Dadurch, dass sie es David überlassen hatte, nach Gutdünken über ihrer beider Zeit zu verfügen, hatte sie sich freiwillig in eine Zwangsjacke aus sozialen Verpflichtungen begeben. Diese Erkenntnis fühlte sich fast an wie eine buddhistische Erleuchtung.

Der Dalai Lama wäre bestimmt stolz auf mich, dachte Lacey und klatschte dabei vergnügt in die Hände. In diesem Moment begannen die in ihrem Garten verbliebenen Schafe wieder zu blöken. Das brachte Lacey auf die Idee, sie könne ihre neu gewonnene Freiheit dafür nutzen Detektiv zu spielen und herauszufinden, wo die Tiere hingehörten.

Sie öffnete die Fenstertüren und trat in den Hof hinaus. Auf ihrem Weg durch den Garten in Richtung der beiden Wollknäuel, die sich noch immer an ihrem Rasen gütlich taten, wurde ihr Gesicht von einem vom Meer herüber wehenden, wunderbar erfrischenden Sprühnebel benetzt.

Als die Schaffe hörten, dass sie sich ihnen näherte trotten sie schwerfällig und ohne jede Grazie davon und verschwanden durch eine Lücke in der Hecke.

Lacey marschierte ebenfalls zu dieser Lücke im Gestrüpp hinüber und warf einen neugierigen Blick durch diese, bei dem sie jenseits des Gebüschs einen mit bunten Blumen bestandenen Garten entdeckte. Also hatte sie wohl einen Nachbarn. Zu ihren Nachbarn in New York hatte sie keinen Kontakt gehabt, denn diese waren wohl – wie David und sie auch – zum größten Teil berufstätige Paare gewesen, die morgens das Haus verließen und erst spät abends wieder dorthin zurückkamen. Aber die Nachbarn hier schienen es, wie ihr gepflegter Garten vermuten ließ, etwas ruhiger angehen zu lassen. Und sie hielten sogar Schafe! Wo Lacey früher gewohnt hatte, hatte es, soweit sie wusste, kein einziges Tier gegeben, denn schließlich hatten vielbeschäftigte Yuppies, wie David und sie oder ihre früheren Nachbarn keine Zeit, um sich Haustiere zu halten, geschweige denn Lust dazu, sich mit deren überall in der Wohnung herumliegenden Haaren und anderen Hinterlassenschaften zu belasten. Wie schön war es dagegen, dass sie jetzt mitten in der Natur lebte! Ja sie empfand sogar den Geruch von Schafmist als eine willkommene Abwechslung zu dem sterilen Appartementhaus in NYC, in dem sie bis vor kurzem gewohnt hatte.

 

Als sie sich wieder aufrichtete fiel Laceys Blick auf ein Stück Rasen, das weniger grün war als der Rest des Grases, sondern eher wie ein viel benutzter Trampelpfad wirkte. Dieser Pfad führte am Rande des Gebüsches entlang bis zum Rand der Klippe, wo sie ein fast ganz von Pflanzen zugewachsenes Tor erkennen konnte. Sie ging zu dem Tor und öffnete es.

Vor ihr lag eine grob in die Klippe geschlagene Treppe, die bis zum Strand hinunterführte. Vorsichtig machte Lacey sich daran, die Stufen, die ihr vorkamen als seien sie direkt einem zauberhaften Märchen entsprungen, hinunterzugehen.

Ivan hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie falls sie sich einmal danach sehnte Sand zwischen ihren Zehen zu spüren, dieses Verlangen innerhalb von wenigen Minuten schnell stillen könne, einfach weil es einen direkten Weg von ihrem Haus zum Strand gab. Und in New York hatte sie sich noch etwas darauf eingebildet, dass sie von zu Hause aus nur zwei Minuten Fußweg bis zur nächsten U-Bahn-Haltestelle hatte.

Inzwischen hatte Lacey das Ende der unebenen Stufen erreicht und war damit nur wenige Meter vom Strand entfernt. Sie sprang auf diesen hinab. Der Sand war so weich, dass ihre Knie den Aufprall auf dem Strand locker wegsteckten – und das obwohl ihre billig am Flughafen erworbenen Bootsschuhe diesen in keinster Weise abfedern konnten.

Lacey atmete tief durch und fühlte sich wild und völlig sorglos. Dieser Abschnitt des Strandes war menschenleer. Und unberührt. Lacey nahm an, dass dieses Stück vom Strand den meisten Leuten wohl zu weit von der Innenstadt und den dort befindlichen Läden entfernt lag, um sich dort hinaus zu begeben. Es war fast so als gehöre dieses Stück Strand nur ihr ganz allein.

Als Lacey zur Stadt hinüberschaute, sah sie den ins Meer hinausragenden Pier. Dieser Anblick weckte sofort Erinnerungen daran, wie sie und Naomi als Kinder dort gespielt hatten und ihr Vater ihnen erlaubt hatte, ihr Taschengeld in der dort gelegenen, gut besuchten Einkaufspassage auszugeben. Außerdem hatte es, wie Lacey sich jetzt – wie bei jedem zurückkommenden Stückchen Erinnerung freudig erregt – erinnerte, am Pier auch ein Kino gegeben. Mit seinen acht Sitzen war es ziemlich winzig gewesen und war seit seiner Gründung wohl auch so gut wie nie renoviert worden, denn seine wenigen Sitzplätze waren noch immer die ursprünglich eingebauten roten Plüschsessel gewesen. Ihr Vater hatte sie und Naomi mit in dieses Kino genommen, wo sie sich einen verworrenen japanischen Zeichentrickfilm angesehen hatten. Lacey fragte sich inzwischen, wie viele Erinnerungen ihr Ausflug nach Wilfordshire noch in ihr auslösen würde. Wie viele Erinnerungslücken würden sich während ihres Aufenthalts hier wohl noch schließen?

Da gerade Ebbe war, war viel vom Pier zu sehen. Lacey sah ein paar Leute, die mit ihren Hunden spazieren gingen und einige Jogger. Die Stadt erwachte langsam zum Leben. Vielleicht hatte ja inzwischen der eine oder andere Coffeeshop schon geöffnet. Lacey beschloss, den längeren Weg in die Stadt zu nehmen, der am Strand entlangführte und ging los.

Je näher sie der Stadt kam, desto weniger Klippen säumten den Weg und desto mehr Straßen kreuzten ihren Weg. Die zweite dieser Straßen führte Lacey auf die Promenade. Dort überkam sie eine neue Erinnerung, in der sie einen Marktplatz voller mit Zeltplanen überdachten Ständen sah, in denen Kleidung, Schmuck und Steine verkauft wurden. Die jeweiligen Standplätze der Verkaufsstände waren an mit Farbe auf den Boden gespritzten Nummern zu erkennen. Wieder spürte sie Erregung in sich aufsteigen.

Lacey verließ den Strand und ging in Richtung der Hauptstraße der Stadt. Bevor sie in die mit Wimpeln geschmückte Straße einbog entdeckte sie das an der Ecke der Straße stehende Pub „Coach House“, in dem sie Ivan kennengelernt hatte…

Alles war hier anders als in New York. Die Uhren tickten hier um einiges langsamer. Es gab keine hupenden Autos. Keiner niemand drängelte oder rempelte andere Leute an. Und trotzdem hatten zu Laceys Überraschung schon einige Coffeeshops geöffnet.

Sie betrat den ersten, der auf ihrem Weg lag – auch hier stand niemand Schlange – und besorgte sich einen schwarzen Americano-Kaffee und ein Croissant. Der Kaffee war perfekt geröstet, sehr vollmundig und mit einem leichten Schokoladengeschmack; und das Croissant war außen knusprig und innen weich und schmeckte herrlich nach guter Butter.

Als ihr vorher hungriger Magen schließlich Ruhe gab, beschloss Lacey sich auf die Suche nach vernünftiger Kleidung zu machen. Sie hatte vorhin eine am anderen Ende der Hauptstraße gelegene, nett aussehende Boutique entdeckt und war auch schon auf dem Weg dorthin als sie von einem köstlichen Duft nach Zucker von ihrem Ziel abgelenkt wurde. Sie sah in die Richtung, aus der dieser Duft kam und entdeckte einen Laden für hausgemachte Toffees, der gerade aufgeschlossen worden war. Unfähig dem Duft zu widerstehen betrat sie den Laden.

„Möchten Sie etwas probieren?“ fragte sie der Mann, der eine weiß und rosa gestreifte Schürze trug. Dabei zeigte er auf ein silbernes Tablett, auf dem Würfel in verschiedenen Brauntönen zu sehen waren. „Wir haben dunkle Schokolade, Milchschokolade, weiße Schokolade, Karamell, Toffee, Kaffee, eine fruchtige Variante und das Original.“

Lacey riss erstaunt die Augen auf. „Kann ich sie alle probieren?“ fragte sie.

„Aber sicher!“

Der Mann schnitt von jedem der vor ihm liegenden Würfel ein kleines Stück ab und reichte diese Lacey zum Probieren. Schon beim ersten Biss auf eine der Kostproben explodierten ihr sämtliche Geschmacksnerven.

„Das ist wundervoll“, erklärte sie kauend.

Dann versuchte sie das nächste Stück. Und das schmeckte sogar noch ein wenig besser als das erste.

Sie probierte sich durch alle Stückchen durch und fand dabei jedes einzelne immer noch besser als das Stück davor.

Kaum hatte Lacey das letzte Stückchen vernascht, rief sie auch schon aus: „Ein paar dieser Dinger muss ich einfach meinem Neffen schicken. Meinen Sie die überstehen es, wenn ich sie nach New York schicke?“

Der Mann grinste und zog eine flache, mit Frischhaltefolie ausgekleidete Pappschachtel hervor. „Mit unserer speziellen Lieferschachtel klappt das schon“, meinte er lachend. „Wir hatten so viele ähnlich geartete Anfragen, dass wir extra diese Schachtel entworfen haben. Denn die ist nicht nur so schmal, dass sie in den Briefkasten passt, sondern auch so leicht, dass der Versand unserer Ware nicht viel Porto kostet. Die dafür nötigen Briefmarken bekommen Sie übrigens auch gleich hier bei uns.“

„Wie fortschrittlich“, sagte Lacey. „Sie haben wirklich an alles gedacht.“

Der Mann befüllte die Schachtel mit je einem Würfel jeder Geschmacksrichtung, umwickelte die flache Schachtel danach mit Paketband und frankierte sie mit den passenden Briefmarken. Nachdem Lacey bezahlt und sich bei dem Mann bedankt hatte nahm sie das Päckchen, schrieb Frankies Namen und Adresse auf dessen Vorderseite und warf es dann in den traditionell in Rot gehaltenen Briefkasten auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein.

Als das Päckchen im Briefkasten verschwunden war fiel Lacey wieder ein, was sie heute Morgen eigentlich vorgehabt hatte – nämlich sich bessere Klamotten zuzulegen. Sie machte sich gerade von Neuem auf die Suche nach einer Boutique als sie wieder abgelenkt wurde, dieses Mal von der Auslage des Ladens neben dem Briefkasten. Diese zeigte den Strand von Wilfordshire, einschließlich des ins Meer hinausragenden Piers. Das Besondere an dieser Szene war aber, dass sie komplett aus verschiedenfarbigen Macarons nachgebildet worden war.

Lacey bereute sofort, dass sie das Croissant gegessen und auch, dass sie die ganzen Toffees durchprobiert hatte, denn bei diesem köstlichen Anblick lief ihr gleich wieder das Wasser im Mund zusammen. Sie nahm ihr Handy und knipste ein Foto davon, das sie den „Doyle Girlz“ schicken wollte.

Plötzlich ertönte hörte irgendwo neben ihr eine Männerstimme, die fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“

Lacey richtete sich auf. Die Stimme war vom Eingang des Ladens gekommen und gehörte dem Besitzer desselben, einem sehr gut aussehenden Mann von etwa Mitte vierzig mit dunkelbraunem Haar und einem kantigen Kinn, der lässig in seinem Türrahmen lehnte. Er hatte leuchtend grüne Augen, die von Lachfältchen umgeben waren, was ihn als einen Mann auswies, der Spaß am Leben hatte. Und seine gesunde Bräune zeigte, dass er oft und gerne in wärmeren Gegenden der Welt unterwegs war.

„Ich schaue mir nur die Schaufenster an“, sagte Lacey mit ziemlich gepresster Stimme. „Und Ihres gefällt mir sehr gut.“

Der Mann lächelte. „Das habe ich selbst arrangiert. Kommen Sie doch rein und probieren ein paar meiner Kuchen.“

„Das würde ich gern tun, nur habe ich leider schon gegessen“, erklärte Lacey. Wie auf ihre Worte hin schienen das Croissant und der Kaffee sowie die ganzen Toffee-Kostproben in ihrem Magen anfangen zu rumoren und ihr eine leichte Übelkeit zu bereiten. Doch plötzlich wurde Lacey bewusst, was wirklich mit ihr los war: sie fühlte sich zum ersten Mal seit ewiger Zeit wieder einmal zu jemandem hingezogen und hatte sogar so etwas wie Schmetterlinge im Bauch! Sie fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden.

Der Mann lachte. „Ich erkenne an Ihrem Akzent, dass Sie Amerikanern sind. Deshalb wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass es hier bei uns in England etwas gibt, das wir den „Elf-Uhr-Snack“ nennen und der zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen liegt.“

„Das glaube ich Ihnen nicht“, antwortete Lacey, merkte aber, wie ihre Lippen wie von selbst zu lächeln begannen. Was soll denn so ein Elf-Uhr-Snack‘ sein?“

Der Mann legte sich die Hand auf sein Herz. „Ich verspreche Ihnen, dass das kein Werbe-Gag ist! Der,Elf-Uhr-Snack‘ ist die perfekte Gelegenheit, um einen Tee zu trinken und ein Stück Kuchen, ein Sandwich oder ein paar Biskuits zu essen.“ Dabei zeigte er durch die geöffnete Tür seines Ladens in diesen hinein und in Richtung einer Glasvitrine, die mit kreativ gestalteten, sehr lecker aussehenden Süßigkeiten gefüllt war. „Oder man isst von jedem etwas.“

„Wichtig ist also nur, dass man Tee dazu trinkt“, witzelte Lacey.

„Ganz genau“, antwortete er mit vor Übermut glitzernden Augen. „Und bevor Sie etwas kaufen können Sie gerne alles durchprobieren.“

Laceys Widerstand schmolz dahin. Und sie wusste nicht so recht, ob dies daran lag, dass ihr Körper nach noch mehr Zucker verlangte, oder – was wahrscheinlicher war – an der geradezu magischen Anziehungskraft, die dieses Bild von einem Mann auf sie ausübte. Aber wie dem auch war, betrat Lacey den Laden.

Voller Vorfreude und mit wachsendem Appetit beobachtete sie den Mann dabei, wie er der Kühlvitrine ein wie eine Semmel aussehendes süßes Gebäck entnahm, es mit Butter, Marmelade und Sahne bestrich und dann in vier ordentliche Stücke teilte. Das alles tat er ziemlich theatralisch und dabei trotzdem scheinbar ganz beiläufig, etwa so als übe er routinemäßig eine Folge von Tanzschritten. Er legte die Gebäckstücke auf einen kleinen Porzellanteller, und vollendete seine unbefangene Darbietung damit, dass er Lacey denselben auf seinen Fingerspitzen balancierend entgegenhielt. „Et voilà.“

Laceys Backen wurden schon wieder heiß. Sein ganzes Benehmen war ihr vorgekommen als wolle er mit ihr flirten. Oder war das am Ende nur eine Art Wunschdenken ihrerseits?

Sie nahm sich eines der vier Gebäckstücke. Der Mann tat es ihr nach, wobei er sein Stück leicht gegen ihre stieß.

„Prost“, sagte er.

Auch Lacey brachte ein „Prost“ heraus.

Sie steckte das Gebäckstück in den Mund. Es war eine einzige Geschmackssensation. Eine üppige Schicht süßer Schlagsahne. Eine Schicht Erdbeermarmelade, die dem Ganzen eine gewisse Frische verlieh und damit ihre Geschmacksnerven in Schwingungen versetzte. Und erst das Gebäck selbst! Es war gehaltvoll und mit viel guter Butter gebacken und schmeckte nicht rein süß, sondern hatte auch eine leicht herzhafte Note – alles in allem war es einfach der perfekte Seelenwärmer.

Der Geschmack des Gebäcks löste bei Lacey plötzlich eine weitere Erinnerung aus. Dieses Mal sah sie sich, ihren Vater, Naomi und ihre Mutter an einem weißen Metalltisch in einem sonnenbeschienen Café sitzen und mit Schlagsahne und Marmelade gefüllte süße Teilchen essen. Diese Erinnerung war auf tröstliche Weise nostalgisch.

„Ich war schon mal hier!“ rief sie mit noch vollem Mund aus.

„Ach?“, antwortete der Mann belustigt.

Lacey nickte enthusiastisch. „Ich war als Kind nämlich schon einmal in Wilfordshire. Und das Gebäck hier nennt man ein Scone, oder?“

 

Mit echtem Interesse hob der Mann seine Augenbraue. „Das stimmt. Die Konditorei hat vor mir schon meinem Vater gehört und ich backe meine Scones noch immer nach demselben alten Familienrezept wie er.“

Lacey sah zum Fenster hinüber. Obwohl dort inzwischen eine Eckbank aus Holz mit babyblauen Sitzkissen und ein dazu passender rustikaler Holztisch stand, konnte sie sich noch gut vorstellen, wie diese Ecke des Ladens vor dreißig Jahren ausgesehen hatte. Plötzlich fühlte sie sich direkt in den Moment, den sie damals hier erlebt hatte, zurückversetzt. Das ging so weit, dass sie fast meinte wieder die leichte Brise von damals auf ihrem Nacken zu spüren, ebenso wie die ihre von den Süßigkeiten klebrigen Finger und den Schweiß, der sich in ihren Kniekehlen gebildet hatte…Sie konnte sich auch an das Lachen, das damals an ihrem Tisch geherrscht hatte – an das Lachen ihrer Eltern sowie deren fröhliche Gesichter – erinnern. Wenn sie sich nicht komplett irrte waren die beiden doch glücklich gewesen. Aber eigentlich war sie sich sicher, dass die gelöste Stimmung zwischen ihren Eltern damals echt war. Aber warum hatten sie sich dann nur getrennt?

„Geht es Ihnen gut?“ hörte sie den Mann sagen.

Diese Frage holte sie mit einem Schlag zurück ins Hier und Jetzt. „Ja. Es tut mir leid, aber ich war ganz in meine Erinnerungen versunken. Der Geschmack des Scones hat mich mal eben dreißig Jahre zurückversetzt.“

„Dann brauchen Sie jetzt aber dringend einen,Elf-Uhr-Snack‘“, lachte der Mann. „Kann ich Sie dazu verführen?“

Das Kribbeln, das Lacey durch den ganzen Körper fuhr, machte ihr bewusst, dass sie zu allem, was er ihr in seinem lieblichen Akzent und mit seinem freundlichen, verführerischen Blick vorschlagen würde „Ja und Amen“ sagen würde. Und so stimmte sie auch diesem Vorschlag von ihm zu und sei es auch nur weil ihre Kehle plötzlich zu trocken dazu schien ein einziges Wort des Widerspruchs herauszubekommen.

Er klatsche in die Hände. „Hervorragend! Ich werde Ihnen alles zeigen, was ich zu bieten habe. Ihnen sozusagen England kulinarisch zu Füßen legen.“ Er war gerade dabei, sich umzudrehen und in seinen Laden zu gehen, doch dann hielt er kurz inne und sah zu ihr zurück. „Ich heiße übrigens Tom.“

„Lacey“, antwortete sie und fühlte sich dabei ein wenig schwindelig, fast wie ein verknallter Teenager.

Während Tom in die Küche verschwand machte es sich Lacey auf dem Sitz am Fenster bequem. Sie versuchte, sich an weitere Erlebnisse aus ihrem damaligen Aufenthalt hier zu erinnern, doch leider vergebens. Die einzigen Dinge, an die sie sich erinnerte, waren der Geschmack von Scones und das Lachen ihrer Familie.

Einen Augenblick später kam der schöne Tom mit einem Kuchentablett, auf dem sich von der Rinde befreite Sandwiches, Scones und einige bunte Törtchen stapelten, aus der Küche zurück. Außerdem hatte er noch eine Teekanne dabei, die er neben das Kuchentablett auf den Tisch stellte.

„Das kann ich doch nicht alles essen!“, rief Lacey aus.

„Das ist für uns beide“, antwortete Tom. „Und es geht natürlich aufs Haus. Denn es wäre nicht höflich, die Dame beim ersten Date bezahlen zu lassen.“

Er setzte sich direkt neben sie.

Seine Ehrlichkeit überraschte Lacey. Ihr Puls begann erneut zu rasen. Es war schon so lange her, dass sie mit einem Mann geflirtet hatte. Sie hatte schon wieder Schmetterlinge im Bauch wie ein Teenager. Und fühlte sich genauso linkisch. Aber vielleicht lag das alles einfach nur daran, dass Tom Brite war. Vielleicht benahmen sich ja alle Engländer so.

„Beim ersten Date?“ hakte sie nach.

Doch noch bevor Tom antworten konnte bimmelte die Glocke über der Ladentür und eine Gruppe von ungefähr zehn Japanern fiel in den Laden ein. Tom sprang auf.

„Oh, Kundschaft.“ Er sah zu Lacey hinunter. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir unser Date verschieben?“

Ebenso selbstsicher wie sie ihn bisher erlebt hatte machte sich Tom auf den Weg zur Ladentheke und ließ Lacey ziemlich sprachlos zurück.

Da der Laden nun voller Touristen war, ging es in ihm inzwischen laut und umtriebig zu. Lacey verschlang ihren Elf-Uhr-Snack, hatte dabei aber immer ein Auge auf Tom. Doch der war von seinen Kunden ganz und gar mit Beschlag belegt.

Als sie fertig gegessen hatte wollte sie ihm zum Abschied noch kurz zuwinken, aber er war inzwischen wieder in seiner Küche und konnte sie deshalb nicht sehen.

Ein bisschen niedergeschlagen und extrem satt verließ Lacey die Konditorei und trat wieder auf die Straße hinaus.

Dort blieb sie abrupt stehen. Denn sie hatte direkt gegenüber der Konditorei einen leerstehenden Laden entdeckt. Und dieser leerstehende Laden löste so tiefe Gefühle in ihr aus, dass ihr fast der Atem wegblieb. Da war irgendetwas mit diesem Laden, etwas, das an zutiefst in ihrem Inneren verschütteten Erinnerungen aus ihrer Kindheit rührte. Etwas, das sie dazu zwang, sich den Laden näher anzusehen.