Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»War das nicht Gawrila Ardalionowitsch, der eben wegging?« fragte sie auf einmal in ihrer beliebten Art: laut, in scharfem Ton, ohne Rücksicht auf das Gespräch der andern, das sie mit ihrer Frage unterbrach, und ohne sich an irgendeinen einzelnen zu wenden.

»Jawohl«, antwortete der Fürst.

»Ich hatte ihn kaum erkannt. Er hat sich sehr verändert, und ... sehr zu seinem Vorteil.«

»Das ist mir sehr lieb zu hören«, erwiderte der Fürst.

»Er war sehr krank«, fügte Warja, zugleich erfreut und bedauernd, hinzu.

»Inwiefern soll er sich denn zu seinem Vorteil verändert haben?« fragte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich und beinah erschrocken. »Wie kommst du darauf? Ich bemerke an ihm nichts, was besser geworden wäre. Was scheint dir denn eigentlich besser?«

»Etwas Besseres als den ›armen Ritter‹ kann es überhaupt nicht geben!« rief plötzlich Kolja, der die ganze Zeit über neben Lisaweta Prokofjewnas Stuhl gestanden hatte.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Fürst Schtsch. lachend.

»Ich bin ganz derselben Ansicht«, erklärte Adelaida ernst.

»Was ist denn das für ein ›armer Ritter‹?« fragte die Generalin, indem sie alle Redenden verständnislos und ärgerlich anblickte. Aber als sie sah, daß Aglaja rot geworden war, fügte sie zornig hinzu: »Gewiß wieder irgendein Unsinn! Was ist das für ein ›armer Ritter‹?«

»Als ob es das erstemal wäre, daß dieser freche Junge, Ihr Liebling, anderer Leute Worte verdreht!« antwortete Aglaja hochmütig und unwillig.

Fast jedesmal, wenn Aglaja zornig wurde (und das geschah ziemlich oft), blickte aus ihrer anscheinend ernsten, unerbittlichen Miene doch so viel von dem schlecht verhehlten, ungeduldigen Wesen eines Schulkindes hervor, daß es manchmal unmöglich war, bei ihrem Anblick das Lachen zu unterdrücken, worüber sich Aglaja übrigens gewaltig ärgerte, da sie nicht begriff, worüber die Leute lachten, und »wie jemand da überhaupt lachen könne und zu lachen wage«. Auch jetzt lachten die Schwestern und Fürst Schtsch.; sogar Fürst Ljow Nikolajewitsch, der aus irgendeinem Grund ebenfalls errötet war, lächelte. Kolja jubelte und triumphierte. Aglaja wurde nun ernstlich böse und dadurch noch einmal so schön. Ihre Verlegenheit stand ihr außerordentlich gut, und nicht minder gleichzeitig ihr Ärger über sich selbst wegen dieser Verlegenheit.

»Auch Ihre eigenen Worte hat er oft genug verdreht!« fügte sie hinzu.

»Ich wiederhole nur Ihren eigenen Ausspruch!« rief Kolja. »Vor einem Monat blätterten Sie im Don Quijote und riefen dabei aus, es gebe doch nichts Besseres als den armen Ritter. Ich weiß nicht, auf wen sich das damals beziehen sollte: ob auf Don Quijote oder auf Jewgeni Pawlowitsch oder auf noch jemand anders; aber jedenfalls meinten Sie damit irgend jemand, und es entspann sich darüber ein langes Gespräch ...«

»Ich sehe, daß du dir mit deinen Vermutungen doch gar zu viel herausnimmst, mein Lieber!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Aber bin ich denn der einzige, der davon spricht?« versetzte Kolja, der sich nicht den Mund verbieten ließ.

»Alle haben damals davon gesprochen und sprechen auch jetzt noch davon, da gleich Fürst Schtsch. und Adelaida Iwanowna. Und alle haben erklärt, daß sie auf seiten des ›armen Ritters‹ stehen; also muß doch der ›arme Ritter‹ existieren und existiert jedenfalls, und wenn nur Adelaida Iwanowna wollte, so würden wir meiner Ansicht nach alle schon längst wissen, wer der ›arme Ritter‹ ist.«

»Inwiefern soll ich denn daran schuld sein?« fragte Adelaida lachend.

»Sie wollten sein Porträt nicht zeichnen; insofern sind Sie daran schuld! Aglaja Iwanowna bat Sie damals, das Porträt des ›armen Ritters‹ zu zeichnen, und setzte Ihnen den ganzen Vorwurf des Bildes auseinander, den sie sich selbst ausgesonnen hatte; erinnern Sie sich noch an diesen Vorwurf? Aber Sie wollten es nicht ...«

»Wie hätte ich den Betreffenden denn zeichnen sollen? In der Beschreibung wird doch von diesem ›armen Ritter‹ gesagt:

›Niemals in die Höhe schlug er

Vorm Gesichte das Visier.‹

Was konnte dabei also für ein Gesicht herauskommen? Was sollte ich zeichnen? Ein Visier? Einen Anonymus?«

»Ich verstehe von alledem nichts; was ist das nun wieder für ein Visier?« ereiferte sich die Generalin, die im stillen sehr wohl zu begreifen anfing, wer unter der wahrscheinlich schon lange geläufigen Benennung ›der arme Ritter‹ verstanden wurde. Aber ganz besonders ärgerte sie sich darüber, daß Fürst Ljow Nikolajewitsch ebenfalls verlegen geworden war und schließlich eine solche Befangenheit bekundete wie ein zehnjähriger Junge.

»Nun also, wird diese Dummheit endlich zu Ende kommen? Wird mir nun erläutert werden, was dieser ›arme Ritter‹ bedeutet? Ist das etwa ein so furchtbares Geheimnis, daß man gar nicht daran rühren darf?«

Aber alle lachten nur weiter.

»Es ist ganz einfach ein merkwürdiges russisches Gedicht«, ergriff endlich Fürst Schtsch. das Wort, offenbar mit dem Wunsch, die Sache möglichst schnell zu erledigen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ein Gedicht über einen ›armen Ritter‹, ein Fragment ohne Anfang und ohne Schluß. Vor einem Monat scherzten wir einmal alle nach Tisch und suchten wie gewöhnlich nach einem Vorwurf für ein künftiges Bild Adelaida Iwanownas. Sie wissen, daß es bereits zu einer Art von Familiensport geworden ist, Vorwürfe für Adelaida Iwanownas Bilder ausfindig zu machen. Da verfielen wir auch auf den ›armen Ritter‹; wer zuerst auf diesen Einfall kam, weiß ich nicht mehr ...«

»Aglaja Iwanowna war es!« rief Kolja.

»Mag sein; ich will es nicht bestreiten, obwohl ich mich nicht erinnere«, fuhr Fürst Schtsch. fort. »Die einen spotteten über dieses Sujet; andere dagegen meinten, man könne sich gar nichts Höheres ausdenken. Aber um den ›armen Ritter‹ darzustellen, dazu war unter allen Umständen ein Gesicht als Modell erforderlich; so musterten wir denn die Gesichter aller unserer Bekannten; aber kein einziges taugte dazu; daran scheiterte die Sache. Das ist alles. Es ist mir unverständlich, warum Nikolai Ardalionowitsch es hier hat erwähnen und erörtern mögen. Was früher und bei bestimmtem Anlaß komisch war, hat jetzt alles Interesse verloren.«

»Er hat es eben getan, weil da wieder irgendeine neue Dummheit dahintersteckt, eine boshafte, verletzende Dummheit«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna scharf.

»Es steckt gar keine Dummheit dahinter, sondern vielmehr die größte Hochachtung«, sagte Aglaja mit ganz unerwartetem Ernst und Nachdruck. Es war ihr inzwischen gelungen, sich wieder vollständig in ihre Gewalt zu bekommen und ihre frühere Verlegenheit zu unterdrücken.

Ja, auf Grund gewisser Anzeichen konnte man, wenn man sie ansah, meinen, daß sie sich jetzt selbst darüber freute, daß der Spaß sich immer länger und länger ausdehnte; und diese ganze Umwandlung ging bei ihr gerade in dem Augenblick vor, als die immer zunehmende Verlegenheit des Fürsten ganz deutlich wurde.

»Erst lachen sie wie die Unsinnigen, und dann wird auf einmal von der größten Hochachtung gesprochen! Verrücktes Volk! Was soll hier die Hochachtung? Sag mal sofort, warum du so aus heiler Haut auf einmal von der größten Hochachtung redest!«

»Von der größten Hochachtung«, erwiderte Aglaja ebenso ernst und nachdrücklich auf die ärgerliche Frage der Mutter, »von der größten Hochachtung rede ich deshalb, weil in diesen Versen ein Mensch geschildert wird, der fähig ist, erstens ein Ideal zu haben und zweitens, nachdem er sich einmal ein solches Ideal aufgerichtet hat, an dasselbe zu glauben und ihm blind sein ganzes Leben zu weihen. So etwas kommt in unserer Zeit nicht alle Tage vor. Dort, in diesen Versen, ist nicht gesagt, worin eigentlich das Ideal des ›armen Ritters‹ bestand; aber man sieht, daß es eben ein leuchtendes Ideal war, ›das Ideal der reinen Schönheit‹, und daß der verliebte Ritter sich sogar statt der Schärpe einen Rosenkranz um den Hals band. Allerdings ist da noch von einer dunklen, nur andeutenden Devise die Rede, den Buchstaben A.N.B., die er auf seinen Schild geschrieben hatte ...«

»A.N.D.«, verbesserte Kolja.

»Ich sage aber A.N.B. und will dabei bleiben«, unterbrach ihn Aglaja ärgerlich. »Wie es sich damit auch verhalten mag, soviel ist klar, daß es diesem ›armen Ritter‹ nun ganz gleichgültig war, wer seine Dame war, und was sie tat. Ihm genügte es, sie sich ausgewählt zu haben und an ihre ›reine Schönheit‹ zu glauben; und nun verehrte er sie sein ganzes Leben lang; gerade darin besteht sein Verdienst, daß er, selbst wenn sie später zur Diebin würde, doch an sie glauben und für ihre reine Schönheit eine Lanze brechen müßte. Der Dichter scheint beabsichtigt zu haben, in der auffallenden Gestalt eines reinen, hochgesinnten Ritters den ganzen gewaltigen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen platonischen Liebe zur zusammenfassenden Darstellung zu bringen; selbstverständlich ist das alles ein Ideal. In dem ›armen Ritter‹ hat dieses Gefühl schon die höchste Stufe erreicht, die Askese; man muß gestehen, daß die Fähigkeit zu einem solchen Gefühl einen hohen Wert hat, und daß solche Gefühle einen bedeutsamen und unter Umständen sehr löblichen Charakterzug bilden, wobei ich nicht gerade Don Quijote meine. Der ›arme Ritter‹ ist eine Art Don Quijote, aber ein ernster, nicht ein komischer. Ich habe ihn am Anfang nicht verstanden und über ihn gelacht; aber jetzt liebe ich den ›armen Ritter‹, und vor allen Dingen schätze ich seine Taten hoch.«

Damit schloß Aglaja, und wenn man sie ansah, konnte man schwer daraus klug werden, ob sie im Ernst sprach oder scherzte.

»Na, ein Dummkopf ist er, er und seine Taten!« urteilte die Generalin kurz. »Aber du, liebes Kind, bist ganz ins Schwatzen hineingekommen; das war ja eine ordentliche Vorlesung; aber meiner Ansicht nach steht dir das gar nicht gut; jedenfalls ist es unpassend. Was sind das für Verse? Sag sie mal auf; du kannst sie doch sicher auswendig! Ich will diese Verse unbedingt kennenlernen. Mein ganzes Leben lang habe ich Verse nicht leiden können, als hätte ich eine Ahnung gehabt, daß ich mich bloß darüber ärgern würde. Um Gottes willen, Fürst, werde nicht böse! Wir beide, du und ich, müssen, wie es scheint, es zusammen ertragen«, sagte sie, zu dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch gewendet. Sie war sehr aufgebracht.

 

Fürst Ljow Nikolajewitsch wollte schon etwas sagen, konnte aber wegen seiner immer noch andauernden Verlegenheit nichts herausbringen. Aglaja hingegen, die sich in ihrer »Vorlesung« soviel herausgenommen hatte, zeigte keine Spur von Verlegenheit mehr, sondern schien sich im Gegenteil zu freuen. Sie stand sofort auf, mit derselben ernsten, bedeutsamen Miene wie vorher; es machte den Eindruck, als hätte sie sich darauf vorbereitet und nur auf eine Aufforderung gewartet. In die Mitte der Veranda tretend, stellte sie sich gerade vor den Fürsten hin, der auf seinem Lehnstuhl sitzenblieb. Alle blickten sie einigermaßen erstaunt an, und fast alle, Fürst Schtsch., die Schwestern und die Mutter, sahen mit einem unangenehmen Gefühl dem neuen, in der Vorbereitung begriffenen Schelmenstreich entgegen, der jedenfalls etwas weit zu gehen drohte. Aber Aglaja fand offenbar ihr Vergnügen an dem affektierten Benehmen, mit dem sie sich zu der Deklamation der Verse anschickte. Lisaweta Prokofjewna war schon nahe daran, sie mit energischen Worten von dort wegzurufen und auf ihren Platz zurückzuschicken; aber gerade in dem Augenblick, als Aglaja die bekannte Ballade zu deklamieren begann, traten zwei neue Gäste, die in lautem Gespräch begriffen waren, von der Straße in die Veranda. Dies waren der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin und hinter ihm ein junger Mann. Ihr Erscheinen rief bei den bereits Anwesenden eine kleine Aufregung hervor.

VII

Der junge Mann, der den General begleitete, war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, mit einem schönen, verständigen Gesicht und großen, schwarzen, klug und spöttisch blickenden Augen. Aglaja sah sich gar nicht nach ihm um und deklamierte ruhig das Gedicht weiter, indem sie fortfuhr, nur den Fürsten anzusehen, und sich nur an ihn allein wandte. Dem Fürsten war klar, daß sie dies alles mit irgendeiner besonderen Absicht tat. Aber wenigstens trugen die neuen Gäste einigermaßen zur Verbesserung seiner unbehaglichen Situation bei. Als er sie erblickte, erhob er sich, nickte dem General von weitem freundlich zu und machte ein Zeichen, daß sie die Deklamation nicht unterbrechen möchten; er selbst aber retirierte sich hinter seinen Lehnstuhl, wo er, mit dem linken Arm auf die Lehne gestützt, die Ballade weiter mit anhörte, sozusagen in gesicherter und nicht so komischer Stellung wie vorher, als er auf dem Lehnstuhl saß. Lisaweta Prokofjewna winkte ihrerseits den Ankömmlingen mit gebieterischen Handbewegungen zu, sie möchten stehenbleiben.

Der Fürst interessierte sich übrigens sehr für seinen neuen Gast, der mit dem General gekommen war; er vermutete mit Bestimmtheit in ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski, von dem er schon viel gehört und an den er schon oft gedacht hatte. Nur machte ihn dessen Zivilanzug stutzig, da er gehört hatte, daß Jewgeni Pawlowitsch Offizier sei. Ein spöttisches Lächeln spielte während der ganzen Dauer der Deklamation um die Lippen des neuen Gastes, als wenn er bereits etwas von dem ›armen Ritter‹ gehört hätte.

»Vielleicht rührt der ganze Gedanke von ihm her«, dachte der Fürst im stillen.

Aber mit Aglaja war eine große Veränderung vorgegangen. Statt der ursprünglichen Affektiertheit und Wichtigtuerei, mit der sie zum Deklamieren vorgetreten war, zeigte sie einen solchen Ernst und ein so tiefes Eindringen in den Geist und Sinn des dichterischen Erzeugnisses, sie sprach jedes Wort des Gedichtes mit solchem Verständnis, sie trug die Verse mit so vollendeter Schlichtheit vor, daß sie, als die Deklamation beendet war, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, sondern auch durch die Wiedergabe des hohen geistigen Gehaltes der Ballade jene besondere, affektierte Feierlichkeit, mit der sie so triumphierend in die Mitte der Veranda getreten war, nachträglich gewissermaßen zum Teil gerechtfertigt hatte. In diesem feierlichen Wesen konnte man jetzt nur ihre grenzenlose und vielleicht naive Hochachtung vor demjenigen sehen, was sie wiederzugeben unternommen hatte. Ihre Augen leuchteten, und ein leiser, kaum bemerkbarer Schauer der Begeisterung und des Entzückens lief einigemal über ihr schönes Gesicht. Sie deklamierte:

»Einstmals lebt' ein armer Ritter,

Schweigsam, herzensgut und schlicht;

Kühn mit jedem Feinde stritt er,

Ernst und blaß war sein Gesicht.

In Verzückung war erschienen

Ihm ein himmlisch Frauenbild,

Nie vergaß er dessen Mienen,

Hehr und edel, hold und mild.

Ganz der Heiligen ergeben,

Mied er alle Frau'n hinfort,

Gönnt' in seinem ganzen Leben

Keinem ird'schen Weib ein Wort.

Und ein Paternoster trug er

Um den Hals als sondre Zier;

Niemals in die Höhe schlug er

Vorm Gesichte das Visier.

Dieser Rittersmann, getrieben

Von des Herzens reiner Glut,

Hat auf seinen Schild geschrieben

A.N.D. mit seinem Blut.

Als ins heil'ge Land sie kamen,

Rief ein jeder Christenheld

Seiner edlen Dame Namen

In der Schlacht auf blut'gem Feld.

›Lumen coeli, sancta rosa!‹

Rief jedoch mit wildem Blick

Unser Ritter; solch Gedroh sah

Scheu der Feind und wich zurück.

Heimgekehrt zur Burg der Väter,

Lebt' er fort, ein trüber Tropf,

Immer einsam, bis er später

Starb, nicht ganz normal im Kopf.«

Wenn der Fürst in späterer Zeit sich an diesen ganzen Vorgang erinnerte, so quälte er sich lange ratlos mit einer für ihn unlösbaren Frage ab: wie es möglich war, eine so echte, schöne Empfindung mit so offenbarem, boshaftem Spott zu vereinigen. Denn daß wirklich Spott dahintersteckte, daran zweifelte er nicht; das fühlte er deutlich, und er hatte zu seiner Auffassung seine guten Gründe: beim Deklamieren hatte sich Aglaja erlaubt, die Buchstaben A.N.D. mit den Buchstaben N.F.B. zu vertauschen. Daß hier kein Irrtum und kein Verhören seinerseits vorlag, daran konnte er nicht zweifeln (die Folgezeit lieferte den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht). Jedenfalls war Aglajas Ausschreitung (die sicherlich nur als Scherz gemeint, aber doch gar zu keck und leichtsinnig war) vorher überlegt gewesen. Von dem »armen Ritter« hatten alle gesprochen und sich darüber amüsiert, schon vor einem Monat. Und trotzdem mußte der Fürst, wie sehr er auch später sein Gedächtnis anstrengte, zugeben, daß Aglaja jene Buchstaben nicht nur ohne jeden scherzhaften oder spöttischen Beiklang, nicht nur ohne eine besondere Betonung, die ihren geheimen Sinn stärker hervorgehoben hätte, sondern im Gegenteil mit so unverändertem Ernst, mit einer solchen unschuldigen, naiven Einfachheit gesprochen hatte, daß man hätte denken können, eben jene Buchstaben hätten in dem Gedicht gestanden, und es wäre so in dem Buch gedruckt gewesen. Es lag in ihrem Verhalten etwas, was den Fürsten peinlich verletzte. Lisaweta Prokofjewna hatte es natürlich nicht verstanden und weder die Vertauschung der Buchstaben noch die Anspielung gemerkt. General Iwan Fjodorowitsch begriff weiter nichts, als daß da ein Gedicht deklamiert wurde. Von den übrigen Zuhörern hatten sehr viele die Ausschreitung gemerkt und sich über deren Kühnheit und Tendenz gewundert; aber sie schwiegen und bemühten sich, harmlose Gesichter zu machen. Jewgeni Pawlowitsch jedoch hatte (darauf hätte der Fürst wetten mögen) nicht nur verstanden, sondern bestrebte sich auch, dies durch seine Miene zu zeigen: er lächelte überaus spöttisch.

»Ein reizendes Gedicht«, rief die Generalin in aufrichtigem Entzücken, sobald die Deklamation zu Ende war.

»Von wem ist es denn?«

»Von Puschkin, Mama. Machen Sie uns doch nicht solche Schande; man muß sich ja schämen!« rief Adelaida.

»Ihr stellt einen aber auch immer als Dummkopf hin!« erwiderte Lisaweta Prokofjewna gekränkt. »Schämt euch! Sowie wir nach Hause kommen, müßt ihr mir dieses Puschkinsche Gedicht geben.«

»Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.«

»Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu.

»Dann schickt sofort jemanden nach der Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß; du hast sehr schön deklamiert; aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid; und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.«

Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski vorgestellt.

»Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierher ginge, und daß auch alle meine Angehörigen ...«

»Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgeni Pawlowitsch; »und da ich mir schon längst fest vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft zu suchen, sondern auch nach Ihrer Freundschaft zu streben, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört ...«

»Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Ljow Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte.

Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort ein gemeinsames Gespräch. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgeni Pawlowitschs Zivilanzug ein allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, dergestalt, daß sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als lege man diesem Kostümwechsel eine besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert, was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte den neuen Zivilisten einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär-oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich aber dann gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie sich vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigte. Es schien dem Fürsten, daß Jewgeni Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand.

»Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt!« erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein reines Rätsel. Er selbst proklamiert es immer als sei nen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.«

Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgeni Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte.

»Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr ausgetreten«, sagte Radomski lachend.

»Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, liegt doch gar kein Grund dazu vor«, ereiferte sich der General immer noch.

 

»Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen ...«

Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu; aber die eigenartige und immer noch fortdauernde Unruhe überschritt doch nach der Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte da wohl etwas Besonderes dahinterstecken.

»Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgeni Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat.

Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, wie wenn sie ihm zu verstehen geben wollte, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne, und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe.

»Aber es ist zu spät, es ist viel zu spät jetzt, um nach der Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja mit Lisaweta Prokofjewna energisch und hitzig. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!«

»Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch nach der Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgeni Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein; es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend.

»Sind wir solange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida.

»Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgeni Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben char à banc mit roten Rädern.«

»Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida.

»Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgeni Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen; aber diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buch zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.«

Der Fürst hörte das, was Radomski sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß derselbe mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach.

»Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wjera, die Tochter Lebedjews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format und waren vorzüglich gebunden und fast neu.

»Ein Puschkin«, antwortete Wjera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.«

»Wie ist das gemeint? Was stellt das vor?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt.

»Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« rief Lebedjew, der hinter der Schulter seiner Tochter hervorsprang. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zu meinem Selbstkostenpreis. Dies ist unser eigener Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist – zu meinem Selbstkostenpreis. Ich werde ihn Ihnen mit Ehrerbietung hinbringen, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.«

»Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen; habe keine Angst; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört; du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist's? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?«

»Mit Ehrerbietung und größtem Respekt!« versetzte Lebedjew höchst zufrieden unter starkem Gesichterschneiden und nahm seiner Tochter die Bücher ab.

»Na, verliere sie nur nicht, wenn du sie hinbringst; Ehrerbietung ist dabei nicht vonnöten. Aber ich sage dir vorher«, fügte sie, ihn fest anblickend, hinzu, »über die Schwelle lasse ich dich nicht; dich heute zu empfangen, das liegt nicht in meiner Absicht. Deine Tochter Wjera kannst du mir aber gleich hinschicken; die hat mir sehr gefallen.«

»Warum sagen Sie denn nichts von jenen Leuten?« wandte sich Wjera ungeduldig an ihren Vater. »Sonst werden sie noch unaufgefordert hereinkommen; sie haben schon angefangen Lärm zu machen. Ljow Nikolajewitsch«, wandte sie sich an den Fürsten, der schon nach seinem Hut gegriffen hatte, »da sind schon vor längerer Zeit vier Menschen gekommen, die zu Ihnen wollen. Sie warten in unserer Wohnung und schimpfen; aber Papa will sie nicht zu Ihnen hereinlassen.«

»Was sind das für Besucher?« fragte der Fürst.

»Sie sagen, sie kämen in einer geschäftlichen Angelegenheit«, erwiderte Wjera. »Aber es sind Menschen von solcher Art, daß sie, wenn sie jetzt nicht vorgelassen werden, sich nicht scheuen werden, Sie einmal auf der Straße anzuhalten. Es wird das beste sein, wenn Sie sie vorlassen, Ljow Nikolajewitsch, und sie dann ein für allemal abschütteln. Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyn reden dort auf sie ein; aber sie hören nicht darauf.«

»Es ist Pawlischtschews Sohn, es ist Pawlischtschews Sohn! Er ist es nicht wert, er ist es nicht wert!« rief Lebedjew mit lebhaftem Armschwenken. »Die Leute sind nicht wert, daß man sie anhört, und es schickt sich gar nicht, daß Sie, durchlauchtigster Fürst, sich ihretwegen stören lassen. So ist es. Die Menschen verdienen es nicht ...«

»Pawlischtschews Sohn! Mein Gott!« rief der Fürst in größter Verlegenheit. »Ich weiß ... aber ich hatte ja ... ich hatte ja Gawrila Ardalionowitsch mit der Erledigung dieser Sache beauftragt. Eben hat mir noch Gawrila Ardalionowitsch gesagt ...«

Aber Gawrila Ardalionowitsch kam bereits aus den Zimmern auf die Veranda heraus; ihm folgte Ptizyn. In dem nächsten Zimmer hörte man Lärm und die laute Stimme des Generals Iwolgin, der, wie es schien, einige andere Stimmen zu überschreien suchte. Kolja lief sogleich dahin, wo der Lärm war.

»Das ist sehr interessant«, bemerkte Jewgeni Pawlowitsch laut. »Also ist er orientiert!« dachte der Fürst.

»Was für ein Sohn Pawlischtschews? Und ... was kann das für ein Sohn Pawlischtschews sein?« fragte der General Iwan Fjodorowitsch erstaunt, der neugierig seinen Blick über alle Gesichter schweifen ließ und mit Verwunderung bemerkte, daß diese neue Geschichte nur ihm allein unbekannt sei.

In der Tat, die Aufregung und Spannung war allgemein. Der Fürst war höchst verwundert, daß diese seine rein persönliche Angelegenheit bereits das Inte resse aller Anwesenden in so hohem Grad erregt hatte.

»Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernstem Wesen zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie, bitte, erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst; Sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.«

»Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst; schone sie nicht! Ich habe schon so viel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch.