Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Aber hast du denn den Verstand verloren? Was? Das ist ja Unsinn! In ärztliche Behandlung mußt du; was hat es für Sinn, jetzt Gespräche zu führen! Geh, geh und leg dich ins Bett!« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken.



»Wenn ich mich hinlege, so werde ich ja bis zu meinem Tode nicht wieder aufstehen«, versetzte Ippolit lächelnd.



»Ich wollte mich schon gestern hinlegen, um vor dem Tod nicht wieder aufzustehen, verschob es aber um zwei Tage, solange mich die Beine noch tragen ... um heute mit denen hierher zu gehen ... Aber ich bin sehr müde ...«



»So setz dich doch, setz dich doch! Warum stehst du? Da hast du einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna eifrig und schob ihm selbst einen Stuhl hin.



»Ich danke Ihnen«, fuhr Ippolit leise fort. »Setzen Sie sich mir gegenüber, dann wollen wir miteinander sprechen ... Wir müssen unbedingt miteinander sprechen, Lisaweta Prokofjewna; jetzt bestehe ich darauf ...« Er lächelte wieder. »Bedenken Sie, daß ich heute zum letztenmal in der freien Luft und unter Menschen bin und in zwei Wochen aller Wahrscheinlichkeit nach in der Erde liegen werde. Also wird das eine Art Abschied von den Menschen und von der Natur sein. Ich bin zwar nicht sehr sentimental; aber denken Sie sich: ich freue mich doch sehr, daß dies alles gerade hier in Pawlowsk vorgegangen ist; man sieht hier doch wenigstens einen grünen Baum.«



»Aber wozu willst du denn jetzt ein Gespräch führen?« wandte Lisaweta Prokofjewna ein, die immer ängstlicher wurde. »Du fieberst ja vollständig. Vorhin kreischtest und quiektest du, und jetzt bekommst du kaum Luft und bist am Ersticken!«



»Ich werde mich gleich wieder erholen. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen ...? Wissen Sie, ich habe schon lange im stillen davon phantasiert, mit Ihnen einmal zusammenzukommen, Lisaweta Prokofjewna; ich habe viel von Ihnen gehört ... durch Kolja; der ist ja fast der einzige, der mich nicht verlassen hat ... Sie sind eine eigenartige Frau, eine exzentrische Frau; das habe ich jetzt selbst gesehen ... Wissen Sie wohl, daß ich Sie sogar ein bißchen geliebt habe?«



»O Gott, und ich hätte ihn wahrhaftig beinah geschlagen!«



»Aglaja Iwanowna hat Sie davon zurückgehalten. Ich irre mich doch nicht? Das ist doch Ihre Tochter Aglaja Iwanowna? Sie ist so schön, daß ich vorhin gleich beim ersten Blick vermutete, sie sei es, obwohl ich sie niemals gesehen habe. Lassen Sie mich wenigstens zum letztenmal in meinem Leben eine wirkliche Schönheit sehen!« fügte Ippolit mit einem ungeschickten, schiefen Lächeln hinzu. »Es ist ja auch der Fürst hier und Ihr Gemahl und die ganze Gesellschaft. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen?«



»Einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna; aber sie ergriff selbst einen und setzte sich Ippolit gegenüber hin. »Kolja!« befahl sie, »brich gleich mit ihm auf und bring ihn nach Hause, und morgen werde ich bestimmt selbst ...«



»Wenn Sie erlauben, würde ich den Fürsten um eine Tasse Tee bitten ... Ich bin sehr müde. Wissen Sie was, Lisaweta Prokofjewna, Sie wollten ja wohl den Fürsten zum Teetrinken mit zu sich nach Hause nehmen: bleiben Sie doch hier; lassen Sie uns eine Weile zusammen sein; der Fürst wird gewiß uns allen, die wir hier sind, Tee geben lassen. Verzeihen Sie, daß ich solche Anordnungen treffe ...! Aber ich kenne Sie ja, Sie sind eine gute Frau, und auch der Fürst ist ein guter Mensch ... wir sind sämtlich lächerlich gute Leute ...«



Der Fürst geriet in geschäftige Bewegung; Lebedjew stürzte Hals über Kopf davon, Wjera lief hinter ihm her.



»Sei es so!« stimmte die Generalin ihm kurz bei. »Rede, aber leise, und reg dich nicht auf! Du tust mir leid ...! Fürst, du verdienst nicht, daß ich bei dir Tee trinke; aber ich will meinetwegen hierbleiben, wiewohl ich niemanden um Verzeihung bitte, niemanden! Unsinn! Übrigens, wenn ich vorhin auf dich geschimpft habe, so verzeih mir das ... das heißt, wenn du willst. Übrigens will ich niemanden hier zurückhalten«, wandte sie sich mit höchst zorniger Miene an ihren Mann und an ihre Töchter, als ob auch diese ihr irgendein schweres Unrecht angetan hätten. »Ich kann auch allein nach Hause zurückgehen ...«



Aber man ließ sie nicht zu Ende sprechen. Alle tra ten heran und umringten sie dienstfertig. Der Fürst bat sofort alle, zum Tee dazubleiben, und entschuldigte sich, daß er bisher nicht daran gedacht habe. Selbst der General war so liebenswürdig, ein paar Worte der Beruhigung zu murmeln und Lisaweta Prokofjewna freundlich zu fragen, ob es ihr auf der Veranda auch nicht zu kühl sei. Er setzte sogar schon dazu an, Ippolit zu fragen, ob er schon lange auf der Universität sei, tat es aber doch nicht. Jewgeni Pawlowitsch und Fürst Schtsch. wurden auf einmal sehr liebenswürdig und heiter, und auf Adelaidas und Alexandras Gesichtern wurde durch das fortdauernde Erstaunen hindurch sogar ein Ausdruck von Zufriedenheit sichtbar; kurz, alle waren augenscheinlich froh, daß die Krisis bei Lisaweta Prokofjewna vorüber war. Nur Aglaja machte ein finsteres Gesicht und setzte sich schweigend abseits. Auch die ganze übrige Gesellschaft blieb da; keiner wollte fortgehen, nicht einmal General Iwolgin, dem Lebedjew im Vorübergehen etwas zuflüsterte, wahrscheinlich nichts sehr Angenehmes, da der General sogleich in einen Winkel verschwand. Der Fürst trat mit seiner Einladung auch an Burdowski und dessen Begleitung heran, ohne jemand zu übergehen. Sie murmelten mit gezwungenen Mienen, sie würden auf Ippolit warten, und zogen sich sofort nach dem fernsten Winkel der Veranda zurück, wo sie sich wieder alle in einer Reihe hinsetzten. Wahrscheinlich war der Tee in Lebedjews Wohnung schon lange für die Familie fertig; denn er wurde sofort gebracht. Es schlug elf Uhr.






X



Ippolit benetzte seine Lippen an der Tasse Tee, die ihm Wjera Lebedjewa gereicht hatte, stellte die Tasse auf ein Tischchen und blickte verlegen und befangen rings um sich.



»Sehen Sie einmal diese Tassen, Lisaweta Prokofjewna«, sagte er mit seltsamer Hast; »diese Porzellantassen, die wohl von vorzüglichem Porzellan sind, hat Lebedjew immer in einer verschlossenen Chiffonière hinter Glas stehen; sie werden nie herausgegeben ... wie das so Sitte ist; sie haben zur Mitgift seiner Frau gehört ... das ist bei diesen Leuten so Sitte ... und nun hat er sie doch für uns herausgegeben, natürlich Ihnen zu Ehren; so hat er sich gefreut ...«



Er wollte noch etwas hinzufügen, konnte aber nicht gleich die richtigen Worte finden.



»Er ist ganz verlegen geworden; das hatte ich doch erwartet!« flüsterte Jewgeni Pawlowitsch dem Fürsten ins Ohr. »Das ist doch wohl gefährlich, nicht wahr? Ein ganz sicheres Anzeichen dafür, daß er jetzt aus Trotz irgendeine so arge Absonderlichkeit begehen wird, daß selbst Lisaweta Prokofjewna vielleicht nicht wird hierbleiben mögen.«



Der Fürst blickte ihn fragend an.



»Sie fürchten sich vor solchen Absonderlichkeiten nicht?« fügte Jewgeni Pawlowitsch hinzu. »Ich tue es auch nicht; ich wünsche dergleichen sogar herbei: es liegt mir besonders daran, daß unsere liebe Lisaweta Prokofjewna bestraft wird, und zwar gleich heute, gleich jetzt; vorher möchte ich gar nicht fortgehen. Aber Sie fiebern ja, wie es scheint?«



»Lassen wir das jetzt! Stören Sie nicht! Ja, ich bin nicht wohl«, antwortete der Fürst zerstreut und ungeduldig.



Er hörte seinen Namen; Ippolit sprach von ihm.



»Sie glauben es nicht?« lachte Ippolit krampfhaft. »Das war vorauszusehen; aber der Fürst wird es gleich beim ersten Wort glauben und gar nicht erstaunt darüber sein.«



»Hörst du wohl, Fürst?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an ihn. »Hörst du wohl?«



Ringsum wurde gelacht. Lebedjew drängte sich eifrig nach vorn und wendete und drehte sich dicht vor Lisaweta Prokofjewna hin und her.



»Er hat gesagt, daß dieser Grimassenschneider da, dein Hauswirt, jenem Herrn den Schmähartikel verbessert hat, der vorhin vorgelesen wurde.«



Der Fürst sah Lebedjew erstaunt an.



»Warum schweigst du denn?« fragte Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und stampfte dabei sogar mit dem Fuß.



»Nun ja«, murmelte der Fürst, der seinen Blick immer noch auf Lebedjew gerichtet hielt, »ich sehe schon, daß er es getan hat.«



»Ist das die Wahrheit?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna schnell an Lebedjew.



»Die reine Wahrheit, Exzellenz!« antwortete Lebedjew in festem Ton ohne zu zaudern und legte dabei die Hand aufs Herz.



»Er rühmt sich dessen noch!« rief sie und war nah daran, vom Stuhl aufzuspringen.



»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« murmelte Lebedjew, schlug sich gegen die Brust und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer hängen.



»Was fange ich damit an, daß du ein gemeiner Mensch bist! Er denkt, wenn er sagt: ›Ich bin ein gemeiner Mensch!‹ dann hat er sich herausgeholfen. Schämst du dich nicht, Fürst, mit solchen jämmerlichen Menschen zu verkehren? frage ich dich noch einmal. Ich werde dir das nie verzeihen!«



»Mir wird der Fürst verzeihen!« sagte Lebedjew fest überzeugt und sehr gerührt.



»Lediglich aus Edelmut«, begann auf einmal mit lauter, volltönender Stimme Keller, der schnell herzugetreten war und sich nun unmittelbar an Lisaweta Prokofjewna wandte, »lediglich aus Edelmut, gnädige Frau, um nicht einen Freund durch Verrat zu kompromittieren, habe ich vorhin von den Verbesserungen, die er vorgenommen hatte, geschwiegen, obgleich er vorschlug, uns aus der Tür zu werfen, wie Sie selbst gehört haben. Zur Ehre der Wahrheit gestehe ich nun, daß ich mich tatsächlich an ihn gewendet und ihm sechs Rubel bezahlt habe, aber durchaus nicht dafür, daß er meinen Stil verbessert hätte, sondern dafür, daß er als eine kompetente Persönlichkeit mir Tatsachen mitteilte, die mir größtenteils unbekannt waren. Das von den Gamaschen, von dem Appetit bei dem Schweizer Professor und von den fünfzig Rubeln statt der zweihundertfünfzig Gesagte, kurz diese ganze Partie stammt von ihm her und ist mit sechs Rubeln honoriert worden; aber den Stil hat er nicht korrigiert.«

 



»Ich muß bemerken«, unterbrach ihn Lebedjew mit fieberhafter Ungeduld und in kriecherischem Ton, während das Lachen ein immer allgemeineres wurde, »daß ich nur die erste Hälfte des Artikels verbessert habe; aber da wir in der Mitte uns veruneinigten und wegen eines Satzes in Streit gerieten, so habe ich die zweite Hälfte nicht mehr verbessert, und es darf daher alles, was darin gegen die gute Schreibart verstößt (und dessen ist vieles!), mir nicht zur Last gelegt werden ...«



»Also das ist es, worauf es ihm ankommt!« rief Lisaweta Prokofjewna.



»Gestatten Sie die Frage«, wandte sich Jewgeni Pawlowitsch an Keller, »wann denn diese Verbesserungen des Artikels stattgefunden haben.«



»Gestern vormittag«, antwortete Keller. »Wir hatten eine Zusammenkunft und versprachen uns gegenseitig mit unserem Ehrenwort, das Geheimnis zu bewahren.«



»Das war also fast zu derselben Zeit, wo er sich gegen dich so kriecherisch benahm und dich seiner Ergebenheit versicherte. Nein, diese jämmerlichen Menschen! Ich brauche deinen Puschkin nicht, und deine Tochter soll auch nicht zu mir kommen!«



Lisaweta Prokofjewna wollte schon aufstehen; aber plötzlich wandte sie sich gereizt an den lachenden Ippolit:



»Wie ist denn das, mein Lieber? Du hast mich wohl hier lächerlich machen wollen?«



»Gott bewahre!« erwiderte Ippolit mit einem schiefen Lächeln. »Aber mich interessiert außerordentlich Ihr exzentrisches Wesen, Lisaweta Prokofjewna, und ich muß gestehen, daß ich die Geschichte von Lebedjew absichtlich aufs Tapet gebracht habe, weil ich wußte, wie das auf Sie wirken würde; auf Sie allein; denn der Fürst wird ihm gewiß verzeihen und hat ihm wahrscheinlich schon verziehen ... er hat vielleicht schon im stillen eine Entschuldigung für ihn gesucht; es ist doch wohl so, Fürst, nicht wahr?«



Er war ganz außer Atem gekommen; seine seltsame Aufregung wuchs mit jedem Wort.



»Oh, oh ...!« sagte Lisaweta Prokofjewna zornig; sie wunderte sich über seinen Ton. »Nun, und weiter?«



»Ich hatte über Sie schon viel von dieser Art gehört ... mit großer Freude gehört ... ich habe Sie sehr schätzengelernt«, fuhr Ippolit fort.



Das waren seine Worte; aber er sprach sie in einer Weise, als ob er mit ihnen etwas ganz anderes sagen wollte. Er sprach mit einem Beiklang von Spott und regte sich gleichzeitig unverhältnismäßig auf, sah mißtrauisch um sich und geriet bei jedem Wort mehr in die Verwirrung und Verlegenheit hinein, so daß all dies im Verein mit seinem schwindsüchtigen Aussehen und seinem sonderbaren funkelnden und beinah wütenden Blick unwillkürlich die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte.



»Ich würde mich sonst, obwohl ich die Gebräuche der vornehmen Welt gar nicht kenne (das gebe ich zu), darüber wundern, daß Sie nicht nur selbst in unserer für Sie unpassenden Gesellschaft geblieben sind, sondern auch diesen ... jungen Mädchen erlaubt haben, eine solche Skandalgeschichte mitanzuhören; allerdings werden sie wohl all dergleichen schon in Romanen gelesen haben; ich weiß das übrigens vielleicht nicht ... denn ich befinde mich in großer Verwirrung. Aber jedenfalls, wer außer Ihnen hätte es fertiggebracht ..., auf die Bitte eines Knaben hin (nun ja, eines Knaben, auch das will ich wieder zugeben), mit ihm einen Teil des Abends zu verbringen und ... und an allem solchen Anteil zu nehmen und ... mit der Aussicht, sich dessen am nächsten Tag zu schämen ... (ich gebe übrigens zu, daß ich mich unrichtig ausdrücke). Ich lobe das alles sehr und schlage es sehr hoch an, obgleich schon an dem Gesicht Seiner Exzellenz, Ihres Gemahls, deutlich zu sehen ist, wie wenig das nach seinem Urteil zu seinem Rang paßt ... Hihi!« kicherte er; er hatte sich in seinem Reden völlig verrannt und bekam nun auf einmal einen solchen Hustenanfall, daß er mehrere Minuten lang nicht weitersprechen konnte.





»Er ist ja ganz außer Atem gekommen!« sagte Lisaweta Prokofjewna in kaltem, scharfem Ton, indem sie ihn mit ernster Neugier betrachtete. »Aber nun, mein lieber Junge, müssen wir unser Gespräch abbrechen. Es ist Zeit.«



»Erlauben Sie auch mir, mein Herr, Ihnen meinerseits zu bemerken«, begann auf einmal Iwan Fjodorowitsch gereizt, der den letzten Rest von Geduld verloren hatte, »daß meine Frau sich hier bei dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch, unserm gemeinsamen Freund und Nachbarn, befindet, und daß es jedenfalls Ihnen, junger Mann, nicht zusteht, über Lisaweta Prokofjewnas Handlungen ein Urteil zu fällen, ebensowenig wie es Ihnen zusteht, sich laut und mir ins Gesicht darüber zu äußern, was auf meinem Gesicht geschrieben steht. Jawohl. Und wenn meine Frau hiergeblieben ist«, fuhr er fort, indem er fast mit jedem Wort in eine gereiztere Stimmung hineinkam, »so hat sie das vorwiegend aus Verwunderung getan und aus einer begreiflichen modernen Neugier, so sonderbare junge Leute kennenzulernen. Und ich für meine eigene Person bin in ähnlicher Weise hiergeblieben, wie ich manchmal auf der Straße stehenbleibe, wenn da etwas zu sehen ist, so eine ... eine ...«



»So eine Kuriosität«, half ihm Jewgeni Pawlowitsch.



»Ganz recht, sehr richtig!« sagte erfreut Seine Exzellenz der General, der mit seinem Vergleich nicht ganz hatte zurechtkommen können; »so eine Kuriosität. Aber jedenfalls ist es mir höchst erstaunlich und sogar betrübend, daß Sie, junger Mensch, nicht einmal das haben begreifen können, daß Lisaweta Prokofjewna jetzt nur deswegen bei Ihnen geblieben ist, weil Sie krank sind (wenn anders Sie wirklich bald sterben werden), sozusagen aus Mitleid, wegen Ihrer kläglichen Reden, mein Herr, und daß ihrem Namen, ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Rang in keinem Fall irgendwelcher Makel anhaften kann ... Lisaweta Prokofjewna«, schloß der General, der ganz rot geworden war, »wenn du gehen willst, so wollen wir uns von unserm guten Fürsten verabschieden und ...«



»Ich danke Ihnen für die Lektion, die Sie mir erteilt haben, General«, unterbrach ihn Ippolit ernst, indem er ihn nachdenklich ansah.



»Kommen Sie, Mama! Wie lange soll denn das noch dauern?« sagte Aglaja ungeduldig und zornig und stand von ihrem Stuhl auf. »Noch zwei Minuten, lieber Iwan Fjodorowitsch, wenn du erlaubst!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna mit würdiger Ruhe an ihren Gatten. »Mir scheint, er fiebert vollständig und redet geradezu irre; ich sehe es ihm an den Augen an; es muß etwas für ihn geschehen. Ljow Nikolajewitsch! Könnte er nicht bei dir übernachten, damit er heute nicht nach Petersburg zurückgeschleppt zu werden braucht? Cher prince, Sie langweilen sich doch nicht?« wandte sie sich ohne verständlichen Grund auf einmal an den Fürsten Schtsch. »Komm einmal her, Alexandra, und bring dein Haar in Ordnung, mein Kind!«



Sie brachte ihr das Haar in Ordnung, an dem nichts in Ordnung zu bringen war, und küßte sie; letzteres war der einzige Grund gewesen, warum sie sie zu sich gerufen hatte.



»Ich habe Sie für entwicklungsfähig gehalten«, begann Ippolit von neuem, indem er aus seiner Versunkenheit wieder zu sich kam. »Ja! Das war es, was ich noch sagen wollte!« rief er erfreut, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. »Da wünscht nun Burdowski aufrichtig, seine Mutter zu beschützen, nicht wahr? Aber das Resultat ist, daß er sie in Unehre bringt. Da wünscht nun der Fürst, Burdowski zu helfen, und bietet ihm aus gutem Herzen seine Freundschaft und eine große Summe Geldes an und ist vielleicht von Ihnen allen der einzige, der gegen ihn keinen Widerwillen empfindet, und doch stehen gerade sie beide einander als wahre Feinde gegenüber ... Hahaha! Sie hassen alle Burdowski, weil er nach Ihrer Anschauung sich gegen seine Mutter unschön und unzart benimmt; so ist es doch? Nicht? Nicht? Sie legen ja alle einen enormen Wert auf Schönheit und Feinheit der Formen; nur darauf kommt es Ihnen an, nicht wahr? (Ich habe schon lange den Verdacht gehabt, daß es sich so verhält!) Nun, so mögen Sie denn wissen, daß vielleicht keiner von Ihnen seine Mutter so liebt wie Burdowski! Sie, Fürst, haben, wie ich weiß, durch Ganja der Mutter Burdowskis im stillen Geld geschickt, und nun möchte ich darauf wetten ... hihihi!« lachte er hysterisch, »... ich möchte darauf wetten, daß Burdowski Ihnen dies jetzt als unzarte Form und als eine Respektlosigkeit gegen seine Mutter zum Vorwurf machen wird. Bei Gott, so ist es! Hahaha!«



Hier bekam er wieder keine Luft mehr und mußte husten.



»Nun, bist du fertig? Hast du jetzt alles gesagt, was du sagen wolltest? Na, dann geh jetzt schlafen; du hast Fieber«, unterbrach ihn ungeduldig Lisaweta Prokofjewna, die ihren unruhigen Blick nicht von ihm abwandte. »Ach Gott, da fängt er schon wieder an zu reden!«



»Sie lachen wohl? Was haben Sie immer über mich zu lachen? Ich habe bemerkt, daß Sie fortwährend über mich lachen!« wandte er sich plötzlich unruhig in gereiztem Ton an Jewgeni Pawlowitsch.



Dieser hatte tatsächlich gelacht.



»Ich wollte Sie nur fragen, Herr ... Ippolit ... Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Familiennamen vergessen ...«



»Herr Terentjew«, sagte der Fürst.



»Ja, Terentjew; ich danke Ihnen, Fürst; der Name wurde vorhin genannt, war mir aber wieder entfallen ... Ich wollte Sie fragen, Herr Terentjew, ob das wahr ist, was ich gehört habe: Sie seien der Ansicht, Sie brauchten nur eine Viertelstunde lang aus dem Fenster zum Volk zu reden, dann sei es sogleich mit Ihnen in allen Stücken einverstanden und folge Ihnen sofort?«



»Gut möglich, daß ich das gesagt habe«, antwortete Ippolit, wie wenn er in seinem Gedächtnis nachsuchte. »Ich habe es sicher gesagt«, fügte er auf einmal hinzu, indem er wieder lebhafter wurde und einen festen Blick auf Jewgeni Pawlowitsch heftete. »Nun, und was folgern Sie daraus?«



»Nichts; ich fragte nur, weil ich es gern wissen wollte; zur Vervollständigung meiner Kenntnisse.«



Jewgeni Pawlowitsch schwieg; aber Ippolit blickte ihn immer noch ungeduldig wartend an.



»Nun also, bist du fertig?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Jewgeni Pawlowitsch. »Komm schnell zu Ende, lieber Freund; es ist für ihn Zeit, sich schlafen zu legen. Oder verstehst du nicht, das Ende zu finden?«



Sie ärgerte sich gewaltig.



»Ich würde gern noch hinzufügen«, fuhr Jewgeni Pawlowitsch lächelnd fort, »daß alles, was ich von seiten Ihrer Kameraden gehört habe, und alles, was Sie soeben auseinandergesetzt haben, und zwar mit so zweifellosem Talent, meiner Ansicht nach zur Theorie vom Triumph des Rechtes gehört, vor allem andern und sogar mit Übergehung alles andern und vielleicht sogar, ohne daß untersucht worden wäre, worin denn eigentlich das Recht besteht. Vielleicht irre ich mich?«



»Gewiß, Sie irren sich; ich verstehe Sie nicht einmal ... Und weiter?«



Auch in der Ecke wurde gemurrt. Lebedjews Neffe murmelte etwas halblaut.



»Weiter habe ich eigentlich kaum etwas zu sagen«, fuhr Jewgeni Pawlowitsch fort; »ich wollte nur noch bemerken, daß infolge dieses Verfahrens die Sache geradezu in das Recht der Gewalt umschlagen kann, das heißt in das Recht der einzelnen Faust und des persönlichen Beliebens, was übrigens in der Welt sehr oft der Ausgang gewesen ist. Auch Proudhon ist bei dem Recht der Gewalt stehengeblieben. Im amerikanischen Krieg haben viele der ersten Koryphäen des Liberalismus sich für die Pflanzer erklärt, auf Grund der Anschauung, daß die Neger eben nur Neger seien und tiefer ständen als die weiße Rasse, und daß folglich das Recht der Gewalt auf seiten der Weißen sei ...«





»Nun?«



»Das heißt also: Sie verwerfen das Recht der Gewalt nicht?«



»Weiter?«



»Sie sind jedenfalls konsequent; ich wollte nur bemerken, daß es von dem Recht der Gewalt zu dem Recht der Tiger und Krokodile und sogar zu Männern wie Danilow und Gorski nicht weit ist.«



»Ich weiß nicht. Weiter?«



Ippolit hörte kaum zu, was Jewgeni Pawlowitsch sagte, und wenn er ein »Nun« und ein »Weiter« dazwischenwarf, so schien er das mehr aus einer alten, bei Gesprächen angenommenen Gewohnheit und nicht aus Aufmerksamkeit und Neugier zu tun.



»Weiter wollte ich nichts sagen ... das ist alles.«



»Ich bin Ihnen übrigens nicht böse«, sagte Ippolit zum Schluß plötzlich ganz unerwartet und streckte, wohl ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, dem andern die Hand hin, wobei er sogar lächelte.

 



Jewgeni Pawlowitsch war zuerst erstaunt, ergriff dann aber mit ganz ernstem Gesicht die ihm hingehaltene Hand, als nähme er die angebotene Verzeihung an.



»Ich muß noch hinzufügen«, sagte er in demselben zweideutig respektvollen Ton, »daß ich Ihnen dankbar bin für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich haben reden lassen; denn nach meinen zahlreichen Beobachtungen können unsere Liberalen niemanden seine eigene Meinung aussprechen lassen, ohne ihrem Opponenten sofort mit Schimpfworten oder sogar mit noch Schlimmerem zu antworten ...«



»Da haben Sie vollkommen recht«, bemerkte General Iwan Fjodorowitsch und zog sich, die Hände auf den Rücken legend, mit gelangweilter Miene zum Ausgang der Veranda zurück, wo er vor Ärger gähnte.



»Na, nun aber Schluß, lieber Freund!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna energisch an Jewgeni Pawlowitsch. »Ich habe eure Gespräche satt bekommen ...«



»Es ist Zeit!« sagte Ippolit, der sich besorgt und fast erschrocken erhob und verwirrt um sich blickte. »Ich habe Sie aufgehalten; ich wollte Ihnen alles sagen ... ich meinte, daß Sie alle ... zum letztenmal ... es war eine törichte Einbildung ...«



Es war deutlich, daß er manchmal wie mit einem Ruck wieder lebendiger wurde und aus einem an wirkliches Irrereden streifenden Zustand auf einmal für einige Augenblicke frei kam, sich mit vollem Bewußtsein erinnerte und redete, und zwar größtenteils in abgerissenen Sätzen, die er sich vielleicht schon vor längerer Zeit in langen, öden Krankheitsstunden, wenn er einsam und schlaflos im Bett lag, in Gedanken zurechtgelegt und auswendig gelernt hatte.



»Nun also, leben Sie wohl!« sagte er plötzlich schroff. »Sie meinen wohl, es wird mir leicht, Ihnen Lebewohl zu sagen? Haha!« lachte er selbst ärgerlich über seine »ungeschickte« Frage. Dann fügte er, wie ergrimmt darüber, daß es ihm nicht recht gelang zu sagen, was er wollte, laut und gereizt hinzu: »Exzellenz, ich habe die Ehre, Sie zu meinem Begräbnis einzuladen, wenn anders Sie mich dieser Ehre würdigen wollen, und nach dem General auch Sie alle, meine Herrschaften ...!« Er lachte wieder auf; aber das war schon das Lachen eines Irren. Lisaweta Prokofjewna trat erschrocken an ihn heran und faßte ihn an der Hand. Er sah sie starr an, mit demselben Lachen, das aber nicht mehr hörbar fortdauerte, sondern innehielt und auf seinem Gesicht erstarrte.



»Wissen Sie wohl, daß ich hierher gekommen bin, um Bäume zu sehen? Diese Bäume hier ...« Er wies auf die Bäume des Parks. »Ist das nicht lächerlich, wie? Eigentlich ist dabei doch nichts lächerlich?« fragte er Lisaweta Prokofjewna ernst und überließ sich wieder seinen Gedanken. Dann, einen Augenblick darauf, hob er den Kopf in die Höhe und begann eifrig mit den Augen unter den Anwesenden zu suchen. Er suchte Jewgeni Pawlowitsch, der ganz in der Nähe, rechts von ihm, auf demselben Fleck stand wie vorher; aber er hatte das schon vergessen und suchte ihn ringsumher. »Ah, Sie sind nicht fortgegangen!« sagte er, als er ihn endlich gefunden hatte; »Sie haben sich vorhin darüber lustig gemacht, daß ich eine Viertelstunde lang aus dem Fenster sprechen wollte ... Aber wissen Sie, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin: ich habe so viel auf dem Bett gelegen und so viel durch dieses Fenster geschaut und so viel nachgedacht ... über alles mögliche ... daß ... Ein Toter hat kein Alter, wie Sie wissen; noch in der vorigen Woche habe ich darüber nachgedacht, als ich in der Nacht aufgewacht war ... Wissen Sie aber, was Sie am meisten fürchten? Am meisten fürchten Sie unsere Aufrichtigkeit, obwohl Sie uns verachten! Auch das habe ich damals in der Nacht im Bett überlegt ... Sie meinen, ich hätte mich vorhin über Sie lustig machen wollen, Lisaweta Prokofjewna? Nein, ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht; ich wollte Sie nur loben ... Kolja hat mir gesagt, der Fürst habe Sie ein Kind genannt ... Das ist eine richtige Bezeichnung ... Ja, was hatte ich doch noch ... ich wollte noch etwas sagen ...« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. »Das war's: als Sie vorhin Abschied nahmen, da dachte ich auf einmal: da sind nun diese Menschen, und sie werden für immer vergehen, für immer! Und diese Bäume auch. Nur die Backsteinwand wird bestehen bleiben, die rote Backsteinwand des Meyerschen Hauses meinem Fenster gegenüber ... Nun, sprich ihnen einmal von alledem ... versuche es, rede davon; da ist ein schönes Mädchen ... du bist ja ein Toter; stelle dich als einen Toten vor; sage