Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Ti-Ti-Timofej.«

»Und?«

»Lukjanowitsch.«

Alle, die im Zimmer anwesend waren, lachten wieder laut auf.

»Er lügt!« rief der Neffe. »Auch darin lügt er! Er heißt gar nicht Timofej Lukjanowitsch, Fürst, sondern Lukjan Timofejewitsch! Na, nun sag selbst, warum hast du denn gelogen? Dir kann es doch gleich sein, ob du Lukjan oder Timofej heißt, und was hat der Fürst daran für ein Interesse? Er schwindelt nur aus reiner Angewohnheit, versichere ich Ihnen!«

»Ist das wirklich wahr?« fragte der Fürst ungeduldig.

»Ich heiße allerdings Lukjan Tomofejewitsch«, gestand Lebedjew verlegen ein, indem er demütig die Augen niederschlug und wieder die Hand aufs Herz legte.

»Aber warum tun Sie denn das? Ich bitte Sie!«

»Aus Selbsterniedrigung«, flüsterte Lebedjew, der seinen Kopf immer tiefer und immer demütiger herabsinken ließ.

»Ach was! Was liegt denn darin für eine Selbsterniedrigung! Wenn ich nur wüßte, wo Kolja jetzt zu finden ist!« sagte der Fürst und wollte sich schon umdrehen, um wegzugehen.

»Ich will Ihnen sagen, wo Kolja ist«, erbot sich wieder der junge Mann.

»Nein, nein, nein!« rief Lebedjew aufgeregt und hastig.

»Kolja hat hier übernachtet, ist aber am Morgen weggegangen, um seinen General zu suchen, den Sie, Fürst, Gott weiß warum aus dem Schuldgefängnis losgekauft haben. Der General hatte noch gestern versprochen, er würde hierherkommen, um hier zu übernachten; aber er ist nicht gekommen. Am wahrscheinlichsten ist er die Nacht über im Gasthaus ›Zur Waage‹, nicht weit von hier, gewesen. Kolja ist also entweder dort oder in Pawlowsk bei Jepantschins. Er hatte Geld und wollte noch gestern hinfahren. Also er ist in der ›Waage‹ oder in Pawlowsk.«

»In Pawlowsk, in Pawlowsk wird er sein ...! Aber wir wollen in unser Gärtchen gehen und ... ein Täßchen Kaffee ...«

Und Lebedjew zog den Fürsten an der Hand hinaus. Sie verließen das Zimmer, durchschritten einen kleinen Hof und passierten ein Pförtchen. Dort befand sich wirklich ein sehr kleines, sehr hübsches Gärtchen, in welchem dank dem guten Wetter schon alle Bäume grün waren. Lebedjew ließ den Fürsten auf einem grün angestrichenen Holzbänkchen an einem in die Erde gegrabenen Tisch Platz nehmen und setzte sich selbst ihm gegenüber. Nach kurzer Zeit wurde wirklich der Kaffee gebracht. Der Fürst lehnte ihn nicht ab. Lebedjew fuhr fort, ihm mit kriecherischer Miene in großer Spannung in die Augen zu sehen.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so hübsches Hauswesen haben«, sagte der Fürst; aber sein Gesicht machte den Eindruck, als ob er an etwas ganz anderes dächte.

»Wir sind arme, unglückliche ...«, begann Lebedjew, sich zusammenkrümmend; aber er hielt inne.

Der Fürst blickte zerstreut vor sich hin und hatte seine letzte Bemerkung offenbar schon wieder vergessen. Es verging noch ungefähr eine Minute. Lebedjew beobachtete den Fürsten und wartete. »Nun also, wie steht es?« fragte der Fürst, der aus seinen Gedanken zu sich zu kommen schien. »Sie wissen ja selbst, Lebedjew, was wir beide miteinander zu verhandeln haben: ich bin infolge Ihres Briefes hergekommen; nun reden Sie!«

Lebedjew wurde verlegen; er wollte etwas sagen, brachte aber nur stotternde Laute heraus und konnte nichts Deutliches von sich geben. Der Fürst wartete ein Weilchen und lächelte trüb.

»Ich glaube Sie sehr gut zu verstehen, Lukjan Tomofejewitsch: Sie haben mich wahrscheinlich nicht erwartet. Sie dachten, ich würde mich aus meiner Zurückgezogenheit nicht gleich auf Ihre erste Benachrichtigung hin aufmachen, und schrieben mir, um Ihr Gewissen zu beruhigen. Aber Sie sehen, ich bin hergekommen. Nun lassen Sie es genug sein, und täuschen Sie mich nicht weiter! Hören Sie auf, zwei Herren zu dienen! Rogoschin ist schon drei Wochen hier; ich weiß alles. Haben Sie es schon wieder fertiggebracht, sie ihm zu verraten und zu verkaufen wie damals? Sagen Sie die Wahrheit!«

»Der Unmensch hat es selbst erfahren, ganz allein.«

»Schimpfen Sie nicht auf ihn; er hat Sie ja freilich schlecht behandelt ...«

»Geprügelt hat er mich, geprügelt!« fiel Lebedjew in großer Erregung ein. »Mit einem Hund hat er mich in Moskau gehetzt, die ganze Straße entlang, mit einem Jagdhund. Es war ein schreckliches Tier!«

»Sie halten mich für ein kleines Kind, Lebedjew. Sagen Sie mir im Ernst: hat sie ihn jetzt in Moskau verlassen?«

»Im Ernst, im Ernst, und wieder unmittelbar vor der Trauung. Der zählte schon die Minuten; aber sie reiste hierher nach Petersburg und kam geradewegs zu mir: ›Rette mich, beschütze mich, Lukjan‹, sagte sie, ›und sage dem Fürsten nichts ...!‹ Sie fürchtet sich vor Ihnen, Fürst, noch mehr als vor ihm, und das ist das Rätselhafte!« Lebedjew hielt mit schlauer Miene den Finger an die Stirn.

»Und jetzt haben Sie die beiden nicht wieder zusammengeführt?«

»Durchlauchtigster Fürst, was konnte ... was konnte ich dagegen tun?«

»Nun genug! Ich werde selbst alles in Erfahrung bringen. Sagen Sie mir nur: wo ist sie jetzt? Bei ihm?«

»O nein, ganz und gar nicht! Sie lebt immer noch ganz für sich. Sie sagt: ›Ich bin frei‹, und wissen Sie, Fürst, das ist bei ihr immer der Refrain: ›Ich bin noch vollkommen frei‹, sagt sie. Sie wohnt immer noch in der Petersburgskaja, im Haus meiner Schwägerin, wie ich Ihnen ja auch geschrieben habe.«

»Ist sie auch jetzt dort?«

»Ja, wenn sie nicht bei dem schönen Wetter in Pawlowsk ist, bei Darja Alexejewna, in deren Landhaus. Sie sagt: ›Ich bin vollkommen frei!‹ Noch gestern hat sie sich Nikolai Ardalionowitsch gegenüber sehr ihrer Freiheit gerühmt. Ein übles Zeichen!«

Lebedjew schmunzelte.

»Ist Kolja oft bei ihr?«

»Er ist leichtsinnig und unberechenbar und nicht diskret.«

»Sind Sie in neuerer Zeit dagewesen?«

»Ich gehe alle Tage hin, alle Tage.«

»Also waren Sie auch gestern da?«

»N-nein, vorvorgestern.«

»Wie schade, daß Sie angetrunken sind, Lebedjew! Sonst hätte ich Sie etwas gefragt.«

»Oh, nicht die Spur betrunken bin ich!«

Lebedjew machte geradezu ein finsteres Gesicht.

»Sagen Sie mir: in welchem Zustand befand sie sich, als Sie sie verließen?«

»Sie suchte ...«

»Sie suchte?«

»Es war, als ob sie immer etwas suchte, als ob sie etwas verloren hätte. Was die bevorstehende Ehe betrifft, so war ihr sogar der Gedanke daran zuwider, und sie faßte die bloße Erwähnung derselben als Beleidigung auf. An ihn selbst denkt sie nicht mehr als an ein Stückchen Apfelsinenschale, das heißt: doch mehr, sie denkt an ihn mit Furcht und Schrecken und verbietet einem sogar, von ihm zu reden; sie sehen einander nur, wenn es unbedingt nötig ist ... und er empfindet das außerordentlich schmerzlich! Aber sie wird ihrem Schicksal doch nicht entgehen ...! Sie ist unruhig, spottlustig, launisch, zänkisch..«

»Launisch und zänkisch?«

»Ja, zänkisch; denn es fehlte das vorige Mal wenig daran, daß sie mich wegen etwas, was ich gesagt hatte, an den Haaren gerissen hätte. Ich wollte sie durch die Offenbarung des Johannes gesund machen.«

»Wie? Was?« fragte der Fürst, der sich verhört zu haben glaubte.

»Durch Vorlesen aus der Offenbarung des Johannes. Sie ist eine Dame mit einem unruhigen Geist, hehe! Überdies habe ich die Beobachtung gemacht, daß sie eine große Neigung zu ernsten, wenn auch abseits gelegenen Gesprächsgegenständen hat. Sie liebt dergleichen und faßt es sogar als ein Zeichen besonderer Hochachtung auf, wenn man von solchen Dingen anfängt. Ja. Ich bin in der Auslegung der Offenbarung stark und beschäftige mich damit schon seit fünfzehn Jahren. Sie stimmte mir darin bei, daß wir jetzt bei dem dritten Pferd, dem Rappen, angelangt sind und bei dem Reiter, der ein Maß in seiner Hand hat, da ja in jetziger Zeit alles nach dem Maß und dem Vertrag geht und alle Menschen nur ihr Recht suchen: ›Ein Maß Weizen um einen Denar und drei Maß Gerste um einen Denar ...‹, und dann möchten sie sich noch einen freien Geist und ein neues Herz und einen gesunden Leib und alle andern Gaben obendrein bewahren. Aber auf Grund des bloßen Rechts können sie sich das nicht bewahren, und danach folgt das fahle Pferd und der, dessen Name Tod heißt, und nach ihm kommt dann die Hölle ... Darüber reden wir, wenn wir zusammenkommen, und es hat bei ihr starke Wirkung getan.«

»Sie selbst glauben daran?« fragte der Fürst, indem er Lebedjew mit einem eigentümlichen Blick ansah.

»Ich glaube daran und lege es aus. Denn ich bin arm und nackt und ein Atom im Strudel der Menschheit. Und wer achtet Lebedjew? Jeder spottet über ihn, und jeder versetzt ihm einen Fußtritt. Aber dort, bei dieser Auslegung, stehe ich den Großen dieser Welt gleich. Denn dabei kommt es auf den Verstand an! Und es hat auch schon ein hoher Würdenträger vor mir gezittert, auf seinem Lehnstuhl, als ihm ein Licht aufging. Seine Exzellenz Nil Alexejewitsch hatte vor zwei Jahren vor Ostern von mir gehört (ich war damals noch in seinem Departement angestellt), ließ mich durch Peter Sacharowitsch expreß aus dem Bureau zu sich in sein Arbeitszimmer rufen und fragte mich unter vier Augen: ›Ist das wahr, daß du ein Verkünder des Antichrists bist?‹ Und ich leugnete nicht und sprach: ›Ich bin es.‹ Und ich legte ihm alles aus und stellte es ihm dar, und ich milderte das Schreckliche nicht, sondern steigerte es noch unvermerkt, indem ich die allegorische Bücherrolle öffnete, und zog Schlüsse aus den Zahlen. Und er lachte; aber bei den Zahlen und den Ähnlichkeiten fing er an zu zittern und bat mich, das Buch zu schließen und wegzugehen, und zu Ostern wies er mir eine Remuneration an, und in der zweiten Woche nach Ostern hauchte er seine Seele aus.«

 

»Was reden Sie da, Lebedjew?«

»Ich sage es, wie es gewesen ist. Er fiel nach dem Mittagessen aus seiner Equipage ... mit der Schläfe schlug er gegen einen Prellstein, und wie ein kleines Kind, ganz wie ein kleines Kind, war er auf dem Fleck tot. Dreiundsiebzig Jahre war er nach der Rangliste alt geworden; er hatte eine rötliche Gesichtsfarbe, graues Haar und besprengte sich ganz mit Parfüm; und immer lächelte er, immer lächelte er, wie ein kleines Kind. Peter Sacharowitsch erinnerte sich damals noch an das, was vorhergegangen war, und sagte zu mir: ›Du hast es vorhergesagt.‹«

Der Fürst erhob sich. Lebedjew wunderte sich und war sogar ganz befremdet, daß der Fürst schon fort wollte.

»Sie sind jetzt so gleichmütig geworden, hehe!« erlaubte er sich unterwürfig zu bemerken.

»Ich fühle mich in der Tat nicht ganz wohl; der Kopf tut mir weh, wohl von der Reise«, antwortete der Fürst mit finsterem Gesicht.

»Sie sollten aufs Land gehen«, riet Lebedjew schüchtern.

Der Fürst überlegte.

»Ich will selbst in drei Tagen mit meiner ganzen Familie nach meinem Landhaus ziehen, damit sich auch der Säugling da kräftigt, und damit hier im Haus unterdessen alles zurechtgemacht wird. Ich ziehe ebenfalls nach Pawlowsk.«

»Sie ziehen auch nach Pawlowsk?« fragte der Fürst rasch. »Wie geht denn das zu? Ziehen hier alle Leute nach Pawlowsk? Und Sie haben, wie Sie sagen, dort ein eigenes Landhaus?«

»Alle Leute ziehen nicht nach Pawlowsk. Mir hat Iwan Petrowitsch Ptizyn eines von den Landhäusern überlassen, die ihm für ein Billiges da zugefallen sind. Es ist ein hübscher Ort und hochgelegen und grün und billig, und es herrscht da bon ton, und auch Musik ist da; darum ziehen so viele nach Pawlowsk. Ich wohne übrigens nur in einem Nebengebäude; das Landhaus selbst ...«

»Das haben Sie wohl vermietet?«

»N-n-nein. Noch nicht ... noch nicht definitiv.«

»Vermieten Sie es mir!« schlug der Fürst schnell vor.

Gerade darauf schien es Lebedjew abgesehen zu haben. Dieser Gedanke war ihm wenige Augenblicke vorher durch den Kopf gegangen. Ein Bedürfnis nach einem Mieter hatte er übrigens gar nicht mehr; ein solcher hatte sich bereits gefunden und ihn benachrichtigt, er werde das Landhaus vielleicht mieten. Lebedjew wußte bestimmt, daß er es nicht »vielleicht«, sondern sicher mieten werde; aber jetzt war ihm auf einmal ein seiner Meinung nach vielversprechender Gedanke gekommen, das Landhaus dem Fürsten zu überlassen, unter Benutzung des Umstandes, daß der bisherige Interessent sich nur unbestimmt ausgedrückt hatte. »Das ist ja ein eigentümliches Zusammentreffen und eine ganz neue Wendung der Dinge«, das war seine Empfindung. Er nahm den Vorschlag des Fürsten ordentlich mit Entzücken an und machte auf dessen direkte Frage nach dem Preis nur eine abwehrende Handbewegung.

»Nun, wie Sie wollen«, sagte der Fürst. »Ich werde mich erkundigen, was üblich ist, und Sie sollen nicht zu Schaden kommen.«

Sie verließen nunmehr beide den Garten.

»Ich könnte Ihnen ... ich könnte Ihnen ... wenn es Ihnen erwünscht wäre, könnte ich Ihnen eine sehr interessante Mitteilung machen, hochverehrter Fürst; ich könnte Ihnen etwas mitteilen, was sich auf denselben Gegenstand bezieht«, murmelte Lebedjew, der glückselig neben dem Fürsten einherscharwenzelte.

Der Fürst blieb stehen.

»Darja Alexejewna hat ebenfalls ein Landhaus in Pawlowsk.«

»Nun, und?«

»Ein gewisse Dame ist mit ihr befreundet und beabsichtigt anscheinend, sie häufig in Pawlowsk zu besuchen. Sie hat dabei eine bestimmte Absicht.«

»Nun?«

»Aglaja Iwanowna ...«

»Ach, hören Sie auf, Lebedjew!« unterbrach ihn der Fürst, als sei bei ihm ein wunder Punkt berührt. »Das verhält sich alles anders. Sagen Sie mir lieber, wann Sie umziehen! Mir ist es je eher um so lieber, da ich im Gasthaus ...«

Während dieses Gesprächs hatten sie den Garten verlassen, waren, ohne nochmals in das Haus zu gehen, über den Hof gegangen und näherten sich nun dem Torpförtchen.

»Das beste wäre«, meinte Lebedjew schließlich, »wenn Sie gleich heute vom Gasthaus zu mir zögen; übermorgen ziehen wir dann alle zusammen nach Pawlowsk.«

»Ich werde es mir überlegen«, erwiderte der Fürst nachdenklich und ging aus dem Tor.

Lebedjew sah ihm nach. Die plötzliche Zerstreutheit des Fürsten überraschte ihn. Dieser hatte sogar vergessen, beim Weggehen Adieu zu sagen, und nicht einmal mit dem Kopf genickt, was zu der Höflichkeit und Aufmerksamkeit des Fürsten, die Lebedjew recht wohl kannte, wenig stimmte.

III

Es ging schon auf zwölf. Der Fürst wußte, daß er bei Jepantschins in ihrer Stadtwohnung jetzt nur den dienstlich beschäftigten General treffen konnte, und auch den kaum. Er sagte sich, daß der General ihn womöglich sogleich mit Beschlag belegen und mit nach Pawlowsk hinausnehmen würde, und es lag ihm doch sehr daran, vorher noch einen Besuch zu machen. Auf die Gefahr hin, daß es ihm für Jepantschins zu spät werden und er genötigt sein würde, seine Fahrt nach Pawlowsk bis zum nächsten Tag aufzuschieben, entschloß sich der Fürst dazu, zunächst jenes Haus aufzusuchen, wohin es ihn so sehr verlangte.

Dieser Besuch war für ihn übrigens in gewisser Hinsicht gewagt. Er zauderte und schwankte. Er wußte von dem Haus, daß es in der Gorochowaja-Straße lag, nicht weit von der Sadowaja-Straße, und entschied sich dafür, hinzugehen, in der Hoffnung, es werde ihm noch gelingen, ehe er hinkomme, einen endgültigen Beschluß zu fassen. Als er an die Kreuzung der Gorochowaja- und Sadowaja-Straße kam, wunderte er sich selbst über seine ungewöhnliche Aufregung; er hatte nicht erwartet, daß ihm das Herz so schmerzhaft schlagen würde. Ein Haus zog, wahr scheinlich durch seinen besonderen Anblick, schon von weitem seine Aufmerksamkeit auf sich, und der Fürst erinnerte sich später, daß er zu sich gesagt hatte: »Es wird gewiß dieses Haus sein!« Mit außerordentlicher Neugier ging er näher heran, um seine Mutmaßung auf ihre Richtigkeit zu prüfen; er fühlte, daß es ihm aus irgendeinem Grund besonders unangenehm sein würde, wenn er es sollte erraten haben. Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Einige, allerdings nur sehr spärliche derartige Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, haben sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze, der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und von innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck; es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon der bloße Anblick des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen. Die architektonischen Linien müssen wohl auf geheimnisvolle Weise diese Wirkung ausüben. In diesen Häusern wohnen fast aus schließlich Kaufleute. Der Fürst näherte sich dem Tor, sah nach dem Türschild und las: »Haus des erblichen Ehrenbürgers Rogoschin.«

Seinem Zaudern ein Ende machend, öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoschin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, führte ihn ohne Anmeldung hinein; die Führung dauerte lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebensoviele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Fleck stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schiefgezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu finden. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt.

»Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen; ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen.

»Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!«

Sie duzten sich. Es hatte sich in Moskau so getroffen, daß sie häufig und lange zusammen waren, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate lang nicht gesehen.

Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoschins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen näherzutreten; aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte fort. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb überrascht von seinem seltsam starren Blick stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoschin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoschin, aber etwas verlegen und verwirrt.

»Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«

Der Fürst setzte sich.

»Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«

»Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoschin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«

Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.

»Aber selbst wenn du wußtest, daß ich gerade heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.

»Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«

»Als ich vorhin aus dem Waggon stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«

»Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoschin argwöhnisch.

Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.

»Ich weiß es nicht; es war einer aus der dichten Menge; ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist; dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie vor fünf Jahren, als ich meine Anfälle bekam.«

»Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen; ich weiß es nicht ...«, murmelte Parfen.

Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühungen nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.

»Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierher fuhren ..., du im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?«

Rogoschin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und wie wenn er sich freute, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen.

»Bleibst du hier für die Dauer wohnen?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte.

»Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.«

»Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoschin trocken.

»Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?«

 

»Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es auf der andern Seite des Flurs.«

»Und wo wohnt dein Bruder?«

»Mein Bruder Semjon Semjonowitsch wohnt im Nebengebäude.«

»Ist er verheiratet?«

»Er ist Witwer. Wozu willst du das denn wissen?«

Der Fürst blickte vor sich hin und erwiderte nichts; er war plötzlich in Gedanken versunken und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Rogoschin drang nicht auf eine Antwort, sondern wartete ruhig. Sie schwiegen beide. »Ich habe dein Haus, als ich näherkam, auf hundert Schritte als das deinige erkannt«, sagte der Fürst.

»Woran denn?«

»Das weiß ich schlechterdings nicht. Dein Haus hat die Physiognomie eurer ganzen Familie und eures ganzen Rogoschinschen Lebens; wenn du mich aber fragst, worauf sich diese meine Anschauung gründet, so kann ich dafür keine Erklärung geben. Es ist natürlich nur Einbildung. Ich bin sogar in Sorge darüber, daß mich solche Dinge so aufregen. Früher wäre mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß du gerade in einem solchen Haus wohnen würdest; aber sowie ich es jetzt erblickte, mußte ich sofort denken: ›Ja, gerade so muß sein Haus aussehen!‹«

»Nun sieh mal an!« versetzte Rogoschin mit einem unbestimmten Lächeln, ohne den unklaren Gedanken des Fürsten recht zu verstehen. »Dieses Haus hat noch der Großvater gebaut«, bemerkte er. »Es haben immer Skopzen darin gewohnt, die Familie Chludjakow; die wohnen auch jetzt hier zur Miete.«

»Es ist hier so düster. Du sitzt hier auch so im Dunklen«, sagte der Fürst, indem er sich im Arbeitszimmer umsah.

Es war ein großes, hohes, dunkles Zimmer, mit allerlei Möbeln vollgestellt, meist großen Arbeitstischen, Schreibtischen und Schränken, in denen Geschäftsbücher und Papiere aufbewahrt wurden. Ein breites, rotes Ledersofa diente offenbar als Rogoschins Bett. Der Fürst bemerkte auf dem Tisch, an dem ihn Rogoschin hatte Platz nehmen lassen, ein paar Bücher; eines von ihnen, Solowjows Geschichte Rußlands, war aufgeschlagen und mit einem Lesezeichen versehen. An den Wänden hingen in trüben Goldrahmen einige Ölgemälde, die so dunkel geworden waren, daß sich auf ihnen schwer etwas erkennen ließ. Ein lebensgroßes Porträt zog die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich: es stellte einen etwa fünfzigjährigen Mann dar, in einem langschößigen Rock von deutscher Fasson, mit zwei Medaillen am Hals, mit einem sehr dünnen, kurzen, grauen Bart, runzligem, gelbem Gesicht und mißtrauischem, verschlossenem, finsterem Blick.

»Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst.

»Ja, das ist er«, antwortete Rogoschin mit einem unangenehmen Lächeln, als ob er vorhätte, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen.

»War er ein Altgläubiger?«

»Nein, er ging in die Kirche; aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?«

»Wirst du die Hochzeit hier feiern?«

»J-ja«, antwortete Rogoschin, der bei der unerwarteten Frage zusammenzuckte.

»Werdet ihr bald heiraten?«

»Du weißt ja selbst, daß das nicht von mir abhängt.«

»Parfen, ich bin nicht dein Feind und beabsichtige nicht, dir irgendwie hinderlich zu sein. Ich wiederhole dir das jetzt ebenso, wie ich es dir früher einmal in einem fast gleichen Augenblick ausgesprochen habe. Als in Moskau deine Hochzeit bevorstand, bin ich dir nicht hinderlich gewesen; das weißt du. Das erstemal kam sie selbst zu mir hingestürzt, unmittelbar vor der Trauung, und bat mich, sie vor dir zu ›retten‹. Ich wiederhole dir ihren eigenen Ausdruck. Dann ist sie auch von mir weggelaufen; du hast sie wieder ausfindig gemacht und zum Altar geführt, und da ist sie, wie es heißt, wieder von dir weggelaufen, hierher. Ist das wahr? Mir hat es Lebedjew so mitgeteilt, und darum bin ich hergereist. Daß ihr euch aber hier wieder geeinigt habt, das habe ich erst gestern zum erstenmal von einem deiner früheren Freunde gehört, von Saloschew, wenn du es wissen willst. Hierhergefahren bin ich aber in folgender Absicht: ich wollte sie endlich überreden, zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit ins Ausland zu reisen. Sie ist körperlich und seelisch sehr heruntergekommen, namentlich hat ihr Kopf stark gelitten, und sie bedarf meines Erachtens sorgsamster Pflege. Ich wollte sie nicht selbst ins Ausland begleiten, sondern hatte in Aussicht genommen, alles Nötige ohne meine persönliche Anwesenheit einzurichten. Ich sage dir die reine Wahrheit. Wenn es wirklich zutrifft, daß ihr euch wieder geeinigt habt, dann werde ich ihr gar nicht vor Augen treten und auch zu dir nie wieder kommen. Du weißt selbst, daß ich dich nicht täusche, da ich immer gegen dich aufrichtig gewesen bin. Wie ich darüber denke, daraus habe ich dir nie ein Hehl gemacht und habe dir immer gesagt, daß es ihr sicheres Verderben ist, wenn sie deine Frau wird. Und auch dein Verderben wird es sein, vielleicht in noch schlimmerem Grad als das ihre. Wenn ihr euch wieder trenntet, so wäre das für mich eine große Beruhigung; aber meinerseits euch zu veruneinigen und auseinanderzubringen, ist nicht meine Absicht. Sei doch ruhig und hege keinen Argwohn gegen mich! Du weißt ja doch selbst, daß ich niemals dein wirklicher Nebenbuhler gewesen bin, selbst damals nicht, als sie sich zu mir geflüchtet hatte. Du lachtest jetzt eben, und ich weiß, warum du es tust. Aber wir haben dort getrennt gelebt, sie und ich, und dann sogar in verschiedenen Städten, und du weißt das alles doch ganz genau. Ich habe dir ja auch schon früher auseinandergesetzt, daß ich sie nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid liebe. Ich meine, ich habe das damals klar dargelegt. Du sagtest damals, du hättest diese meine Worte verstanden, nicht wahr? Hast du sie auch wirklich verstanden? Oh, wie voll Haß du mich ansiehst! Ich bin hergekommen, um dich zu beruhigen, weil auch du mir teuer bist. Ich habe dich sehr lieb, Parfen. Ich gehe jetzt und komme niemals wieder. Lebe wohl!«

Der Fürst stand auf.

»Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!« sagte Parfen leise; er erhob sich nicht von seinem Platz und legte den Kopf in die rechte hohle Hand. »Ich habe dich lange nicht gesehen.«

Der Fürst setzte sich wieder. Beide schwiegen.

»Wenn ich dich nicht vor mir sehe, fühle ich gleich gegen dich einen Groll, Ljow Nikolajewitsch. In diesen drei Monaten, wo ich dich nicht gesehen habe, bin ich jeden Augenblick auf dich ergrimmt gewesen, das weiß Gott! Ich hätte dich vergiften mögen! So steht das. Und jetzt hast du nun doch nicht eine Viertelstunde bei mir gesessen, und schon ist mein ganzer Groll vergangen, und du bist mir wieder lieb und wert wie früher. Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen ...!«

»Wenn ich bei dir bin, dann glaubst du mir, und wenn ich nicht da bin, dann hörst du gleich auf, mir zu vertrauen, und hast mich wieder im Verdacht. Du artest ganz nach deinem Vater«, antwortete der Fürst freundlich lächelnd und bemüht, seine Rührung zu verbergen. »Ich glaube dem Klang deiner Stimme, wenn ich bei dir sitze. Ich verstehe ja, daß wir beide, du und ich, nicht miteinander zu vergleichen sind ...«

»Warum fügst du das hinzu? Und gleich bist du wieder in gereizter Stimmung«, versetzte der Fürst, der sich über ihn wunderte.

»Wir werden nicht nach unserer Meinung gefragt, was wir für einen Charakter haben wollen«, antwortete jener; »der wird ohne unser Zutun bestimmt. Wir beide lieben ja auch auf verschiedene Weise; es ist eben in allem ein Unterschied«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen leise fort. »Du liebst sie, wie du sagst, aus Mitleid. Von solchem Mitleid mit ihr ist bei mir nichts vorhanden. Und sie haßt mich ja auch, haßt mich mehr als irgendeinen andern Menschen. Ich träume jetzt jede Nacht von ihr, und zwar immer, daß sie sich mit einem andern über mich lustig macht. So steht die Sache, Bruder. Sie geht mit mir zum Traualtar und denkt dabei an mich mit keinem Gedanken; sie hat dabei keine andere Empfindung, als wenn sie die Schuhe wechselte. Wirst du es glauben? Fünf Tage habe ich sie nicht gesehen, weil ich nicht wage zu ihr hinzufahren; ich fürchte, sie fragt mich: ›Warum bist du hergekommen?‹ Und wie oft hat sie mir Schimpf angetan ...«