Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Es waren nun drei Monate seit der Abreise des Fürsten vergangen, da erfuhr man in der Familie Iwolgin, daß Kolja auf einmal mit Jepantschins bekannt geworden sei und von den jungen Mädchen stets sehr freundlich aufgenommen werde. Warja hatte dies bald erfahren; übrigens war Kolja nicht durch Warja dort bekannt geworden, sondern »ganz auf eigene Hand«. Allmählich hatte man ihn bei Jepantschins liebgewonnen. Die Generalin war ihm anfänglich nicht sehr zugetan gewesen, hatte dann aber bald an ihm Geschmack gefunden »wegen seiner Offenherzigkeit, und weil er nicht schmeichelte«. Daß Kolja nicht schmeichelte, war durchaus richtig; er verstand es, mit ihnen auf völlig gleichem Fuße und unter Wahrung seiner Unabhängigkeit zu verkehren, wiewohl er der Generalin manchmal Bücher und Zeitungen vorlas; aber er war immer äußerst dienstfertig. Ein paarmal verzankte er sich grimmig mit Lisaweta Prokofjewna und erklärte ihr, sie sei eine Despotin, und er werde keinen Fuß mehr in ihr Haus setzen. Das erstemal war der Streit aus der »Frauenfrage« entstanden und das zweitemal aus der Frage, welche Jahreszeit zum Zeisigfang die geeignetste sei. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber die Generalin schickte ihm am dritten Tag nach dem Streit durch einen Diener ein Briefchen zu, in dem sie ihn dringend bat, wieder hinzukommen; Kolja sträubte sich nicht, sondern stellte sich sofort ein. Nur Aglaja zeigte sich ihm aus nicht recht verständlichem Grund dauernd nicht wohlgeneigt und behandelte ihn sehr von oben herab. Und doch sollte er gerade sie in Erstaunen versetzen. Eines Tages (es war in der Osterzeit) paßte Kolja einen Augenblick ab, wo er mit Aglaja allein war, und übergab ihr einen Brief, wobei er nur bemerkte, er sei angewiesen, ihn ihr unter vier Augen zuzustellen. Aglaja warf dem »eingebildeten Jungen« einen strengen Blick zu; aber Kolja wartete Weiteres nicht ab und ging hinaus. Sie öffnete den Brief und las:

»Sie haben mich früher einmal Ihres Vertrauens gewürdigt. Vielleicht haben Sie mich jetzt ganz vergessen. Wie kommt es, daß ich jetzt an Sie schreibe? Ich weiß es nicht; aber es wurde in mir ein unüberwindliches Verlangen rege, mich Ihnen, gerade Ihnen, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie oft hatte ich Sie alle drei dringend nötig; aber ich sah immer von Ihnen allen dreien nur Sie allein. Ich habe Sie nötig, dringend nötig. Von mir selbst habe ich Ihnen nichts zu schreiben und nichts zu erzählen. Das war auch gar nicht meine Absicht; ich wünsche nur von ganzem Herzen, daß Sie glücklich sein möchten. Sind Sie glücklich? Nur das wollte Ihnen sagen.

Ihr Bruder Fürst L. Myschkin.«

Als Aglaja diesen kurzen und recht sinnlosen Brief las, wurde sie plötzlich dunkelrot und versank in Nachdenken. Es würde uns schwer sein, den Gang ihrer Gedanken aufzuzeichnen. Unter anderm fragte sie sich: »Soll ich den Brief jemandem zeigen?« Sie schämte sich dessen gewissermaßen. Schließlich warf sie den Brief mit einem sonderbaren, spöttischen Lächeln in den Schubkasten ihres Nähtisches. Am folgenden Tag nahm sie ihn wieder heraus und legte ihn in ein dickes, stark in Halbfranz gebundenes Buch (so machte sie es immer mit ihren Briefschaften, um sie recht schnell zu finden, sobald sie sie gebrauchte). Erst eine Woche darauf sah sie zufällig, was es eigentlich für ein Buch war, in dem dieser Brief lag. Es war der ›Don Quijote de la Mancha‹. Aglaja lachte laut auf; es ist schwer zu sagen, warum.

Auch wissen wir nicht zu sagen, ob sie den Brief einer ihrer Schwestern zeigte.

Aber gleich bei der Lektüre des Briefes war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen: hat sich denn wirklich der Fürst diesen eingebildeten, großtuerischen Jungen dazu ausersehen, mit ihm Briefe zu wechseln, und ist dieser Junge vielleicht am Ende gar der einzige Mensch, mit dem der Fürst hier in Korrespondenz steht? So nahm sie denn eine sehr geringschätzige Miene an und unterwarf Kolja einem Verhör. Aber der sonst immer sehr empfindliche »Junge« beachtete diesmal diese Geringschätzung nicht im mindesten; sehr kurz und in recht trockenem Ton erklärte er der Fragerin, er habe zwar bei der Abreise des Fürsten von Petersburg diesem für jeden Fall seine ständige Adresse mitgeteilt und ihm dabei seine Dienste angeboten; aber dies sei der erste Auftrag, den er von ihm empfangen habe, und das erste Schreiben desselben; und zum Beweis der Wahrheit des Gesagten zeigte er ihr auch den Brief, den er selbst von dem Fürsten erhalten hatte. Aglaja machte sich kein Gewissen daraus, ihn zu lesen. In diesem Brief an Kolja stand:

»Lieber Kolja, seien Sie so gut, den hier beiliegenden Brief an Aglaja Iwanowna abzugeben. Bleiben Sie hübsch gesund!

Ihr Sie liebender Fürst L. Myschkin.«

»Es ist doch komisch, daß er sich einen solchen Knirps zum Vertrauten aussucht«, bemerkte Aglaja in beleidigendem Ton, gab Kolja den Brief zurück und ging geringschätzig an ihm vorbei.

Das war nun doch mehr, als Kolja ertragen konnte. Und er hatte noch gerade für diesen Besuch seinen Bruder Ganja, ohne ihm den Grund zu erklären, gebeten, ob er nicht dessen noch ganz neue grüne Krawatte umbinden dürfe! Er fühlte sich bitter gekränkt.

II

Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna bekam es auf einmal mit der Unruhe und trieb zum Aufbruch; nach kaum zwei Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um.

Einen oder zwei Tage nach dem Umzug der Familie Jepantschin traf Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin mit dem Morgenzug aus Moskau ein. Es war niemand zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen; aber beim Aussteigen aus dem Waggon kam es ihm auf einmal so vor, als ob aus der Menge, die die mit dem Zug Angekommenen umdrängte, der seltsame, brennende Blick zweier Augen auf ihn gerichtet sei. Als er jedoch aufmerksamer hinschaute, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Gewiß war es ihm nur so vorgekommen; aber es blieb doch bei ihm eine unangenehme Empfindung zurück. Zudem war der Fürst auch ohnedies traurig und nachdenklich und schien aus irgendeinem Grund in Sorge zu sein.

Ein Droschkenkutscher fuhr ihn nach einem Gasthof in der Litejnajastraße. Das Gasthaus war sehr gering. Der Fürst erhielt zwei kleine, dunkle, schlecht möblierte Zimmer, wusch sich und kleidete sich um; dann ging er, ohne etwas zu genießen, eilig aus, wie wenn er Zeit zu verlieren oder jemanden nicht zu Hause zu treffen fürchtete.

Wenn einer von den Leuten, die ihn vor einem halben Jahr bei seinem ersten Aufenthalt in Petersburg kennengelernt hatten, ihn jetzt gesehen hätte, so würde er vielleicht gefunden haben, daß sein Äußeres sich sehr vorteilhaft verändert habe. Und doch war das kaum der Fall. Nur die Kleidung war eine völlig andere geworden: er trug jetzt einen in Moskau von einem guten Schneider gearbeiteten Anzug; aber dieser Anzug hatte einen Fehler: er war gar zu sehr nach der Mode angefertigt (wie das gewissenhafte, aber nicht sehr talentvolle Schneider immer machen), und noch dazu für einen Menschen, der darauf nicht den geringsten Wert legte, so daß ein besonders Lachlustiger bei einem aufmerksamen Blick auf den Fürsten vielleicht Anlaß genommen hätte zu lächeln. Aber was kommt den Leuten nicht alles lächerlich vor.

Der Fürst nahm eine Droschke und fuhr nach den Peski. In einer der Straßen der Roschdestwenskaja fand er bald ein kleines Holzhäuschen. Zu seiner Verwunderung präsentierte sich dieses Häuschen äußerlich recht hübsch: es war sauber, gut in Ordnung gehalten und mit einem Vorgarten versehen, in welchem Blumen wuchsen. Die Fenster nach der Straße zu waren geöffnet, und aus ihnen wurde ein lautes, unaufhörliches Sprechen vernehmbar, ja fast ein Schreien, wie wenn jemand laut läse oder eine Rede hielte; ab und zu wurde diese Stimme durch das Lachen mehrerer anderer heller Stimmen unterbrochen. Der Fürst ging auf den Hof hinein, stieg ein paar Stufen hinan und fragte nach Herrn Lebedjew.

»Da ist er«, antwortete die Köchin, die die Tür geöffnet hatte. Sie hatte die Ärmel bis zum Ellbogen aufgestreift und wies mit dem Finger nach dem »Salon«.

In diesem Salon, der dunkelblau tapeziert war, und dessen sauberes Mobiliar einigen Anspruch auf Eleganz erhob (es befanden sich dort ein runder Tisch, ein Sofa, eine Bronzeuhr unter einem Glassturz, ein schmaler Spiegel am Fensterpfeiler und ein sehr altertümlicher kleiner Kronleuchter mit Glasprismen, der an einer bronzenen Kette von der Decke herabhing), mitten in diesem Zimmer stand Herr Lebedjew in eigener Person, mit dem Rücken nach dem eintretenden Fürsten zu, sommerlich gekleidet, ohne Rock, in bloßer Weste, und hielt, sich gegen die Brust schlagend, eine affektvolle Rede über irgendein Thema. Seine Zuhörer waren: ein fünfzehnjähriger Knabe, der ein recht lustiges, kluges Gesicht hatte und ein Buch in der Hand hielt, ein etwa zwanzigjähriges junges Mädchen, ganz in Trauerkleidung, mit einem Säugling auf dem Arm, ein dreizehnjähriges Mädchen, gleichfalls in Trauer, das sehr herzlich lachte und dabei den Mund gewaltig weit aufriß, und endlich ein sehr sonderbarer Zuhörer, ein auf dem Sofa liegender junger Mann von etwa zwanzig Jahren, sehr hübsch, mit langem, dichtem, dunklem Haar, großen, schwarzen Augen und einem kleinen Anflug von Bart. Dieser Zuhörer schien den Redenden häufig zu unterbrechen und ihm zu widersprechen, und darüber lachte wahrscheinlich das übrige Publikum.

»Lukjan Timofejewitsch, Lukjan Timofejewitsch! So hör doch! Sieh doch mal her ...! Na, bei euch ist auch alles vergebens!«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung ging die Köchin fort; sie ärgerte sich so, daß sie ganz rot geworden war.

Lebedjew sah sich um und stand, als er den Fürsten erblickte, eine Weile wie vom Donner gerührt; dann stürzte er mit einem knechtischen Lächeln auf ihn zu, wurde aber unterwegs von neuem ganz starr und sagte nur:

 

»Durch-durch-durchlauchtigster Fürst!«

Aber wie wenn er immer noch nicht imstande wäre, seine Fassung wiederzugewinnen, drehte er sich auf einmal um und stürzte ohne jede Veranlassung zunächst auf das Mädchen in Trauer zu, das das Kind auf dem Arm hielt, so daß diese vor Überraschung und Schreck zurückschwankte; dann aber ließ er diese und stürmte auf das dreizehnjährige Mädchen los, das in der nach dem Nebenzimmer führenden Tür auf der Schwelle stand, und auf dessen Gesicht als Überrest des kurz vorhergehenden Lachens noch ein Lächeln lag. Sie hielt dem Anschreien nicht stand, sondern flüchtete sogleich in die Küche; Lebedjew stampfte hinter ihr her sogar mit den Füßen auf den Boden, um sie noch mehr zu erschrecken; aber als er dem Blick des Fürsten begegnete, der ihn verlegen ansah, sagte er zur Erklärung:

»Nur ... nur aus Ehrerbietung, hehehe!«

»Aber Sie machen sich unnötige Mühe ...«, begann der Fürst.

»Sofort, sofort, sofort ... schnell wie der Wind!«

Damit lief Lebedjew rasch aus dem Zimmer hinaus. Erstaunt blickte der Fürst das junge Mädchen, den Knaben und den auf dem Sofa liegenden jungen Mann an, die alle drei lachten. Auch der Fürst fing an zu lachen.

»Er ist gegangen, sich den Frack anzuziehen«, sagte der Knabe.

»Es tut mir außerordentlich leid ...«, begann der Fürst.

»Ich dachte schon ... Sagen Sie, ist er vielleicht ...«

»Sie meinen betrunken?« rief eine Stimme vom Sofa her.

»Nicht die Spur! Er hat vielleicht drei bis vier Gläschen getrunken, na, oder auch fünf; aber was will das bedeuten? Das ist ja ganz normal!«

Der Fürst wollte sich zu der vom Sofa herkommenden Stimme hinwenden; aber nun begann das junge Mädchen zu sprechen und fragte mit dem offenherzigsten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht:

»Vormittags trinkt er nie viel; wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit zu ihm hergekommen sind, dann reden Sie jetzt mit ihm; es ist gerade die rechte Zeit. Wenn er abends nach Hause kommt, dann ist er allerdings manchmal betrunken; aber jetzt weint er meistens bis in die Nacht hinein und liest uns aus der Heiligen Schrift vor, weil unsere Mutter vor fünf Wochen gestorben ist.«

»Er ist wahrscheinlich deswegen weggelaufen, weil er noch nicht recht wußte, was er Ihnen antworten soll«, rief lachend vom Sofa her der junge Mann. »Ich möchte wetten, daß er vorhat, Sie zu betrügen, und sich jetzt überlegt, wie er es anzustellen hat.«

»Erst vor fünf Wochen! Erst vor fünf Wochen!« fiel der zurückkehrende Lebedjew ein, der inzwischen den Frack angezogen hatte. Er blinzelte mit den Augen und zog ein Taschentuch aus der Tasche, um sich damit die Tränen abzuwischen. »Meine Kinder sind mutterlos!«

»Aber warum kommen Sie denn in diesem zerlumpten Anzug herein?« sagte das Mädchen. »Da hinter der Tür haben Sie ja einen ganz neuen Oberrock liegen; haben Sie ihn nicht gesehen, nein?«

»Schweig still, du Schwätzerin!« schrie Lebedjew sie an.

»Willst du wohl!« Er trampelte wieder, um sie zu bedrohen, mit den Füßen.

Aber dieses Mal lachte sie nur. »Warum versuchen Sie, mich zu erschrecken? Ich bin ja nicht Tanja; ich werde nicht davonlaufen«, sagte sie. »Sie werden noch unsere kleine Ljubow hier aufwecken, und dann wird sie noch Krämpfe bekommen ... Weshalb schreien Sie denn so?«

»Nein, nein, nein! Schweig, schweig ...!« versetzte Lebedjew in größter Bestürzung, lief zu dem Kind hin, das auf dem Arm seiner Tochter schlief, und bekreuzte es mit erschrockener Miene mehrmals. »Herr Gott, erhalte sie mir; Herr Gott, erhalte sie mir! Das ist meine Kleinste, meine Tochter Ljubow«, wandte er sich an den Fürsten; »sie ist in legitimer Ehe von meiner unlängst verstorbenen Gattin Jelena geboren, die im Wochenbett starb. Und dieser Kiebitz hier ist meine Tochter Wjera, in Trauerkleidung. Und dieser, dieser, ja dieser ...«

»Nun? Bist du steckengeblieben?« rief der junge Mann.

»So fahr doch fort! Sei nicht verlegen!«

»Durchlaucht!« rief Lebedjew plötzlich mit Heftigkeit.

»Haben Sie von der Ermordung der Familie Schemarin in den Zeitungen gelesen?«

»Ja, ich habe davon gelesen«, erwiderte der Fürst einigermaßen verwundert.

»Nun, das ist hier der wahre Mörder der Familie Schemarin; er ist es, er!«

»Aber was reden Sie!« versetzte der Fürst.

»Das heißt, im übertragenen Sinn gesprochen; er ist der künftige zweite Mörder einer künftigen zweiten Familie Schemarin, wenn es noch einmal eine solche geben wird. Darauf bereitet er sich jetzt schon vor ...«

Alle lachten. Dem Fürsten kam der Gedanke, Lebedjew mache vielleicht wirklich diese Winkelzüge und Seitensprünge nur deshalb, weil er seine Fragen voraussehe, nicht wisse, was er darauf antworten solle, und Zeit zu gewinnen suche.

»Er revoltiert! Er stiftet Verschwörungen an!« schrie Lebedjew, als wenn er nicht mehr imstande wäre, sich zu beherrschen. »Na, bin ich denn imstande, na, bin ich denn berechtigt, einen solchen Verleumder, einen solchen Wüstling und Unmenschen als meinen leiblichen Neffen, als den einzigen Sohn meiner seligen Schwester Anisja anzuerkennen?«

»Hör doch auf, du betrunkenes Subjekt! Können Sie es glauben, Fürst, jetzt ist er auf den Einfall gekommen, sich mit Advokatur zu befassen und Vertretungen vor Gericht zu übernehmen; er hat sich auf die Rhetorik geworfen und redet mit seinen Kindern im Haus immer nur noch im höheren Stil. Vor fünf Tagen hat er vor den Friedensrichtern gesprochen. Und wen hat er da verteidigt? Nicht die alte Frau, die ihn gebeten und angefleht hatte, und die von so einem Schuft von Wucherer ausgeplündert worden war (fünfhundert Rubel, die ihr gehörten, ihr ganzes Vermögen, hatte der Mensch sich angeeignet), sondern eben diesen Wucherer selbst, einen gewissen Seidler, einen Juden, weil der versprochen hatte, ihm fünfzig Rubel zu geben ...«

»Fünfzig Rubel, wenn ich den Prozeß gewönne, und nur fünf, wenn ich ihn verlöre«, erklärte Lebedjew auf einmal in einer ganz andern Tonart als die, in der er bisher gesprochen hatte, und so, als ob er nie geschrien hätte.

»Na, er hat natürlich nichts ausgerichtet; es geht jetzt bei Gericht nicht mehr so zu wie ehemals; man hat ihn da nur ausgelacht. Aber er war mit sich sehr zufrieden. ›Denken Sie daran, meine unparteiischen Herren Richter‹, hat er gesagt, ›daß ein unglücklicher Greis, der nicht gehen kann und von seiner ehrlichen Arbeit lebt, seines letzten Stückes Brot beraubt wird; denken Sie an die weisen Worte des Gesetzgebers: Im Gericht soll Milde herrschen!‹ Und können Sie es glauben? Jeden Morgen deklamiert er uns hier dieselbe Rede vor, Wort für Wort, wie er sie da gehalten hat; es ist heute das fünftemal, daß er sie uns vorgetragen hat, jetzt eben, bevor Sie kamen; so gut hat sie ihm gefallen. Er sagt sich selbst darüber Elogen. Und er hat vor, noch so einen zu verteidigen. Sie sind ja wohl Fürst Myschkin? Kolja hat mir von Ihnen gesagt, Sie seien der klügste Mensch, der ihm bisher auf der Welt vorgekommen wäre ...«

»Das stimmt! Das stimmt! Der klügste Mensch auf der Welt!« fiel Lebedjew sofort ein.

»Na, der hier schwatzt das allerdings nur so hin. Der eine liebt Sie, und der andere möchte sich bei Ihnen in Gunst setzen; aber ich beabsichtige durchaus nicht, Ihnen zu schmeicheln; das sage ich Ihnen ein für allemal. Sie sind ja doch ein urteilsfähiger Mensch: seien Sie Schiedsrichter zwischen mir und ihm! Na, bist du damit einverstanden, daß der Fürst es übernimmt, unser Schiedsrichter zu sein?« wandte er sich an seinen Onkel. »Ich bin ordentlich froh, Fürst, daß Sie gerade hergekommen sind.«

»Ja, ich bin damit einverstanden!« rief Lebedjew in entschlossenem Ton und sah sich unwillkürlich nach dem Publikum um, das wieder heranzurücken begann.

»Aber was haben Sie denn eigentlich miteinander?« fragte der Fürst und runzelte ein wenig die Stirn.

Er hatte wirklich Kopfschmerzen und gelangte außerdem immer mehr und mehr zu der Überzeugung, daß Lebedjew ihm etwas vormachte und sich darüber freute, daß die Hauptsache hinausgeschoben wurde.

»Also Darlegung des Tatbestandes! Ich bin sein Neffe; darin hat er nicht gelogen, obwohl er sonst immer lügt. Ich habe mein Studium nicht beendet; aber ich will es beenden und werde meine Absicht durchsetzen; denn ich habe einen energischen Charakter. Inzwischen aber will ich, um zu existieren, eine Stellung bei der Eisenbahn mit fünfundzwanzig Rubeln Gehalt annehmen. Ich bekenne außerdem, daß er mir schon zwei- oder dreimal geholfen hat. Ich besaß zwanzig Rubel und habe sie verspielt. Können Sie es glauben, Fürst, ich war so gemein und nichtswürdig, das Geld zu verspielen!«

»An einen Schurken, an einen Schurken, dem er überhaupt nichts hätte bezahlen sollen!« schrie Lebedjew.

»Ja, an einen Schurken; aber bezahlen mußte ich es ihm«, fuhr der junge Mann fort. »Daß er aber ein Schurke ist, kann auch ich bezeugen, und zwar nicht deswegen, weil er dich durchgeprügelt hat. Es ist das nämlich ein in seiner Karriere gescheiterter Offizier, ein Leutnant a.D., von der ehemaligen Rogoschinschen Kohorte; er erteilt Unterricht im Boxen. Die treiben sich jetzt alle hier und da umher, seitdem Rogoschin sie weggejagt hat. Aber das Allerärgste war, daß ich wußte, daß er ein Schurke, ein Taugenichts und ein Dieb war, und mich doch mit ihm zum Spiel hinsetzte, und daß ich, als ich den letzten Rubel setzte (wir spielten Palki), bei mir dachte: ›Wenn ich verliere, gehe ich zu Onkel Lukjan und falle ihm zu Füßen; er wird es mir nicht abschlagen.‹ Das war eine unwürdige Handlungsweise, eine ganz unwürdige Handlungsweise! Das war eine bewußte Gemeinheit!«

»Ja, das war eine bewußte Gemeinheit!« wiederholte Lebedjew.

»Na, triumphiere nicht zu früh, warte noch!« rief der Neffe beleidigt. »Er freut sich schon. Ich kam zu ihm hierher, Fürst, und bekannte ihm alles: ich handelte ehrenhaft und beschönigte nichts, was ich getan hatte; ich schimpfte vor seinen Ohren auf mich selbst mit den stärksten Ausdrücken; alle hier Anwesenden sind Zeugen. Um die Stelle bei der Eisenbahn zu erhalten, muß ich mich unbedingt einigermaßen einkleiden; denn ich bin ganz zerlumpt. Da, sehen Sie mal meine Stiefel an! Sonst kann ich die Stelle nicht antreten, und wenn ich sie nicht zum bestimmten Termin antrete, so bekommt sie ein anderer; dann sitze ich wieder auf dem Trockenen und kann mich nach einer anderen Stelle umsehen. Jetzt bitte ich ihn nur um fünfzehn Rubel und verspreche, ihn nie wieder um Geld zu bitten und ihm überdies im Laufe der ersten drei Monate die ganze Schuld bis auf die letzte Kopeke zurückzuzahlen. Ich werde mein Wort halten. Ich bin imstande, monatelang von Brot und Kwas zu leben; denn ich habe einen festen Charakter. Für drei Monate werde ich fünfundsiebzig Rubel Gehalt bekommen. Mit dem Früheren zusammen werde ich ihm im ganzen fünfunddreißig Rubel schuldig sein; somit werde ich genug Geld haben, um ihm alles zu bezahlen. Na, mag er mir Prozente abnehmen, soviel er will; hol's der Teufel! Kennt er mich denn etwa nicht? Fragen Sie ihn selbst, Fürst: habe ich ihm nicht jedesmal, wenn er mir früher geholfen hatte, das Geld zurückbezahlt? Warum will er denn nun diesmal nicht? Er ist ärgerlich darüber, daß ich an diesen Leutnant meinen Spielverlust bezahlt habe; das ist der einzige Grund! So ein Mensch ist das; er gönnt weder sich noch einem andern etwas!«

»Und nun geht er nicht weg!« schrie Lebedjew. »Er hat sich hier hingelegt und geht nicht weg!«

»Das habe ich dir ja gesagt. Ich gehe nicht weg, ehe du mir nicht das Geld gibst. Warum lächeln Sie, Fürst? Sie finden wohl, daß ich unrecht habe?«

»Ich lächle nicht; aber meiner Ansicht nach haben Sie in der Tat bis zu einem gewissen Grad unrecht«, antwortete der Fürst mit Widerstreben.

»So sagen Sie doch geradeheraus, daß ich ganz und gar unrecht habe, und machen Sie keine gewundenen Redensarten! Was soll das heißen: ›bis zu einem gewissen Grad‹?«

»Nun, wenn Sie wollen, so will ich auch sagen, daß Sie ganz und gar unrecht haben.«

»Wenn ich will! Lächerlich! Denken Sie denn, ich weiß nicht selbst, daß meine Handlungsweise etwas Bedenkliches hat, daß das Geld ihm gehört, daß er seinen freien Willen hat, und daß das, was ich tue, auf Erpressung hinausläuft? Sie kennen das Leben nicht, Fürst. Wenn man auf diese Leute nicht einen Druck ausübt, erreicht man nichts bei ihnen. Man muß einen Druck auf sie ausüben. Mein Gewissen ist ja rein; ich kann mit gutem Gewissen sagen: ich werde ihn nicht zu Schaden bringen; ich werde ihm sein Geld mit Zinsen zurückerstatten. Er hat ja auch schon eine gewisse seelische Befriedigung gehabt, indem er gesehen hat, wie ich mich vor ihm erniedrigte. Was will er nun noch mehr? Wozu ist er denn gut auf der Welt, wenn er niemandem nützt? Und ich bitte Sie, was tut er denn selbst? Erkundigen Sie sich nur einmal, wie er andere behandelt, und wie er die Leute betrügt! Wie ist er denn zu diesem Haus gekommen? Ich lasse mir den Kopf abschneiden, wenn er Sie nicht schon betrogen hat und nicht überlegt, wie er Sie noch weiter betrügen kann! Sie lächeln? Sie glauben mir nicht?«

 

»Mir scheint, daß das alles mit Ihrer Sache nichts zu tun hat«, bemerkte der Fürst.

»Ich liege hier nun schon den dritten Tag, und was habe ich nicht alles zu sehen bekommen!« rief der junge Mann, ohne auf ihn zu hören. »Stellen Sie sich vor, daß er diesen Engel hier, dieses junge, jetzt mutterlose Mädchen, meine Kusine, seine Tochter, verdächtigt und in ihrem Schlafzimmer jede Nacht nach Liebhabern sucht! Auch zu mir pflegte er leise hereinzukommen und unter dem Sofa, auf dem ich liege, nachzusehen. Er ist vor Mißtrauen verrückt geworden; in jedem Winkel sieht er Diebe. Die ganze Nacht über springt er jeden Augenblick aus dem Bett, sieht nach den Fenstern, ob sie auch gut geschlossen sind, faßt die Türen an, guckt in den Ofen, und so treibt er es jede Nacht etwa siebenmal. Vor Gericht verteidigt er Gauner, und er selbst verrichtet dreimal in jeder Nacht seine Gebete, hier im Salon; er liegt dabei auf den Knien und schlägt halbe Stunden lang mit der Stirn auf den Fußboden. Und für wen betet er nicht alles! Was redet er dabei nicht alles in seiner Trunkenheit her! Er hat schon für das Seelenheil der Gräfin Dubarry gebetet; ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört; Kolja hat es auch gehört; er ist ganz verrückt geworden!«

»Sehen Sie nur, hören Sie nur, wie er mich beschimpft, Fürst!« schrie Lebedjew, der ganz rot geworden und wirklich außer sich war. »Aber das weiß er nicht, daß ich, der Trunkenbold und Liederjan, der Räuber und Übeltäter, ihn, diesen Spötter, als er noch ein ganz kleines Kind war, in Windeln gewickelt und in der Wanne gebadet habe, und daß ich bei meiner verwitweten, bettelarmen Schwester Anisja, selbst ein bettelarmer Mensch, die Nächte über ohne zu schlafen, aufgesessen und sie beide in ihren Krankheiten gewartet und dem Hausknecht unten Holz gestohlen und ihm Lieder vorgesungen und dazu mit den Fingern geschnipst habe, und das alles mit hungrigem Magen! Ja, so habe ich ihn gewartet und gepflegt, und nun lacht er über mich! Und was kümmert dich das, wenn ich auch wirklich einmal für das Seelenheil der Gräfin Dubarry meine Stirn bekreuzt hätte? Vor drei Tagen, Fürst, habe ich zum erstenmal in meinem Leben ihre Biographie im Konversationslexikon gelesen. Weißt du denn überhaupt, wer die Gräfin Dubarry war? Sag, weißt du es oder nicht?«

»Na, du bist wohl der einzige, der das weiß!« murmelte der junge Mann spöttisch, aber etwas gezwungen.

»Das war eine Gräfin, die aus der Schande hervorgegangen war und dann wie eine Königin regierte, und die von einer großen Kaiserin in einem eigenhändigen Schreiben ›ma chère cousine‹ angeredet wurde. Ein Kardinal, der päpstliche Nuntius, erbot sich beim lever du roi (weißt du, was das ist: lever du roi?), ihr die seidenen Strümpfe persönlich auf die nackten Füße zu ziehen, und meinte noch, das sei für ihn eine große Ehre – so eine hohe, heilige Persönlichkeit! Weißt du das? Ich sehe dir am Gesicht an, daß du es nicht weißt! Na, und wie ist sie gestorben? Antworte, wenn du es weißt!«

»Scher dich weg! Laß mich in Ruh!«

»Gestorben ist sie in der Weise, daß nach all diesen Ehren der Henker Sampson diese hohe Machthaberin auf die Guillotine schleppte, unschuldig, zum Ergötzen der Pariser Fischweiber, und sie vor Angst gar nicht begriff, was mit ihr vorging. Sie sah, daß er sie am Hals unter das Messer bog und mit Fußtritten hinschob (die Weiber lachten dazu), und sie schrie: ›Encore un moment, monsieur le bourreau, encore un moment!‹ Das bedeutet: ›Warten Sie nur noch ein Augenblickchen, Herr Bourreau, nur ein einziges Augenblickchen!‹ Und für dieses Augenblickchen wird Gott ihr vielleicht verzeihen; denn man kann sich nichts vorstellen, was für eine Menschenseele schlimmer wäre als diese misère. Weißt du, was das Wort misère bedeutet? Na, siehst du wohl, die schreckliche Lage, von der ich erzählt habe, das ist eben so eine misère. Als ich von diesem Aufschrei der Gräfin und von diesem einen Augenblickchen las, da hatte ich ein Gefühl, als ob man mir das Herz mit einer Zange zwickte. Und was geht dich das an, du Wurm, daß ich vor dem Zubettgehen in meinem Gebet ihrer, dieser großen Sünderin, gedacht habe? Vielleicht habe ich es gerade deswegen getan, weil, solange die Erde steht, für sie wahrscheinlich noch nie jemand seine Stirn bekreuzt hat oder es sich überhaupt hat in den Sinn kommen lassen. Denn es wird für sie in jener Welt eine angenehme Empfindung sein, daß sich ein ebenso großer Sünder, wie sie, gefunden hat, der auch für sie wenigstens ein einziges Mal auf Erden gebetet hat. Warum lachst du? Du glaubst nicht, du Atheist! Aber woher hast du dein Wissen? Und du hast das, was du erlauscht hast, auch noch lügnerisch entstellt; denn ich habe nicht einfach nur für die Gräfin Dubarry gebetet; ich habe so gesagt: ›O Gott, gib die ewige Ruhe der Seele der großen Sünderin Gräfin Dubarry und allen, die ihr gleichen!‹ und das ist doch etwas ganz anderes; denn es gibt viele solche großen Sünderinnen, die warnende Beispiele für die Veränderlichkeit des Glücks sind und viel gelitten haben und sich jetzt dort ängstigen und stöhnen und warten. Und auch für dich und alle, die dir gleichen, für alle frechen, unverschämten Gesellen deiner Art habe ich damals gebetet, wie du wissen wirst, da du mich niemals bei meinem Gebet hast belauschen mögen ...«

»Na, nun hör nur auf; laß es genug sein; bete, für wen du willst; hol dich der Teufel; warum bist du so ins Schreien hineingekommen?« unterbrach ihn der Neffe ärgerlich.

»Er ist außerordentlich belesen, Fürst; haben Sie das schon gewußt?« fügte er mit einem ungeschickten Lächeln hinzu. »Er liest jetzt immer Memoiren und allerlei andere Bücher.«

»Ihr Onkel ist aber bei alledem kein herzloser Mensch«, bemerkte der Fürst etwas unwillig.

Dieser junge Mann wurde ihm sehr zuwider.

»Sie werden ihn uns am Ende noch durch Ihr Lob verderben! Sehen Sie nur, wie er gleich die Hand aufs Herz legt und einen spitzen Mund macht; das ist ihm süß eingegangen! Herzlos ist er nicht, meinetwegen; aber ein Spitzbube ist er, das ist das Malheur; und außerdem ist er auch noch ein Trunkenbold und ist wie jeder Mensch, der ein paar Jahre lang getrunken hat, ganz aus dem Leim gegangen, so daß alles an ihm knarrt. Die Kinder hat er allerdings lieb, und meine selige Tante hat er gut behandelt ... Sogar mich hat er lieb, und er hat mir gewiß in seinem Testament einen Teil seines Vermögens hinterlassen.«

»Nichts hinterlasse ich dir!« schrie Lebedjew ingrimmig.

»Hören Sie mal, Lebedjew«, sagte der Fürst in bestimmtem Ton, indem er sich von dem jungen Mann abwandte, »ich weiß ja aus Erfahrung, daß Sie, wenn Sie wollen, auf geschäftlichem Gebiet Tüchtiges leisten können ... Ich habe jetzt sehr wenig Zeit, und wenn Sie ... Entschuldigen Sie, wie ist doch Ihr Vor-und Vatersname? Ich habe es vergessen.«