Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Gewiß, ich habe davon gehört, und zwar bei Ihnen. Aber es reizt mich ganz besonders, mir diese jungen Leute anzusehen«, erwiderte Fürst Schtsch.

»Es sind wohl Nihilisten, nicht wahr?« fragte Lisaweta Prokofjewna.

»Nein, Nihilisten sind sie eigentlich nicht«, sagte Lebedjew vortretend; auch er zitterte vor Aufregung; »es ist eine andere, besondere Sorte. Mein Neffe hat mir gesagt, sie gingen weiter als die Nihilisten. Wenn Euer Exzellenz etwa meinen, diese Leute durch Ihre Gegenwart verlegen zu machen, so würde das ein Irrtum sein; die werden nicht verlegen. Die Nihilisten sind doch manchmal kenntnisreiche Leute, sogar gelehrte Leute; aber diese hier gehen weiter, weil sie vor allem materielle Interessen im Auge haben. Es ist das eigentlich eine Folgeerscheinung des Nihilismus, wenn auch keine unmittelbare, sondern nur eine indirekte: sie kennen den Nihilismus nur vom Hörensagen. Diese Leute sprechen sich nicht in einem Zeitungsartikel aus, sondern schreiten sofort zur Tat; es ist zum Beispiel nicht davon die Rede, ob Puschkin sinnlos ist, oder ob Rußland in seine Teile zerfallen muß; nein, diese Menschen betrachten es jetzt geradezu als ihr Recht, wenn sie nach etwas Verlangen tragen, vor keinem Hindernis haltzumachen, und wenn sie acht Personen dabei abmurksen müßten. Aber, ich würde Ihnen doch nicht raten, Fürst ...«

Indes der Fürst ging schon zur Tür, um sie den Besuchern zu öffnen.

»Sie verleumden die Leute, Lebedjew«, sagte er lächelnd; »Sie haben sich zu sehr über Ihren Neffen geärgert. Glauben Sie ihm nicht, Lisaweta Prokofjewna! Ich versichere Ihnen: Leute wie Gorski und Danilow sind nur seltene Ausnahmen; diese Leute hier ... sind nur in einem Irrtum befangen. Aber es wäre mir nicht lieb, wenn die Sache hier in Gegenwart aller verhandelt würde. Verzeihen Sie also, Lisaweta Prokofjewna; sie werden hereinkommen, ich werde sie Ihnen zeigen und dann wegführen. Treten Sie näher, meine Herren!«

Was ihn beunruhigte, war vielmehr ein anderer, ihm peinlicher Gedanke. In seinem Kopf war die Frage aufgetaucht: war nicht vielleicht diese ganze Sache von jemandem künstlich im voraus arrangiert, gerade zu dieser Zeit und Stunde, wo diese Zeugen zugegen waren, und zwar vielleicht arrangiert in der Erwartung, daß sie nicht mit seinem Triumph, sondern mit seiner Beschämung enden werde? Aber er war ganz betrübt über diesen »ungeheuerlichen, schändlichen Argwohn«. Er müßte ja, meinte er, vor Scham in die Erde sinken, wenn jemand erführe, daß er so etwas denke; und in dem Augenblick, als die neuen Besucher eintraten, war er aufrichtig bereit zu glauben, daß er in sittlicher Hinsicht auf einem weit niedrigeren Standpunkt stehe als irgendeiner der übrigen Anwesenden.

Es traten fünf Personen ein; vier davon waren die neuen Gäste, und als fünfter folgte ihnen General Iwolgin, ganz ereifert, in Aufregung und in einem starken Anfall von Redelust. »Der wenigstens ist auf meiner Seite!« dachte der Fürst lächelnd. Kolja schlüpfte mit den andern zusammen herein. Er sprach eifrig mit Ippolit, der zu den Ankömmlingen gehörte; Ippolit hörte ihn an und lächelte.

Der Fürst bat die Besucher, Platz zu nehmen. Sie waren fast alle noch ein so jugendliches, von der Volljährigkeit noch so weit entferntes Völkchen, daß man sich über den ganzen Vorfall und die dadurch hervorgerufene Aufregung wundern konnte. Namentlich war Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, der von dieser »neuen Affäre« nichts wußte und nichts verstand, geradezu empört, als er diese junge Gesellschaft erblickte, und hätte sicherlich irgendwie Einspruch erhoben, wenn ihn nicht der ihm merkwürdige Umstand davon zurückgehalten hätte, daß seine Gattin an den Privatangelegenheiten des Fürsten so warmen Anteil nahm. Er blieb übrigens teils aus Neugier, teils aus Gutherzigkeit, sogar in der Hoffnung, helfen und jedenfalls durch seine Autorität von Nutzen sein zu können; aber die Verbeugung, die ihm der eintretende General Iwolgin machte, verstimmte ihn von neuem; er runzelte die Stirn und nahm sich vor, hartnäckig zu schweigen.

Unter den vier Besuchern war übrigens einer der dreißigjährige Leutnant a.D., der Boxer, der zur Rogoschinschen Rotte gehört und angeblich früher selbst jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben hatte. Es lag die Vermutung nahe, daß er die übrigen in der Eigenschaft eines aufrichtigen Freundes begleite, um ihnen Mut zu machen und nötigenfalls als Beistand zu dienen. Unter den übrigen nahm die erste Stelle ein und spielte die erste Rolle derjenige, der als »Pawlischtschews Sohn« bezeichnet wurde, wiewohl er sich mit dem Namen Antip Burdowski vorstellte. Es war dies ein junger Mann, ärmlich und schlampig gekleidet, in einem Oberrock, dessen Ärmel so fettig waren, daß sie spiegelten, mit einer unsauberen, bis oben zugeknöpften Weste, ohne alle sichtbare Wäsche, mit einem schwarzseidenen, unglaublich vollgefetteten, zu einem Strick zusammengedrehten Halstuch, mit ungewaschenen Händen, mit einem Gesicht, das ganz mit Pickeln besät war, mit blondem Haar und, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frechem Blick. Er war von kleiner Statur, mager und ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Ironie oder überhaupt von Denktätigkeit ausgeprägt, sondern nur eine vollständige stumpfe Trunkenheit von dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, und gleichzeitig ein sonderbarerweise zum steten Bedürfnis gewordenes Gefühl, als sei er beleidigt worden. Er sprach in erregtem Ton, heftig und stockend, einzelne Worte nicht ganz zu Ende bringend, wie wenn er ein Stotterer oder gar ein Ausländer wäre, obgleich er von rein russischer Abkunft war.

Es begleiteten ihn erstens der den Lesern bereits bekannte Neffe Lebedjews und zweitens Ippolit. Ippolit war ein sehr junger Mensch, ungefähr siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt, mit einem klugen Gesicht, das aber beständig den Ausdruck der Gereiztheit trug und die schrecklichen Spuren seiner Krankheit zeigte. Er war mager wie ein Skelett, mit blaßgelber Haut; seine Augen funkelten, und auf seinen Backen brannten zwei rote Flecken. Er hustete beständig; jedes Wort, fast jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Er befand sich offenbar im höchsten Stadium der Schwindsucht. Es schien, daß er nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Er war sehr müde und ließ sich früher als alle andern auf einen Stuhl nieder. Die übrigen genierten sich beim Eintritt ein wenig und waren sogar verlegen; sie blickten jedoch wichtigtuerisch drein und fürchteten offenbar, sich etwas von ihrer Würde zu vergeben. Das stand in seltsamem Widerstreit zu ihrem Ruf als Gegner aller nutzlosen gesellschaftlichen Possen und Vorurteile und überhaupt fast aller Dinge auf der Welt mit Ausnahme ihrer eigenen Interessen.

»Antip Burdowski«, sagte der »Sohn Pawlischtschews« hastig und stockend.

»Wladimir Doktorenko«, stellte sich mit klarer, deutlicher Aussprache Lebedjews Neffe vor; es klang, als brüste er sich mit seinem Namen.

»Keller«, murmelte der Leutnant a.D.

»Ippolit Terentjew«, sagte der letzte mit einer Stimme, deren kreischender Ton etwas Überraschendes hatte. Alle hatten endlich in einer Reihe auf Stühlen dem Fürsten gegenüber Platz genommen und sich sogleich vorgestellt; nun machten sie finstere Gesichter und schoben, um sich Mut zu machen, ihre Mützen von einer Hand in die andere; alle bereiteten sich darauf vor, zu reden, schwiegen aber trotzdem sämtlich; sie schienen auf etwas mit einer herausfordernden Miene zu warten, in der gleichsam zu lesen war: »Nein, Bruder, da irrst du dich; du wirst mich nicht übers Ohr hauen!« Man hatte das Gefühl, daß jemand zum Anfang nur das erste Wort, nur ein einziges Wort zu sagen brauche, dann würden sie sofort alle zusammen, sich wechselseitig unterbrechend und einander zuvorkommend, zu reden beginnen.

VIII

»Meine Herren, ich habe niemand von Ihnen erwartet«, begann der Fürst; »ich selbst bin bis heute krank gewesen; Ihre Angelegenheit aber« (er wandte sich an Antip Burdowski) »hatte ich schon vor einem Monat Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin zur Erledigung übergeben, wovon ich Sie gleich damals benachrichtigt habe. Übrigens will ich einer persönlichen Aussprache nicht ausweichen; nur werden Sie selbst zugeben, daß es dazu schon etwas spät am Tage ist ... Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir in ein Zimmer zu gehen, wenn es nicht zu lange dauert ... Hier sind jetzt meine Freunde, und seien Sie überzeugt ...«

»Freunde können dabei sein, soviel Sie wollen; aber erlauben Sie«, unterbrach ihn plötzlich in sehr anmaßendem Ton, wiewohl ohne noch die Stimme besonders zu erheben, Lebedjews Neffe, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie uns hätten höflicher behandeln können und uns nicht zwei Stunden lang in Ihrer Gesindestube hätten warten zu lassen brauchen ...«

»Gewiß ... auch ich ... Das ist so recht fürstenmäßig! Sie freilich ... sind ein vornehmer Mann; aber ich ... bin nicht Ihr Lakai! Und ich ... ich ...«, murmelte Antip Burdowski in großer Aufregung, mit beben den Lippen; Speicheltröpfchen flogen ihm aus dem Mund; es war, als wenn er jeden Augenblick bersten und platzen wollte. Aber er überhastete sich so, daß nach einem Dutzend Worten nichts mehr zu verstehen war.

»Das war so recht fürstenmäßig!« schrie Ippolit mit seiner kreischenden, rissigen Stimme.

»Wenn mir das passiert wäre«, brummte der Boxer, »das heißt, wenn sich dieses Benehmen direkt gegen mich als anständigen Menschen richtete, dann hätte ich an Burdowskis Stelle ... ja, dann hätte ich ...«

»Meine Herren, ich habe erst diesen Augenblick erfahren, daß Sie hier sind, bei Gott!« erwiderte der Fürst.

»Wir fürchten uns nicht vor Ihren Freunden, Fürst, wer es auch immer sein mag, weil wir in unserm Recht sind«, erklärte wieder Lebedjews Neffe.

 

»Gestatten Sie indessen die Frage«, kreischte wieder Ippolit, der aber jetzt schon sehr hitzig geworden war, »welches Recht Sie haben, Burdowskis Angelegenheit dem Urteil Ihrer Freunde zu unterbreiten? Wir wünschen vielleicht gar nicht, daß Ihre Freunde darüber urteilen; es ist nur zu klar, was das Urteil Ihrer Freunde für einen Wert hat ...!«

»Aber wenn Sie, Herr Burdowski, hier nicht zu sprechen wünschen«, sagte der Fürst, als es ihm endlich gelang, zu Worte zu kommen (er war über diesen Anfang des Gesprächs außerordentlich erstaunt), »so lassen Sie uns, wie schon gesagt, gleich in ein Zimmer gehen. Davon aber, daß Sie alle hier seien, habe ich, wie ich Ihnen nochmals bemerke, erst diesen Augenblick gehört ...«

»Aber Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht ...! Ihre Freunde ... Da ...!« stotterte Burdowski von neuem. Er sah scheu und ängstlich um sich und ereiferte sich immer mehr, je mehr sein Selbstvertrauen sank und seine Furcht wuchs. »Sie haben kein Recht.«

Nachdem er das gesagt hatte, schnappte er ganz plötzlich ab, als ob er nichts weiter wüßte; und stumm seine kurzsichtigen, stark hervorstehenden, mit dicken, roten Äderchen durchzogenen Augen aufreißend, starrte er, mit dem ganzen Oberkörper vornübergebeugt, den Fürsten an. Diesmal war der Fürst so verwundert, daß auch er verstummte und ihn gleichfalls mit weitgeöffneten Augen, ohne ein Wort zu sagen, ansah.

»Ljow Nikolajewitsch!« rief auf einmal Lisaweta Prokofjewna. »Lies doch dies hier gleich einmal vor, augenblicklich! Das hat auf deine Angelegenheit unmittelbaren Bezug!«

Sie hielt ihm eilig eine humoristische Wochenschrift hin und wies mit dem Finger auf einen Artikel. Lebedjew war in dem Augenblick, als die neuen Gäste noch im Hereinkommen begriffen waren, von der Seite zu Lisaweta Prokofjewna herangesprungen, um deren Gunst er sich sehr bemühte, hatte, ohne ein Wort zu sagen, aus der Seitentasche seines Rocks diese Zeitschrift herausgezogen, sie ihr gerade vor die Augen gehalten und auf eine angestrichene Spalte hingezeigt. Durch das, was Lisaweta Prokofjewna bereits davon gelesen hatte, war sie in gewaltige Verwunderung und Entrüstung versetzt worden.

»Wäre es aber nicht besser, es nicht laut zu lesen«, stammelte der Fürst sehr verlegen; »ich würde es lieber für mich allein lesen ... später ...«

»Dann lies du es lieber vor, sofort, laut! Laut!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Kolja und riß dem Fürsten die Zeitschrift, die er noch kaum berührt hatte, ungeduldig aus den Händen. »Lies es allen laut vor, damit es jeder hört.«

Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame, so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr. Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten, was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der hinzuspringende Lebedjew zeigte:

»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!

Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist's her, und doch ist's kaum zu glauben‹) und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich. Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Edeling, Idiot wie er war, versuchte doch, seinen Professor zu betrügen, und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn doch schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe Fortuna unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, allein dastehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen in barem Geld, die (ja, das wäre etwas für uns beide, mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unanfechtbar unserem jungen Edeling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten Schönheit der Halbwelt den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen ...!«

»Das ... das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.

»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Ton. Von allen Seiten erschollen verschiedenartige Ausrufe.

»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«

Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter vor: »Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoß des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtlicher Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörig, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er ist von einem jungen Mann mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt worden und kommt in dessen Namen. Dieser junge Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sohn des verstorbenen P., obgleich er einen andern Namen trägt. Der Lüstling P. hatte in seiner Jugend ein anständiges, armes Mädchen verführt, das zu seinem Hofgesinde gehörte, aber eine westeuropäische Erziehung genossen hatte (wobei selbstverständlich die Herrenrechte der damaligen Zeit der Leibeigenschaft mit ins Spiel kamen), und als die unausbleiblichen, nahe bevorstehenden Folgen dieses Verhältnisses sichtbar wurden, sie möglichst schnell an einen erwerbstätigen, sogar in dienstlicher Stellung befindlichen Mann von edlem Charakter verheiratet, der dieses Mädchen schon lange geliebt hatte. Anfangs unterstützte er das junge Ehepaar; aber die edle Gesinnung des Ehemannes veranlaßte diesen bald, die weitere Annahme solcher Unterstützung abzulehnen. Es verging nun einige Zeit, und P. vergaß allmählich das Mädchen und seinen mit ihr erzeugten Sohn und starb dann bekanntlich, ohne testamentarische Anordnungen zu hinterlassen. Sein Sohn, der zu einer Zeit geboren wurde, als seine Mutter bereits in legitimer Ehe lebte, wuchs unterdessen unter einem andern Familiennamen heran und wurde von dem edeldenkenden Gatten seiner Mutter völlig als Sohn behandelt; aber als er bei dessen Tod mit der kränklichen, leidenden, an den Füßen gelähmten Mutter in einem abgelegenen Gouvernement zurückblieb, sah er sich vollständig auf seine eigenen Mittel angewiesen. Er selbst ging nach der Hauptstadt und verdiente sich Geld durch tägliche anständige Arbeit, indem er in Kaufmannsfamilien Privatstunden gab und sich dadurch zuerst als Gymnasiast, dann als Hörer der für ihn zweckmäßigen Universitätsvorlesungen erhielt, wobei er ein höheres Ziel im Auge hatte. Aber kann man etwa viel erwerben, wenn einem der russische Kaufmann für die Stunde zehn Kopeken gibt und man obendrein eine kranke, gelähmte Mutter hat? Auch als diese schließlich in dem abgelegenen Gouvernement starb, wurde der Sohn dadurch nicht sonderlich entlastet. Nun werfen wir die Frage auf: wie mußte unser junger Edeling gerechterweise denken? Gewiß meinen Sie, verehrter Leser, daß er zu sich folgendermaßen gesprochen hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen; für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen; und da besitze ich nun jetzt Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt wurde, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden sollen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war dies nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohn P.s. Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich; letzteres war nur die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinn ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; aber da ich vor allen Dingen ein kluger Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, so werde ich ihm nicht die Hälfte meiner Millionen geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‹ (der Edeling vergaß, daß es auch nicht klug sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹

 

Aber nein, meine Herren! Unsere jungen Edelinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, beinah gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstandes und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts; aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, dasjenige verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne; und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der durch seine Millionen ihm zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Edeling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber trotz alledem hat er es getan! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache erledigt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht; es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit übrig! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdient:

In 'nem Mäntelchen von Schneider

Spielte Ljow fünf Jahr herum;

Unterdessen wurde leider

Nichts aus seinem Studium.

Heimgekehrt drauf in Gamaschen,

Erbt' er glücklich 'ne Million

Und bestahl trotz voller Taschen

Einen armen Musensohn.«

Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift so schnell wie möglich dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, drückte sich dicht hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich in einem unerträglichen Grade, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt. Es schien ihm, als sei etwas ganz Ungewöhnliches vorgegangen, als sei alles Bestehende dadurch auf einmal niedergerissen, und als sei er selbst beinah mit daran schuld, schon allein dadurch, daß er es laut vorgelesen habe.

Aber auch alle übrigen schienen Ähnliches zu empfinden.

Die jungen Mädchen fühlten sich sehr unbehaglich und schämten sich. Lisaweta Prokofjewna hielt einen heftigen Zorn gewaltsam zurück und bereute es wohl bitter, sich in die Sache eingelassen zu haben; jetzt schwieg sie. Mit dem Fürsten ging dasselbe vor, was allzu schüchternen Menschen in solchen Fällen zu begegnen pflegt: er schämte sich dermaßen über das Benehmen anderer, nämlich seiner Gäste, daß er sich im ersten Augenblick fürchtete, sie auch nur anzusehen. Ptizyn, Warja, Ganja, sogar Lebedjew, alle machten etwas verlegene Gesichter. Das Sonderbarste war, daß Ippolit und »Pawlischtschews Sohn« ebenfalls erstaunt zu sein schienen; auch Lebedjews Neffe war offenbar unzufrieden. Nur der Boxer saß ganz ruhig da und drehte mit würdevoller Miene seinen Schnurrbart; die Augen hielt er niedergeschlagen, aber nicht aus Verlegenheit; im Gegenteil schien es, als tue er es aus edler Bescheidenheit, und um sein Triumphgefühl nicht allzu sichtbar werden zu lassen. An allem konnte man merken, daß der betreffende Artikel ihm sehr gut gefiel.

»Weiß der Teufel, was das vorstellen soll«, brummte Iwan Fjodorowitsch halblaut. »Das ist ja, als hätten fünfzig Lakaien sich zusammengetan und das abgefaßt.«

»Gestatten Sie die Frage, mein Herr, wie Sie es wagen können, uns durch solche Vermutungen zu beleidigen?« fragte Ippolit, am ganzen Leibe zitternd.

»Das, das, das ist für einen anständigen Menschen ... Sagen Sie selbst, General, wenn ein anständiger Mensch ... so ist das doch verletzend!« brummte der Boxer, der gleichfalls auf einmal zusammenfuhr, seinen Schnurrbart drehte, und mit den Schultern und dem ganzen Oberkörper zuckte.

»Erstens bin ich für Sie nicht ›mein Herr‹, und zweitens beabsichtige ich Ihnen keinerlei Erklärungen zu geben«, erwiderte der höchst ergrimmte Iwan Fjodorowitsch in scharfem Ton, stand auf, ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Ausgang der Veranda und stellte sich dort auf die oberste Stufe hin, den Anwesenden den Rücken zuwendend. Er war höchst empört über Lisaweta Prokofjewna, die auch jetzt noch nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren.