Mord im Herrenhaus

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel vier

Durch das Fenster des leerstehenden Ladens lugte Lacey in diesen hinein und versuchte auf diese Weise die Erinnerungen, die gerade in ihr aufgekommen waren, zu fassen zu bekommen. Aber da kam nichts mehr. Doch das, was sich da in ihr geregt hatte, war mehr als eine normale Kindheitserinnerung, sondern fühlte sich eher an als sei sie frisch verliebt.

Bei ihrem Blick durch das Fenster des Ladens stellte Lacey fest, dass dieser leer war und kein Licht darin brannte. Der Fußboden des Ladens war aus hellen Holzbrettern gefertigt. Die vielen Alkoven in seinem Inneren waren zum größten Teil mit eingebauten Regalen ausgestattet und an einer der Wände stand ein großer, hölzerner Schreibtisch. Der von der Decke hängende Leuchter war aus Kupfer und offensichtlich antik. Teuer, dachte Lacey. Den haben die beim Auszug bestimmt nicht absichtlich zurückgelassen.

Dann bemerkte Lacey, dass die Tür des Ladens nicht abgeschlossen war. So blieb ihr praktisch gar nichts anderes übrig, als hineinzugehen.

Im Laden roch es irgendwie metallisch und dazu nach Staub und Schimmel – eine Kombination, die bei Lacey sofort einen neuen Erinnerungsschub auslöste. Denn genauso hatte es auch im Geschäft ihres Vaters, einem alten Antiquitätenladen, gerochen.

Sie hatte diesen Laden geliebt. Als Kind hatte es nichts schöneres für sie gegeben als sich inmitten der ganzen alten Schätze aufzuhalten, mit den gruseligen alten Porzellanpuppen, die es dort gab, zu spielen und in Sammlerstücken von Kinder-Comics wie „Bunty“ oder „The Beano“ oder den ungeheuer seltenen und wertvollen Originalausgaben von „Rupert the Bear“ zu schmökern.

Doch am liebsten hatte sie in dem ganzen alten Kram herumgestöbert und versucht, sich ein Bild von den früheren Besitzern so manchen Stücks zu machen. Krimskrams aller Art gab es dort wirklich genug und jedem einzelnen Teil davon haftete derselbe metallisch-staubige-schimmelige Geruch an, der ihr auch hier entgegenwehte.

Und ebenso wie der Anblick des auf einer Klippe am Meer gelegenen Craig Cottage den alten Traum aus ihrer Kindheit, später einmal am Meer zu leben, neu entfacht hatte, erweckte dieser Laden ihren alten Traum, einmal einen eigenen Laden zu haben, zu neuem Leben.

Sogar der Grundriss des Ladens ähnelte dem ihres Vaters. Je mehr sie sich umblickte, desto mehr Erinnerungen aus den tiefsten Schichten ihres Gedächtnisses drängten nach oben und überdeckten ihre aktuellen Wahrnehmungen – so als würde man eine Lage Pauspapier über eine Zeichnung legen. Vor ihrem inneren Auge waren die eigentlich leeren Regale des Ladens plötzlich angefüllt mit schönen Dingen, vorwiegend mit Küchenutensilien aus der Zeit der Königin Viktoria, auf die ihr Vater spezialisiert gewesen war. Und dort drüben, auf der Ladentheke, sah sie die große kupferne Registrierkasse – die sperrige mit den schwergängigen Tasten, an der ihr Vater festgehalten hatte, weil sie angeblich „den Geist wachhalte“ und „die Fähigkeiten im Kopfrechnen fördere“ – stehen. Während sie meinte, die Worte ihres Vaters zu hören und immer mehr Bilder aus der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge auftauchten schlich sich ein verträumtes Lächeln auf ihre Lippen.

Sie war so sehr in ihren Tagtraum versunken, dass sie nicht hörte, dass sich von der Hinterseite des Ladens Schritte näherten. Sie bemerkte nicht einmal, dass der Mann, dem diese Schritte zuzurechnen waren und der nicht gerade freundlich dreinsah, durch die Hintertür trat und direkt auf sie zukam. Erst als jemand sie auf die Schulter tippte merkte sie, dass sie nicht mehr allein war.

So war es kein Wunder, dass dieses Antippen ihr einen solchen Schreck versetzte, dass ihr Herz einen Moment lang auszusetzen schien und sie beinahe laut aufgeschrien hätte. Als sie sich herumdrehte und das Gesicht des Fremden sehen konnte, sah sie einen älteren Herrn mit schütterem, weißem Haar und dicken Tränensäcken unter seinen strahlend blauen Augen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte der Mann in einem schroffen, unfreundlichen Ton.

Lacey war so erschrocken, dass eine ihrer Hände unwillkürlich direkt zu ihrem Herzen hinaufflog. Es dauerte einen Augenblick bis ihr bewusst wurde, dass es nicht etwa der Geist ihres Vaters gewesen war, der ihr gerade auf die Schulter geklopft hatte und auch, dass sie kein Kind mehr war, das sich im Laden ihres Vaters befand, sondern eine erwachsene Frau, die gerade Urlaub in England machte. Eine erwachsene Frau, die sich unbefugten Zutritt zu diesem Laden hier verschafft hatte.

„Oh, es tut mir leid!“ sprudelte sie hervor. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass jemand hier ist. Und die Tür war nicht abgeschlossen.“

Der Mann starrte sie misstrauisch an. „Haben Sie denn nicht gesehen, dass der Laden leer steht? Hier gibt es nichts zu kaufen.“

„Das weiß ich“, sprudelte Lacey in dem Versuch sich zu rechtfertigen und das Misstrauen des alten Mann zu beschwichtigen, heraus. „Aber ich musste einfach hier hereinkommen. Denn alles hier erinnert mich sehr an den Laden meines Vaters.“ Zu ihrer eigenen Überraschung füllten sich Laceys Augen plötzlich mit Tränen. „Ich habe ihn seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen.“

Das Verhalten des Mannes änderte sich von einer Sekunde zur nächsten. Plötzlich stand er ihr nicht mehr argwöhnisch und ablehnend, sondern eher freundlich gegenüber.

„Ach du meine Güte“, sagte er freundlich und schüttelte mitleidig den Kopf als er sah wie Lacey sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischte. „Ist schon in Ordnung, meine Liebe. Ihr Vater hatte also einen Laden wie diesen hier?“

Lacey war es peinlich, dass sie diesen Mann mit ihren Problemen belastet hatte. Darüber hinaus fühlte sich ziemlich schuldig, denn schließlich hatte er nicht nur darauf verzichtet, die Polizei zu rufen und sie von dieser aus seinem Laden entfernen zu lassen. Im Gegenteil: er hatte sich eher wie ein erfahrener Therapeut verhalten, und ihr freundliches Interesse entgegengebracht, und sie nicht verurteilt, sondern vielmehr versucht, sie ein wenig aufzubauen. Doch irgendwie konnte Lacey nicht anders als ihm ihr Herz auszuschütten.

„Er hatte einen Antiquitätenladen“, erklärte sie und obwohl immer Tränen ihre Wangen hinunterliefen huschte gleichzeitig auch ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. „Zuerst hat mich nur der Geruch des Ladens hier an die alten Zeiten erinnert, aber dann sind auf einmal noch viel mehr Erinnerungen auf mich eingestürmt. Sein Laden war genauso aufgeteilt wie dieser.“ Sie zeigte zu der Tür des hinteren Zimmers, durch die der Mann in den Laden gekommen sein musste. „Er nutzte sein Hinterzimmer als Lager, wollte aber eigentlich immer einen Auktionsraum daraus machen. Das Zimmer war sehr lang und ging auf einen Garten hinaus.“

Der Mann begann zu kichern. „Dann kommen Sie doch mal mit und schauen sich mein Hinterzimmer an. Es ist lang und geht auf einen Garten hinaus.“

Noch ziemlich angefasst von dem Vergleich, den er gezogen hatte, folgte Lacey dem Mann in das Hinterzimmer. Lang und schmal, wie es war, erinnerte es an ein Zugabteil und sah fast genauso aus wie das Hinterzimmer im Laden von Laceys Vater. Ohne sich weiter umzusehen durchquerte Lacey den Raum und ging direkt in den dahinter liegenden, wunderschönen Garten hinaus. Auch dieser war lang und schmal, erstreckte er sich doch bestimmt 15 Meter nach hinten. Der Garten war voller bunter Blumen und ein paar strategisch angepflanzte Bäume und Büsche spendeten gerade so viel Schatten, wie man brauchte. Nur ein kniehoher Zaun trennte diesen Garten von dem des daneben liegenden Ladens, der im Gegensatz zu dem grünenden und blühenden Paradies, in dem sie gerade stand, nur als Lagerfläche für das Geschäft genutzt zu werden schien; denn anstatt von Pflanzen gab es dort nur ein paar große, hässliche, graue Plastikschuppen und eine Reihe Abfalltonnen, die den Garten endgültig verschandelten.

Da wendete sich Lacey doch lieber wieder dem schönen Garten zu.

„Dieser Garten ist einfach unglaublich“, sprudelte sie hervor.

„Ja, er ist wirklich schön“, antwortete der Mann und hob dabei einen umgefallenen Blumentopf auf. „Die letzten Mieter des Ladens haben hier Einrichtungsgegenstände für Haus und Garten verkauft.“

Bei diesen Worten des Mannes fiel Lacey sofort die Traurigkeit auf, mit der er sie ausgesprochen hatte. Dann bemerkte sie, dass die Türen des großen gläsernen Gewächshauses, vor dem sie sich gerade befand, offenstanden und einige der Topfpflanzen darin anscheinend umgeworfen worden waren, Denn sie lagen mit zum Teil geknickten Stängeln und aus ihren Töpfen gefallener Erde auf dem Boden herum. Dieser Anblick erregte Laceys Neugier, denn es war schon seltsam in einem so gut gepflegten Garten wie diesem hier plötzlich vor einer Reihe umgeworfener Pflanzen zu stehen. So dachte Lacey inzwischen nicht mehr über ihren Vater nach, sondern über das, was wohl hier geschehen sein mochte.

„Was ist denn hier passiert?“ fragte sie.

Der ältere Mann wirkte niedergeschlagen. „Deshalb bin ich überhaupt hier. Ich habe nämlich heute Morgen einen Anruf bekommen, in dem man mir gesagt hat, dass hier alles leergeräumt worden wäre.“

Lacey schnappte nach Luft. „Sie sind ausgeraubt worden?“ Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, dass es hier, in dem schönen und ruhigen Badeort Wilfordshire, so etwas wie Verbrechen geben solle.

Das schlimmste Vergehen, das sie sich hier, in einem so netten Ort wie diesem, vorstellen konnte war, dass irgendein Lausbub einen zum Abkühlen auf eine Fensterbank gestellten Kuchen von diesem weg stibitzte.

Der Mann schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, nein. Die sind weggezogen. Sie haben ihr ganzes Zeug zusammengepackt und sind einfach gegangen. Haben mir nicht einmal Bescheid gesagt. Und haben mir auch noch ihre ganzen Schulden hinterlassen. Unbezahlte Gas-, Wasser- und Stromrechnungen und dazu noch einen Berg anderer Rechnungen.“ Er schüttelte traurig den Kopf.

 

Lacey war entsetzt zu hören, dass der Laden erst heute Morgen ausgeräumt und verlassen worden war und sie auf diese Weise unabsichtlich in ein sich gerade entwickelndes Drama hineingestolpert war.

„Das tut mir sehr leid“, sagte sie mit echtem Mitleid für den Mann. Jetzt war es an der Zeit, dass sie in die Rolle der Therapeutin schlüpfte und versuchte, den Mann ebenso zu trösten wie er es vorhin mit ihr gemacht hatte. „Wird es denn gehen?“

„Ich glaube nicht“, sagte er traurig. „Um die Schulden dieser Leute los zu werden, werden wir den Laden wohl verkaufen müssen. Und ehrlich gesagt, denke ich, dass wir, also meine Frau und ich, viel zu alt dafür sind, mit so einem Stress fertig zu werden.“ Dabei schlug er sich leicht gegen die Brust, als wolle er damit sagen, dass er ein schwaches Herz habe. „Es geht mir sehr nahe, den Laden verkaufen zu müssen“, meinte er mit brechender Stimme. „Denn er war jahrelang im Besitz meiner Familie. Ich liebe ihn. Wir hatten über die Jahre einige sehr interessante Mieter hier drin.“ Die Erinnerung an diese scheinbar erlebnisreiche Zeit brachte ihn einerseits zum Träumen und gleichzeitig zu einem melancholischen Lachen. „Aber leider geht es jetzt nicht mehr weiter. Wir sind dem ganzen Stress und den Belastungen, die uns der Laden mittlerweile machen würde, einfach nicht mehr gewachsen.“

Die Trauer, die man seiner Stimme anhören konnte, brach Lacey das Herz. In was für eine missliche Lage hatte man diesen Mann nur gebracht? Und wie schlecht musste es ihm und seiner Frau gehen? Das Mitleid, das sie für den alten Mann empfand war ähnlich stark wie der Jammer über ihre eigene Lage. Denn schließlich war sie damit konfrontiert, dass sie das ganze Leben, das sie sich zusammen mit David in New York aufgebaut hatte, verloren hatte und das ganz ohne jeden Grund. Sie wünschte sich sehr, dass sie das Problem des alten Mannes in ihre Hand nehmen und aus der Welt schaffen könnte.

Und so platzte noch bevor sie eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, was sie da eigentlich sagte, aus ihr heraus: „Ich miete den Laden“.

Vor Überraschung schossen die weißen Augenbrauen des Mannes nach oben. „Ich glaube ich habe nicht richtig gehört, was Sie gerade gesagt haben.“

„Ich miete den Laden“, wiederholte Lacey schnell, um zu verhindern, dass ihr logisches Denken zurückkam und ihr einen Strich durch diese blitzartig getroffene Entscheidung machen konnte.

„Sie können den Laden nicht verkaufen. Dafür hat er – wie Sie selbst sagen – eine viel zu lange Geschichte in ihrer Familie. Da hängen doch jede Menge Erinnerungen dran. Und ich bin super vertrauenswürdig. Ich habe Erfahrung. Naja, wenigstens sozusagen.“

In diesem Moment dachte sie wieder an die Kontrolleurin mit den dunklen Augenbrauen vom Flughafen zurück, die ihr gesagt hatte, dass sie, falls sie in England arbeiten wolle, ein Visum bräuchte und wie sie ihr im Brustton tiefster Überzeugung geantwortet hatte, dass arbeiten das letzte wäre, was sie hier tun wolle.

Und wie sollte es dann mit Naomi weitergehen? Und wie mit ihrem Job bei Saskia? Wie sollte es überhaupt mit ihrem ganzen bisherigen Leben weitergehen?

Doch auf einmal spielte das alles keine Rolle mehr. Denn das Gefühl, das Lacey schon beim ersten Anblick dieses Ladens überkommen hatte, war so etwas Liebe auf den ersten Blick gewesen. Uns so war sie gerade dabei ins kalte Wasser zu springen.

„Und? Was sagen sie dazu?“ fragte sie den Mann.

Der alte Mann wirkte ziemlich überrascht, was ihm Lacey aber nicht verdenken konnte. Da stand nun eine seltsame Amerikanerin, die Klamotten trug, die schwer nach Ramschladen aussahen und versuchte ihn zu überreden, dass er ihr seinen Laden vermieten solle. Und das, wo er sich doch schon dazu entschlossen hatte, diesen zu verkaufen.

„Also…ich…“, setzte er zur Antwort an. „Es wäre schon schön, den Laden noch ein wenig länger im Familienbesitz zu halten. Außerdem sind die Preise für den Verkauf von Immobilien zurzeit nicht gerade gut. Aber ich muss zuerst mit meiner Frau Martha über das alles reden.“

„Das ist doch klar“, sagte Lacey. Überrascht darüber, wie sicher sie sich ihrer Sache war kritzelte sie schnell ihren Namen und ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier und reichte es dem Mann. „Nehmen Sie sich so viel Zeit wie Sie brauchen.“

Denn sie selbst brauchte ja auch noch etwas Zeit, zum Beispiel um sich ein Visum zu besorgen, einen Businessplan auszuarbeiten, das nötige Geld zum Eröffnen eines eigenen Ladens aufzutreiben und überhaupt für alles.

Vielleicht sollte sie sich zu aller erst einmal das Buch „Einen Laden führen für Dummies“ besorgen.

„Lacey Doyle“, las der Mann von dem Zettel ab, den sie ihm gegeben hatte.

Lacey nickte. Noch vor zwei Tagen war ihr dieser Name noch komplett fremd vorgekommen und jetzt war er wieder ganz der ihre.

„Ich heiße Stephen“, antwortete er.

Sie gaben sich die Hand.

„Ich freue mich auf Ihren Anruf“, sagte Lacey.

Voller Vorfreude verließ sie den Laden. Wenn Stephen ihr diesen vermietete, dann würde sie sehr viel länger in Wilfordshire bleiben, als sie vorgehabt hatte. Eigentlich hätte ihr diese Vorstellung Angst machen müssen, doch stattdessen löste er reine Freude in ihr aus. Denn hier zu bleiben fühlte sich einfach richtig an – nein, mehr als nur richtig: hier zu bleiben fühlte sich an als wäre es ihr Schicksal.

Kapitel fünf

„Ich dachte du wärst auf Urlaub dort!“ schrie ihr Naomi aufgebracht durch ihr zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter festgeklemmtes Handy entgegen.

Seufzend versuchte sie die Tirade ihrer Schwester auszublenden und sich weiterhin auf die Tastatur des für die Nutzer der Bücherei von Wilfordshire bereitstehenden Computers, an dem sie saß, zu konzentrieren. Sie war gerade dabei, den Status ihres Online-Antrages zur Umwandlung ihres Urlaubervisums in ein Visum für Firmengründer zu überprüfen.

Nachdem sie Stephen kennengelernt hatte, hatte sie begonnen sich darüber zu informieren, was man mitbringen musste, wenn man in England ein Geschäft aufmachen wollte. Ihre diesbezüglichen Nachforschungen hatten ergeben, dass ihr als jemandem, der der englischen Sprache sehr gut mächtig war und etwas Geld auf der hohen Kante hatte, nur noch eines fehlte, um hier ein Geschäft aufmachen zu dürfen und dies war ein vernünftiger Businessplan. Doch einen solchen zu erstellen würde Lacey dank Saskia, die immer alle möglichen Arbeiten – auch solche, für die sie bei weitem nicht gut genug bezahlt wurde – auf sie abgewälzt hatte, auch keinerlei Probleme bereiten. Denn dadurch, dass sie im Zuge ihrer Arbeit für Saskia schon so einige Businesspläne erstellt hatte, war diese Aufgabe nichts Neues mehr für Lacey. Und so hatte es Lacey nur wenige Abende und noch weniger Mühe gekostet, einen Businessplan auszuarbeiten und einzureichen, wobei die Mühelosigkeit dieses Unterfangens, wie es Lacey schien, ihr nur ein weiteres Mal beweisen sollte, für wie richtig das Universum es erachtete, dass sie hierblieb und ihr Leben neu ordnete.

Als sie dann in der offiziellen Webseite der britischen Regierung eingeloggt war sah sie, dass ihr Antrag auf Erstattung eines Visums für Firmengründer immer noch unter „in Bearbeitung“ lief. Da sie so sehr darauf brannte, endlich loslegen zu können, zog sie dieses weitere Hängenbleiben in der Warteschlange der Behörden ein wenig herunter. Also konzentrierte sie sich lieber wieder auf Naomi und das, was diese ihr am Telefon zu sagen hatte.

„ICH KANN EINFACH NICHT VERSTEHEN, dass du dort hinziehen willst!“ schrie ihre Schwester gerade. „Und auch noch für immer!“

„Es ist doch gar nicht für immer“, versuchte Lacey sie zu beruhigen. Schließlich hatte sie im Laufe der Jahre genug Erfahrung darin sammeln können, Naomi im Falle der Fälle nur ja nicht noch weiter aufzuregen als sie sowieso schon war. “Das Visum ist auf zwei Jahre begrenzt.“

Oh, das hätte sie wohl besser nicht gesagt.

„ZWEI JAHRE?“ brüllte Naomi, die anscheinend am Zenit ihrer Wut angekommen war.

Lacey rollte mit den Augen. Sie hatte schon von vorne herein geahnt, dass ihre Familie nicht hinter ihrer Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen, stehen würde. So hatte sie Naomi, so lange sie in New York gelebt hatte, immer wieder als Babysitterin eingesetzt und für ihre Mutter hatte sie des Öftern als eine Art moralische Unterstützung und/oder Seelentrösterin zur Verfügung stehen müssen. So war ihre von Freude übersprudelnde letzte Nachricht an die Doyle Girlz bei diesen eingeschlagen wie eine Atombombe; und zwar so sehr, dass Lacey auch jetzt – einige Tage später – immer noch mit dem daraus resultierenden Niederschlag zu kämpfen hatte.

„Ja, Naomi“, antwortete sie niedergeschlagen. „Zwei Jahre. Ich denke, die habe ich mir verdient. Ich habe David vierzehn Jahre meines Lebens geopfert und meinem Job fünfzehn Jahre. Ich habe neununddreißig Jahre meines Lebens in New York City verbracht. Mensch Naomi – und das, wo ich bald vierzig werde! Wünschst du dir wirklich für mich, dass ich mein ganzes Leben lang an einem einzigen Ort leben soll? Soll ich, wenn es nach dir geht, mein ganzes Leben lang nur einen Job haben? Und nur einen Mann?“

Kaum hatte sie ihre letzten Worte ausgesprochen, erschien Toms markantes Gesicht vor ihrem inneren Auge und sofort wurden ihre Backen wieder warm.

Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihr eventuelles neues Leben zu planen, dass sie bisher noch nicht dazu gekommen war, der Konditorei einen zweiten Besuch abzustatten – und statt eines ausgiebigen, gemütlichen Brunchs in ihrem Garten bestand ihr Frühstück zurzeit aus einer meist unterwegs gegessenen Banane und einem aus einer Instant-Mischung aus dem Lebensmittelladen „gebrühten“ Frappuccino. Und es hatte bis gerade eben gedauert bis es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen war, dass sie – wenn sie endlich einmal alle Formalitäten hinsichtlich des Ladens von Stephen und Martha erledigt hätte – in Toms direkter Nachbarschaft arbeiten würde. Dann würde sie nur zum Fenster ihres Ladens hinausschauen müssen, um ihn jeden Tag zu sehen. Bei diesem Gedanken wurde ihr schon wieder ganz schwummerig zu Mute.

„Und was ist mit Frankie?“ jammerte Naomi am anderen Ende der Leitung und holte sie damit zurück in die Realität.

„Ich habe ihm ein paar Toffees geschickt.“

„Er braucht seine Tante!“

„Ich bin immer noch für ihn da! Ich bin ja nicht tot, sondern will nur einmal eine Zeit lang wo anders leben.“

Doch ihre kleine Schwester legte einfach auf.

Oh Mann, wie kann sich jemand, der 36 Jahre alt ist, bloß benehmen als wäre er gerade mal 16, dachte sich Lacey mit einer gewissen Ironie.

In dem Moment als sie das Handy zurück in ihre Tasche steckte bemerkte Lacey ein Flickern auf der geöffneten Bildschirmseite vor ihr. Der Status ihres Antrags auf ein Visum war von „in Bearbeitung“ in „genehmigt“ geändert worden!

Lacey sprang von ihrem Stuhl auf, gab einen Freudenschrei von sich und boxte vor lauter Übermut in die Luft und erschreckte damit die meist älteren Menschen, die an den anderen Computern der Bibliothek saßen so sehr, dass diese ihre Solitaire-Spiele für einen Augenblick unterbrachen und zu ihr herübersahen.

„Tut mir leid!“ rief Lacey, wobei sie versuchte ihre freudige Erregung etwas in den Griff zu bekommen.

Vor lauter Ehrfurcht ganz atemlos geworden ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Sie hatte es geschafft! Jetzt hatte sie grünes Licht, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Und die Tatsache, dass das alles bisher recht leicht zu bewerkstelligen gewesen war, ließ sie wieder glauben, dass das Schicksal seine schützenden Hände über ihr Vorhaben hielt…

Doch da war noch ein letztes Hindernis. Sie musste noch mit Stephen und Martha über die Vermietung des Ladens sprechen,

* * *

Obwohl Lacey bei ihrem Stadtbummel recht entspannt erscheinen mochte war sie alles andere als das. Denn sie wollte sich nicht allzu weit von dem Laden wegbegeben, wollte sie doch nach Stephens Anruf mit ihrem Scheckheft und einem Stift bewaffnet schnellstmöglich zu diesem zurücklaufen und den Mietvertrag unterschreiben, und zwar noch bevor die warnende Stimme in ihrem Inneren ihr davon abraten konnte. In der Zwischenzeit konnte und wollte sie sich erst einmal nach ein paar neuen Outfits umschauen. Als sie dann noch mit einem ihrer billigen Bootsschuhe vom Flughafen an dem hiesigen Kopfsteinpflaster hängenblieb, stolperte und sich den Knöchel verstauchte wurde ihr endgültig klar, dass sie die ganzen Billig-Klamotten, die sie am Flughafen gekauft hatte, loswerden und durch vernünftigere Kleidung ersetzen musste, wenn sie als zukünftige Geschäftsfrau wahr und ernst genommen werden wollte.

Aus diesem Grund machte sie sich auf den Weg zu der Modeboutique, die neben ihrem – hoffentlich – baldigem eigenen Laden lag.

 

So kann ich mich auch gleich mit meinen neuen Nachbarn bekannt machen, dachte sie sich.

Sie betrat den sehr sparsam eingerichteten Laden, in dem es auch nur wenige ausgewählte Stücke zu kaufen zu geben schien. Die Frau hinter der Ladentheke sah auf, um die Besucherin zu betrachten, rümpfte aber beim Anblick von Laceys Klamotten deutlich sichtbar die Nase. Die Frau war spindeldünn und wirkte ziemlich hart, hatte aber ihr lockiges braunes Haar ganz genauso frisiert wie Lacey das ihre. Lacey dachte amüsiert, dass die andere, die ein schwarzes Kleid trug, aussah wie ein böser Klon von ihr.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte die Frau mit einer dünnen, unangenehmen Stimme.

„Nein, danke“, antwortete Lacey. „Ich weiß was ich suche.“

Zuerst nahm sie sich einen Zweiteiler, der im selben Stil gehalten war wie die Sachen, die sie üblicherweise in New York getragen hatte, von einer der Kleiderstangen, hielt dann aber inne. Wollte sie wirklich wieder so aussehen wie früher? Und dieselbe Art Kleidung tragen? Oder wollte sie sich nicht lieber neu erfinden?

Sie wandte sich der Verkäuferin zu und sagte: “Ich glaube ich brauche doch etwas Hilfe.“

Daraufhin kam die Frau zwar hinter der Ladentheke hervor und ging zu Lacey hinüber, wirkte dabei aber weiterhin ziemlich unbeteiligt. Man merkte ihr deutlich an, dass sie es für Zeitverschwendung hielt, sich mit Lacey abzugeben – denn welche Frau, die – wie es aussah – normalerweise in Second-Hand und Ramschläden einkaufte, hatte schon genug Geld, um in einer Boutique wie dieser einkaufen zu können? Deshalb freute sich Lacey schon auf den Moment, in dem sie dieser hochnäsigen Trulla ihre Kreditkarte unter die Nase halten könnte.

„Ich brauche etwas für die Arbeit“, sagte Lacey. „Schon formell, aber trotzdem nicht zu steif, wenn Sie wissen, was ich meine?“

Die Frau blinzelte. „Und was machen Sie beruflich?“

„Ich mache in Antiquitäten.“

„In Antiquitäten?“

Lacey nickte. „Yup, in Antiquitäten.“

Die Frau holte ein Teil von dem Kleiderständer. Es war ein modischer, ein wenig ausgefallener und leicht androgyner Hosenanzug. Lacey nahm den Anzug mit in die Umkleidekabine und probierte, ob er ihr von der Größe her passte. Als sie sich in diesem Outfit im Spiegel sah musste sie unweigerlich grinsen. Sie fand, dass sie darin irgendwie cool aussah. Auch wenn die Verkäuferin wie eine Spitzmaus aussah, so hatte sie doch einen untrüglich guten Geschmack und wusste genau, wie man die Vorzüge einer Figur am besten hervorhob.

Lacey trat aus der Umkleidekabine heraus. „Er ist einfach perfekt. Ich nehme ihn. Und außerdem noch vier weitere, nur jeden davon in einer anderen Farbe.“

Die Augenbrauen der Verkäuferin schossen nach oben. „Wie bitte?“

In diesem Moment begann Laceys Handy zu klingeln. Als sie auf das Display schaute, sah sie dort Stephens Nummer stehen.

Ihr Herz tat einen Sprung. Das war er jetzt also! Der Anruf, auf den sie gewartet hatte! Der Anruf, der über ihre Zukunft entschied!

„Ich nehme ihn“, wiederholte Lacey, die vor lauter freudiger Aufregung fast keine Luft mehr bekam, in Richtung der Verkäuferin. „Und dazu noch vier weitere in verschiedenen Farben, die Sie aussuchen dürfen.“

Die ziemlich verwirrt wirkende Verkäuferin ging zur Hintertür des Ladens hinaus, um – wie Lacey annahm – in den hässlichen grauen Containern nach weiteren Exemplaren ihres neuen Outfits zu suchen.

Inzwischen nahm Lacey ihren Anruf entgegen. „Stephen?“

„Hallo Lacey. Martha und ich sind im Laden. Wenn Sie möchten können Sie gerne vorbeikommen und dann reden wir.“

Das hörte sich so vielversprechend an, dass Lacey einfach lächeln musste.

„Ja, gerne. In fünf Minuten bin ich bei Ihnen.“

Die Verkäuferin kam mit den Armen voller Anzüge für Lacey zurück. Der Blick, den diese auf die Stücke ergatterte, bestätigte ihr, dass die Farbauswahl, die die Frau getroffen hatte – hautfarben, schwarz, marineblau und altrosa- ihr zusagte.

„Möchten Sie die auch noch anprobieren?“, fragte die Verkäuferin.

Lacey schüttelte den Kopf. Denn sie hatte es jetzt eilig, ihre Einkäufe hinter sich zu bringen und so schnell wie möglich ein Haus weiter zu gehen, weswegen sie ungeduldig zur Tür der Boutique hinüberschaute.

„Nicht wenn die Sachen dieselbe Größe haben wie das Exemplar, das ich noch anhabe. Ich vertraue darauf, dass alles okay ist. Setzen Sie sie einfach auf meine Rechnung“, leierte sie schnell und mit ungeduldiger Stimme herunter. „Und das hier möchte ich bitte gleich anbehalten.“

Doch die Verkäuferin ließ sich nicht hetzen. Wie Lacey zum Fleiß gab sie die ganzen Teile einzeln in die Kasse ein und schlug sie danach ebenso sorgfältig wie langsam in Seidenpapier ein.

„Warten Sie!“, rief Lacey als die Verkäuferin nach einer Papiertüte griff, in die sie ihre neuen Anzüge stecken wollte. „Ich kann keine Einkaufstüte mit mir herumtragen. Ich brauche eine Handtasche. Aber eine gute.“ Dabei wanderte ihr Blick zu den Handtaschen, die auf einem hinter der Verkäuferin stehenden Regal aufgereiht waren. „Können Sie mir bitte eine davon aussuchen, die zu meinen neuen Sachen passt?“

Die Verkäuferin machte ein Gesicht als hätte sie es mit einer Verrückten zu tun. Dennoch drehte sie sich um, betrachtete die zum Verkauf stehenden Taschen, um sich dann zielsicher für eine überdimensionierte schwarze Clutch mit einer goldfarbenen Schließe zu entscheiden.

„Die ist perfekt“, meinte Lacey, wobei sie ungeduldig von einem Bein aufs andere trat, wie eine Sprinterin, die auf den Startschuss für einen Lauf wartete. „Setzen Sie sie auf die Rechnung.“

Die Frau tat wie geheißen und begann dann damit, Laceys neue Sachen sorgfältig in der Handtasche zu verstauen.

„So, das wird-“

„SCHUHE!“ unterbrach sie Lacey. Wie schusselig sie doch war. Schließlich waren es doch ihre grässlichen Bootsschuhe gewesen, die sie erst in diesen Laden geführt hatten. „Ich brauche Schuhe!“

Die Verkäuferin schien immer weniger begeistert von Lacey und ihren Wünschen zu werden. Vielleicht dachte sie, dass Lacey ihr einen Streich spielte und sie am Ende mit dem ganzen Kram sitzen lassen würde. „Die Schuhe stehen dort drüben“, sagte sie kühl und zeigte in die entsprechende Richtung.

Lacey begutachtete die kleine Auswahl wunderschöner Stöckelschuhe, die sie in ihrer Zeit in New York City, in der sie es ganz normal gefunden hatte wunde Füße zu haben, sicher gerne getragen hätte. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass inzwischen alles anders war. Sie musste keine unbequemen Schuhe mehr tragen.

Ihr Blick fiel auf ein Paar praktisch aussehende, schwarze Budapester. Da sie fand, dass diese Schuhe perfekt zu ihren neuen, androgyn angehauchten Anzügen passen würden, steuerte sie direkt auf diese zu.

„Ich nehme die hier“, sagte sie und stellte die Budapester auf die Ladentheke und damit vor die Nase der Verkäuferin.

Die Frau fragte gar nicht erst, ob Lacey die Schuhe anprobieren wolle, sondern fügte sie ohne Weiteres zu der Liste der bereits von dieser erstandenen Kleidungsstücke in ihrer Kasse hinzu. Der dort inzwischen aufgelaufene, vierstellige Rechnungsbetrag brachte sie zu einem Hüsteln, das sie diskret mit ihrer vor ihren Mund gehaltenen Faust abmilderte.

Lacey zückte ihre Kreditkarte, zahlte, zog ihre neuen Schuhe an, bedankte sich bei der Verkäuferin, verließ den Laden nach hinten hinaus und sprang von dessen Garten auf das daneben liegende, leerstehende Grundstück hinüber. Die Hoffnung, dass ihr Stephen in wenigen Augenblicken den Schlüssel für den Laden übergeben würde und sie auf diese Weise die Nachbarin der gelangweilten Verkäuferin aus der Boutique, in der sie sich gerade eine komplette neue Identität zusammengekauft hatte, werden würde, gab ihr ungeheuren Auftrieb.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?