Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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IV

Sie gingen durch dieselben Zimmer, die der Fürst schon vorher passiert hatte. Rogoschin ging ein wenig voraus, der Fürst hinter ihm her. Sie kamen in den großen Salon. Hier befanden sich an den Wänden einige Gemälde, lauter Bischofsporträts und Landschaften, von denen nichts zu erkennen war. Über der Tür zum nächsten Zimmer hing ein Bild von recht auffälligem Format: über anderthalb Meter lang und nicht viel mehr als ein Viertelmeter hoch. Es stellte den soeben vom Kreuz abgenommenen Heiland dar. Der Fürst blickte es flüchtig an, wie wenn ihm eine Erinnerung käme, wollte aber, ohne stehenzubleiben, durch die Tür hindurchgehen. Er fühlte sich sehr bedrückt, und es verlangte ihn, möglichst schnell aus diesem Haus herauszukommen. Aber Rogoschin blieb plötzlich vor dem Bild stehen.

»All diese Bilder hier«, sagte er, »hat mein verstorbener Vater auf Auktionen gekauft, das Stück zu einem oder zwei Rubel; er liebte so etwas. Ein Sachverständiger hat sie alle hier besichtigt; er sagte, es sei Schund; aber dieses hier, das Bild über der Tür, das ebenfalls für zwei Rubel gekauft ist, von dem sagte er, es sei kein Schund. Noch bei Lebzeiten meines Vaters fand sich jemand, der ihm dafür dreihundertfünfzig Rubel bot, und Iwan Dmitrijewitsch Saweljew, ein Kaufmann, der ein großer Liebhaber solcher Dinge ist, der ist bis auf vierhundert hinaufgegangen und hat in der vorigen Woche meinem Bruder Semjon Semjonowitsch schon fünfhundert geboten. Aber ich habe es für mich behalten.«

»Das ist ja ... das ist ja eine Kopie nach Hans Holbein«, sagte der Fürst, der nun Zeit gehabt hatte, das Bild genauer zu betrachten; »und wiewohl ich kein großer Kenner bin, so scheint es mir doch eine vorzügliche Kopie zu sein. Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen. Aber ... was hast du denn ...?«

Rogoschin kümmerte sich auf einmal nicht weiter um das Bild, sondern ging auf dem bisherigen Weg wieder voran. Allerdings ließ sich dieses sprunghafte Wesen durch seine Zerstreutheit und durch die besondere, seltsam reizbare Stimmung, die bei ihm so plötzlich hervorgetreten war, vielleicht erklären; aber trotzdem erschien es dem Fürsten wunderlich, daß Rogoschin ein von ihm selbst begonnenes Gespräch so plötzlich abbrach und ihm nicht einmal antwortete.

»Hör mal, Ljow Nikolajewitsch«, fing Rogoschin wieder an, nachdem er einige Schritte gemacht hatte, »ich wollte dich schon längst fragen: glaubst du an Gott oder nicht?«

»Wie sonderbar du fragst, und ... was du für ein sonderbares Gesicht machst!« äußerte der Fürst unwillkürlich.

»Dieses Bild betrachte ich immer gern«, murmelte Rogoschin nach kurzem Stillschweigen, als ob er seine Frage wieder vergessen hätte.

»Dieses Bild betrachtest du gern?« rief der Fürst, von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Dieses Bild? Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren!«

»Ich verliere ihn auch«, war Rogoschins überraschende, bestätigende Antwort.

Sie waren bereits zur Entreetür gelangt.

»Wie?« sagte der Fürst, stehenbleibend. »Was redest du da? Ich habe eigentlich nur im Scherz gesprochen, und du sagst das so ernst! Und warum hast du mich gefragt, ob ich an Gott glaube?«

»Einen besonderen Grund hatte ich nicht dazu. Ich wollte dich schon früher danach fragen. Heutzutage glauben ja viele nicht an ihn. Ob das wohl wahr ist (du hast ja im Ausland gelebt), mir hat einmal so ein Trunkenbold gesagt, bei uns in Rußland gebe es mehr Leute, die nicht an Gott glauben, als in allen andern Ländern? ›Uns‹, sagte er, ›wird es leichter, zum Unglauben zu gelangen, als ihnen, weil wir weiter fortgeschritten sind.‹«

Rogoschin lächelte spöttisch; als er seine Frage ausgesprochen hatte, öffnete er die Tür und wartete mit der Klinke in der Hand darauf, daß der Fürst hinausgehe.

Der Fürst wunderte sich, ging aber hinaus. Der andere trat nach ihm auf den Treppenflur hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Sie standen einander mit solchen Gesichtern gegenüber, daß es schien, als hätten sie beide vergessen, wohin sie gekommen seien, und was sie nun zu tun hätten.

»Lebe wohl!« sagte der Fürst und reichte Rogoschin die Hand.

»Lebe wohl!« erwiderte dieser und drückte fest, aber ganz mechanisch die ihm hingestreckte Hand.

Der Fürst stieg eine Stufe hinab und wendete sich dann wieder um.

»Was aber den Glauben betrifft«, begann er lächelnd (er wollte offenbar Rogoschin nicht verlassen, ohne ihm geantwortet zu haben; auch belebte ihn eine plötzlich auftauchende Erinnerung), »was den Glauben betrifft, so hatte ich in der vorigen Woche an zwei Tagen vier verschiedene Erlebnisse. An einem Vormittag fuhr ich auf einer neuen Eisenbahnstrecke und unterhielt mich im Waggon vier Stunden lang mit einem gewissen S., den ich auf der Fahrt kennengelernt hatte. Ich hatte schon früher viel von ihm gehört, unter anderm auch, daß er Atheist sei. Er ist tatsächlich ein sehr gelehrter Mann, und ich freute mich, daß ich mit einem wirklichen Gelehrten reden durfte. Außerdem ist er ein außerordentlich wohlerzogener Mensch und redete infolgedessen mit mir, ganz wie wenn ich ihm an Kenntnissen und Begriffsvermögen gleichkäme. An Gott glaubte er nicht. Nur eines fiel mir auf: daß er über diesen Punkt die ganze Zeit über gar nicht sprach, und das fiel mir gerade deswegen auf, weil es mir auch früher, sooft ich mit Ungläubigen zusammengekommen war, und sooft ich derartige Bücher gelesen hatte, immer so vorgekommen war, als ob sie über diesen Punkt überhaupt weder redeten noch in ihren Büchern schrieben, obgleich es auf den ersten Blick scheinen konnte, daß sie darüber handelten. Das sprach ich ihm gleich damals aus, aber jedenfalls nicht deutlich, oder ich wußte mich nicht auszudrücken; denn er verstand mich nicht ... Am Abend kehrte ich in einer Kreisstadt in einem Gasthaus ein, um da zu übernachten, und in diesem Gasthaus war kurz vorher, in der vorhergehenden Nacht, ein Mord geschehen, so daß bei meiner Ankunft alle noch davon sprachen. Zwei Bauern, ältere Leute, nicht betrunken, schon lange miteinander bekannt und befreundet, hatten Tee getrunken und wollten sich zusammen in ihrem gemeinsamen Kämmerchen schlafen legen. Aber der eine hatte bei dem andern in den letzten zwei Tagen eine silberne Uhr an einer Schnur von gelben Glasperlen gesehen, die er offenbar bei ihm früher noch nicht gekannt hatte. Dieser Mann war kein Dieb; er war sogar ein ehrenhafter Mensch und für einen Bauer durchaus nicht arm. Aber diese Uhr gefiel ihm dermaßen und hatte für ihn so viel Verlockendes, daß er schließlich nicht mehr widerstehen konnte: er nahm ein Messer, ging, als der Freund sich umgedreht hatte, vorsichtig von hinten an ihn heran, paßte die Entfernung ab, richtete die Augen gen Himmel, bekreuzte sich, und nachdem er im stillen inbrünstig gebetet hatte: ›O Gott, verzeih mir um Christi willen!‹, schnitt er seinem Freund mit einem Schnitt wie einem Hammel die Kehle durch und nahm ihm die Uhr weg.«

Rogoschin schüttelte sich vor Lachen. Er lachte so heftig, als ob er einen Anfall bekommen hätte. Es machte einen ganz seltsamen Eindruck, dieses Lachen zu sehen, nachdem er sich kurz vorher in so düsterer Stimmung befunden hatte.

»Das gefällt mir! Nein, das ist ja ganz vorzüglich!« schrie er krampfhaft und fast außer Atem. »Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere glaubt so sehr an ihn, daß er sogar bei der Ermordung eines Menschen betet ... Nein, Bruder, das ist ja gar nicht auszudenken! Hahaha! Nein, das ist köstlich!«

»Am andern Morgen ging ich aus und schlenderte durch die Stadt«, fuhr der Fürst fort, sobald Rogoschin sich einigermaßen beruhigt hatte, wiewohl das Lachen immer noch nach Art eines Krampfanfalls auf seinen Lippen zuckte; »da sah ich, wie ein betrunkener Soldat in ganz wüstem Zustand auf dem Holztrottoir umherschwankte. Er kam auf mich zu und sagte: ›Herr, kaufe mir dieses silberne Kreuz ab; ich lasse es dir für zwanzig Kopeken; es ist von Silber!‹ Ich sah, daß er in der Hand ein Kreuz hielt, das er sich jedenfalls eben erst abgenommen hatte; es saß an einem himmelblauen, stark abgenutzten Band, war aber, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, nur von Zinn, von großem Format, mit acht Enden, nach einem echt byzantinischen Muster. Ich nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der Tasche und gab es ihm; das Kreuz aber band ich mir sogleich um; dem Soldaten konnte man am Gesicht ansehen, wie er sich freute, den dummen Herrn geprellt zu haben; er ging schleunigst davon, ohne Zweifel um den Erlös für sein Kreuz zu vertrinken. Auf mich, Bruder, machte damals all das, was in Rußland massenhaft auf mich eindrang, einen sehr starken Eindruck; ich hatte in meinem Heimatland vorher für nichts Verständnis gehabt, war wie ein Blinder aufgewachsen, und meine Erinnerungen an Rußland während der fünf Jahre meines Aufenthalts im Ausland waren höchst phantastischer Art gewesen. Da wanderte ich also weiter und dachte: ›Nein, ich will über diesen Soldaten, der seinen Christus verkauft hat, doch noch nicht den Stab brechen. Gott weiß, was für Gefühle sich in den schwachen Herzen dieser betrunkenen Menschen regen.‹ Als ich eine Stunde darauf in mein Gasthaus zurückkehrte, stieß ich auf eine Bauersfrau mit einem Säugling. Es war eine noch junge Frau; das Kind mochte etwa sechs Wochen alt sein. Das Kind lächelte sie an, nach ihrer Wahrnehmung zum erstenmal seit seiner Geburt. Ich sah, daß sie sich auf einmal mit dem Ausdruck größter Frömmigkeit bekreuzte. ›Was hast du denn, junge Frau?‹ fragte ich; ich erkundigte mich nämlich damals nach allem, was mir auffiel. ›Ach‹, sagte sie, ›ebenso wie sich eine Mutter freut, wenn sie ihr Kind zum erstenmal lächeln sieht, ganz ebenso wird sich gewiß auch Gott jedesmal freuen, wenn er vom Himmel sieht, daß ein Sünder von ganzem Herzen betet.‹ Das sagte die Bauersfrau zu mir, fast mit diesen selben Worten, und sprach damit einen überaus tiefen, feinen, echt religiösen Gedanken aus, einen Gedanken, in dem das ganze Wesen des Christentums zugleich zum Ausdruck kommt, das heißt die Vorstellung von Gott als unserem Vater und von der Freude Gottes über den Menschen, die der Freude eines Vaters über sein Kind gleicht – der eigentliche Kernpunkt dessen, was Christus gesagt hat. Eine einfache Bauersfrau! Allerdings war es eine Mutter ... und wer weiß, vielleicht war sie die Frau jenes Soldaten. Höre, Parfen, du fragtest mich vorhin; da hast du meine Antwort: das Wesen des religiösen Gefühls wird weder durch vernunftmäßige Überlegungen, noch durch Vergehungen und Verbrechen, noch durch atheistische Anschauungen berührt; es ist etwas Andersartiges und wird in alle Ewigkeit etwas Andersartiges sein; die Lehren des Atheismus werden in alle Ewigkeit davon abgleiten, und die Atheisten werden in ihren Disputationen in alle Ewigkeit dran vorbeireden. Die Hauptsache aber ist, daß man dies am klarsten und schnellsten an der russischen Seele erkennt; das ist das Resultat meiner Beobachtungen! Das ist eine der ersten Überzeugungen, die ich bei uns in Rußland gewonnen habe. Hier läßt sich etwas ausrichten, Parfen; es läßt sich vieles ausrichten auf unserem russischen Boden, glaube mir! Erinnere dich, wie wir eine Zeitlang in Moskau zusammen lebten und öfters miteinander darüber sprachen ... Und ich hatte gar nicht vorgehabt, jetzt hierher zurückzukehren! Ich hatte mir die Wiederbegegnung mit dir ganz, ganz anders ausgemalt! Na, was hilft's ...? Leb wohl, auf Wiedersehen! Gott behüte dich!«

 

Er wendete sich um und stieg die Treppe hinunter.

»Ljow Nikolajewitsch!« rief Parfen dem Fürsten von oben nach, als dieser zum ersten Treppenabsatz gelangt war; »hast du das Kreuz, das du von dem Soldaten gekauft hast, bei dir?«

»Ja.« Der Fürst blieb wieder stehen.

»Zeig es doch einmal her!«

Wieder eine neue Absonderlichkeit! Der Fürst überlegte einen Augenblick, stieg dann wieder hinauf, zog das Kreuz heraus und zeigte es ihm, ohne es vom Hals abzunehmen.

»Gib es mir!« sagte Rogoschin.

»Wozu? Hast du denn ...«

Der Fürst mochte sich nicht gern von diesem Kreuz trennen.

»Ich will es tragen, und meines will ich dir geben; das trage du dann!«

»Du willst, daß wir die Kreuze tauschen? Schön, Parfen; wenn du es so meinst, dann freue ich mich; wir wollen Kreuzbrüder werden!«

Der Fürst nahm sein zinnernes Kreuz ab, Parfen sein goldenes, und sie tauschten miteinander. Parfen schwieg. Erstaunt und betrübt bemerkte der Fürst, daß das frühere Mißtrauen und das frühere bittere, spöttische Lächeln von dem Gesicht seines neuen Kreuzbruders immer noch nicht geschwunden waren, sondern wenigstens in einzelnen Augenblicken immer wieder stark sichtbar wurden. Schweigend ergriff Rogoschin endlich die Hand des Fürsten und stand eine Weile da, als ob er sich zu etwas nicht entschließen könnte; endlich zog er ihn auf einmal hinter sich her, indem er kaum hörbar sagte: »Komm!« Sie gingen quer über den Treppenflur und klingelten an einer Tür, die derjenigen, aus welcher sie herausgekommen waren, gerade gegenüber lag. Es wurde ihnen bald geöffnet. Eine alte, ganz zusammengekrümmte Frau in schwarzem Kleid, mit einem Tuch um den Kopf, verbeugte sich schweigend tief vor Rogoschin; dieser sagte schnell ein paar Worte zu ihr und führte, ohne stehenzubleiben und eine Antwort abzuwarten, den Fürsten in die Wohnung hinein. Wieder durchschritten sie dunkle Zimmer von einer außerordentlichen, sozusagen kalten Sauberkeit; auch die altertümlichen Möbel in ihren weißen, reinen Überzügen machten einen kalten, trüben Eindruck. Ohne Anmeldung führte Rogoschin den Fürsten geradewegs in ein kleines, salonartiges Zimmer; ein Teil desselben war durch eine niedrige Zwischenwand von glänzendem Mahagoniholz mit je einer Tür rechts und links abgeschlagen; der dahinterliegende Raum diente wahrscheinlich als Schlafzimmer. In einer Ecke des Salons, am Ofen, saß in einem Lehnstuhl eine kleine, ältere Frau, dem Anschein nach noch nicht allzu bejahrt, sogar mit einem recht gesunden, angenehmen, runden Gesicht, aber schon vollständig ergraut und (was man schon beim ersten Blick erkennen konnte) ganz kindisch geworden. Sie trug ein schwarzwollenes Kleid, ein großes, schwarzes Tuch um den Hals und eine reine, weiße Haube mit schwarzen Bändern. Die Füße ruhten auf einem Fußbänkchen. Neben ihr saß eine andere, sauber gekleidete, alte Frau, älter als die erste, gleichfalls in Trauer und gleichfalls mit einer weißen Haube, wahrscheinlich eine arme Person, die aus Gnaden in das Haus aufgenommen war, und strickte schweigend einen Strumpf. Sie schienen beide die ganze Zeit her geschwiegen zu haben. Als die erste Alte Rogoschin und den Fürsten erblickte, lächelte sie ihnen zu und nickte zum Zeichen ihres Vergnügens mehrmals freundlich mit dem Kopf.

»Mütterchen«, sagte Rogoschin, ihr die Hand küssend, »hier ist ein guter Freund von mir, Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin; er und ich haben miteinander die Kreuze getauscht; er hat sich eine ganze Zeitlang in Moskau wie ein Bruder gegen mich benommen und viel für mich getan. Segne ihn, Mütterchen, wie du deinen eigenen Sohn segnen würdest! Warte, liebe Alte! So! Laß mich dir die Hand zurechtmachen ...«

Aber noch ehe Parfen Zeit hatte dies auszuführen, hob die alte Frau ihre rechte Hand in die Höhe, legte drei Finger derselben zusammen und bekreuzte den Fürsten dreimal andächtig. Darauf nickte sie ihm noch einmal freundlich und zärtlich mit dem Kopf zu.

»Nun wollen wir wieder gehen, Ljow Nikolajewitsch!« sagte Parfen. »Ich hatte dich nur zu diesem Zweck hergeführt ...«

Als sie wieder auf die Treppe hinaustraten, fügte er hinzu:

»Sie versteht ja nichts, was man zu ihr sagt, und hat auch von meinen Worten nichts verstanden; aber sie hat dich doch gesegnet; da muß es doch ihr eigener Wunsch gewesen sein ... Nun aber leb wohl; du und ich haben beide keine Zeit mehr.«

Damit öffnete er die Tür, die zu seiner Wohnung führte.

»So laß dich doch wenigstens zum Abschied umarmen, du wunderlicher Mensch!« rief der Fürst, indem er ihn mit zärtlichem Vorwurf anblickte, und wollte ihn umarmen.

Aber Parfen hatte kaum dazu angesetzt, die Arme zu erheben, als er sie auch sogleich wieder sinken ließ. Er konnte sich nicht dazu entschließen; er wandte sich ab, um den Fürsten nicht anzusehen. Er wollte ihn nicht umarmen.

»Hab keine Angst! Ich habe dir zwar dein Kreuz weggenommen, werde dich aber nicht um einer Uhr willen ermorden!« murmelte er undeutlich und lachte auf einmal seltsam auf.

Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Gesicht: er wurde schrecklich blaß, seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen flammten auf. Er hob die Arme in die Höhe, umarmte den Fürsten mit festem Druck und sagte keuchend:

»So nimm sie denn hin, wenn das Schicksal es einmal so will! Sie sei dein! Ich trete sie dir ab ...! Vergiß Rogoschin nicht!«

Er wandte sich von dem Fürsten ab, ging, ohne noch einmal nach ihm hinzublicken, in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

V

Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und entschied sich dafür, nach dem Gasthaus »Zur Waage« zu gehen und dort nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort sei, ihm ein Briefchen zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage, solle man sagen, daß er wohl um drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk gefahren, nach dem Landhaus der Generalin Jepantschina, und werde dort auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu warten, und benutzte die Zeit, um sich etwas zum Mittagessen geben zu lassen.

Um halb vier und selbst um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen. Der Fürst ging weg und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße trugen. Zu Anfang des Sommers kommen in Petersburg manchmal wunderschöne Tage vor, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt. Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf Plätzen und auf Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem Interesse die Passanten zu betrachten; aber meist achtete er weder auf die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg aus diesem Zustand zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und auf sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an alldem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.

Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskojeselo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immer das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er schon beinah im Waggon saß, warf er plötzlich das soeben gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: nämlich schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.

Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrscht hatte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Trottoir vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt nun lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen: ob er wirklich soeben, vielleicht vor nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden habe und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen sei und er irgendeine Verwechslung begangen habe. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befinde, fast in demselben Zustand, der sich ehemals, zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit, bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besondere Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er damals vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster ausgelegten Gegenständen war einer gewesen, den er betrachtet und dabei sogar auf sechzig Kopeken taxiert hatte; daran erinnerte er sich trotz all seiner Zerstreutheit und Unruhe. Folglich, wenn dieser Laden existierte und der betreffende Gegenstand tatsächlich unter den Waren ausgestellt war, so mußte er eigens wegen dieses Gegenstandes stehengeblieben sein. Also mußte dieser Gegenstand ihn so sehr interessiert haben, daß er seine Aufmerksamkeit sogar zu einer Zeit auf sich gezogen hatte, wo er sich, nachdem er eben den Bahnhof verlassen, in so arger Verwirrung befunden hatte. Er ging, fast sehnsüchtig nach rechts blickend, zurück, und sein Herz schlug heftig vor unruhiger, ungeduldiger Erwartung. Aber da war ja dieser Laden; er hatte ihn endlich gefunden! Er war schon fünfhundert Schritte von ihm entfernt gewesen, als er den Entschluß gefaßt hatte umzukehren. Und da war auch der Gegenstand für sechzig Kopeken; »gewiß, sechzig Kopeken; mehr ist er nicht wert!« sagte er sich jetzt auf das bestimmteste und lachte auf. Aber dieses Lachen war ein hysterisches; er fühlte sich sehr bedrückt. Er erinnerte sich jetzt deutlich, daß er gerade hier, während er vor diesem Schaufenster stand, sich plötzlich umgedreht hatte, ebenso wie eine Weile vorher, als er Rogoschins Augen auf sich gerichtet fühlte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich mit dem Laden und dem Gegenstand nicht geirrt hatte (wovon er übrigens auch schon vor der Nachprüfung überzeugt gewesen war), interessierte er sich nicht mehr für den Laden und ging so schnell wie möglich von ihm weg. Alles dies mußte er unter allen Umständen möglichst bald überdenken; jetzt war es ihm klar, daß er auch auf dem Zarskojeseloer Bahnhof nicht nur so eine leere Vorstellung gehabt hatte, sondern ihm unbedingt etwas Wirkliches begegnet war, das mit all dieser seiner früheren Unruhe zusammenhing. Aber der innerliche unüberwindliche Widerwille gewann wieder die Oberhand; der Fürst mochte nichts überlegen und schickte sich nicht an, es zu tun; er versank ganz in Gedanken an etwas anderes. Er dachte unter anderm daran, daß es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren nur Vorläufer jener letzten, entscheidenden Sekunde (es war nie mehr als eine Sekunde), mit der der Anfall selbst begann. Diese Sekunde war freilich unerträglich. Wenn er später, nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit, über diesen Augenblick nachdachte, so sagte er sich oft, daß dieses Aufschimmern und Aufblitzen eines erhöhten Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und somit auch eines »höheren Seins« nichts anderes sei als Krankheit, eine Aufhebung des normalen Zustandes, und daß, wenn es sich so verhalte, dies überhaupt kein höheres Sein sei, sondern ganz im Gegenteil zu der allerniedrigsten Art des Seins gerechnet werden müsse. Und trotzdem gelangte er schließlich zu einer höchst paradoxen Schlußfolgerung: »Was liegt daran, daß dies Krankheit ist«, sagte er sich, »was liegt daran, daß es eine nicht normale Anspannung ist, wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit sich daran erinnert und es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?« Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß dies tatsächlich »Schönheit und Gebet«, und »die höchste Synthese des Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand kurz bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblick des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: »Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!«, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als die deutliche Folge jener höchsten Augenblicke nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler; aber die Realität des Gefühles verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch; er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glücks willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne.

 

»In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoschin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹. Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoschin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. »Rogoschin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt«, dachte der Fürst bei sich.

Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer; ein dunkles Gewölbe umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob ein Gewitter in noch ferner Aussicht stände. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und mit seiner Denktätigkeit an jeden äußeren Gegenstand und tat dies gern und eifrig, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte; aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er so sehr wünschte sich loszumachen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant des Gasthauses beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.

Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug, wie eine dämonische Versuchung, auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in der Richtung nach der Peterburgskaja zu. Er hatte vorhin auf dem Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Peterburgskaja zu zeigen; das hatte dieser auch getan; aber der Fürst war dann nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen; das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedjews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. »Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren; sonst hätte Kolja der Abrede gemäß etwas in der ›Waage‹ hinterlassen.« Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen ...