Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Er schien noch vieles sagen zu wollen; aber er sprach nicht zu Ende, warf sich in den Lehnstuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte wie ein kleines Kind.

»Na, nun sagen Sie bloß, was soll man nun mit ihm anfangen?« rief Lisaweta Prokofjewna, stürzte auf ihn zu, faßte seinen Kopf und drückte ihn fest, ganz fest gegen ihre Brust. Er schluchzte krampfhaft. »Nun, nun, nun! Nun, weine nur nicht; nun, laß nur gut sein; du bist ein guter Junge; Gott wird dir wegen deiner Unwissenheit verzeihen; nun, hör nur auf; zeige dich mannhaft ...! Sonst mußt du dich ja auch schämen!«

»Ich habe da bei uns zu Hause«, redete Ippolit weiter, indem er mit Anstrengung den Kopf ein wenig in die Höhe hob, »ich habe einen Bruder und zwei Schwestern, kleine, arme, unschuldige Kinder ... Sie wird sie verderben! Sie sind eine Heilige; Sie sind selbst ein Kind; retten Sie sie! Entreißen Sie sie dieser ... sie ist ... es ist eine Schande ... Oh, helfen Sie ihnen, helfen Sie ihnen; Gott wird es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie um Gottes willen, um Christi willen ...!«

»Nun sagen Sie doch endlich, Iwan Fjodorowitsch, was jetzt geschehen soll!« rief Lisaweta Prokofjewna in gereiztem Ton. »Tun Sie mir den Gefallen und brechen Sie Ihr majestätisches Schweigen! Wenn Sie keine Entscheidung treffen, so mögen Sie wissen, daß ich selbst hierbleiben und hier übernachten werde; Sie haben mich genug mit Ihrer Herrschsucht tyrannisiert!«

Solche lebhaften, zornigen Fragen waren bei Lisaweta Prokofjewna nichts Seltenes; sie erwartete dann eine sofortige Antwort. Aber in ähnlichen Fällen pflegen die meisten Anwesenden, auch wenn ihrer viele sind, mit Stillschweigen und passiver Neugier zu antworten, ohne daß sie Verlangen trügen, eine verantwortliche Tätigkeit zu übernehmen; ihre Gedanken sprechen sie dann erst lange nachher aus. Unter den hier Anwesenden befanden sich auch einige, die bereit waren, ohne ein Wort zu sagen, nötigenfalls bis zum Morgen da zu sitzen, zum Beispiel Warwara Ardalionowna, die den ganzen Abend über schweigsam in einiger Entfernung gesessen und während der ganzen Zeit mit außerordentlichem Interesse zugehört hatte, wozu sie vielleicht ihre besonderen Gründe hatte.

»Meine Meinung, liebe Frau«, versetzte der General, »geht dahin, daß hier jetzt sozusagen eine Krankenwärterin besser angebracht wäre als wir mit unserer Aufregung, und vielleicht außerdem noch ein zuverlässiger, nüchterner Mensch für die Nacht. Jedenfalls müssen wir den Fürsten danach fragen und ... ihm dann sofort Ruhe gönnen. Morgen können wir ja unsere Teilnahme weiter betätigen.«

»Es ist gleich zwölf Uhr; wir wollen fahren. Soll er nun mit uns mitfahren oder bei Ihnen bleiben?« wandte sich Doktorenko gereizt und ärgerlich an den Fürsten.

»Wenn Sie wollen, können auch Sie bei ihm hierbleiben«, antwortete der Fürst. »Es wird Platz genug da sein.«

»Exzellenz«, sagte unerwartet Herr Keller, der rasch und eifrig an den General herantrat, »wenn ein zuverlässiger Mensch für die Nacht erforderlich ist, so bin ich bereit, für meinen Freund dieses Opfer zu bringen ... er ist eine ganz herrliche Seele! Ich halte ihn schon lange für einen bedeutenden Menschen, Exzellenz! Meine eigene Bildung ist ja natürlich nur mangelhaft; aber wenn er etwas kritisiert, so ist jedes Wort von ihm eine Perle; er streut die Perlen nur so um sich, Exzellenz ...!«

Der General wandte sich mit einer Miene der Verzweiflung von ihm weg.

»Ich werde mich sehr freuen, wenn er hierbleibt; das Fahren würde für ihn natürlich eine böse Sache sein«, erklärte der Fürst auf Lisaweta Prokofjewnas erregte Fragen.

»Aber wirst du denn dann selbst zum Schlafen kommen? Wenn du ihn nicht hierbehalten magst, lieber Freund, dann werde ich ihn zu uns transportieren lassen! O Gott, er kann sich ja kaum selbst auf den Beinen halten! Du bist wohl krank, wie?«

Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten nicht auf dem Sterbebett fand, hatte sie, nach dem äußeren Aussehen urteilend, seinen Gesundheitszustand für viel befriedigender gehalten, als er in Wirklichkeit war; aber die soeben überstandene Krankheit, die peinlichen mit ihr verbundenen Erinnerungen, die Ermüdung von dem unruhigen Abend, die Affäre mit dem »Sohn Pawlischtschews« und der jetzige Vorfall mit Ippolit, alles dies hatte zusammengewirkt, um die krankhafte Empfindsamkeit des Fürsten bis zu einem fieberhaften Zustand zu steigern.

Aber außerdem beunruhigte ihn jetzt noch eine andere Sorge, ja eine Befürchtung; er beobachtete ängstlich Ippolit, als ob er von seiner Seite noch etwas erwartete.

Plötzlich erhob sich Ippolit; er war schrecklich blaß, und sein verzerrtes Gesicht trug den Ausdruck furchtbarer, verzweifelter Scham. Das trat namentlich in seinem Blick zutage, der voll Haß und Furcht auf die Anwesenden gerichtet war, und in dem verlegenen, schiefen, umherirrenden Lächeln auf seinen zuckenden Lippen. Die Augen schlug er sofort wieder nieder und ging mit schwankenden Schritten, immer noch in gleicher Weise lächelnd, auf Burdowski und Doktorenko zu, die am Ausgang der Veranda standen; er wollte mit ihnen mitfahren.

»Das war es, was ich befürchtete!« rief der Fürst. »So mußte es kommen!«

Mit rasendem Ingrimm wandte sich Ippolit schnell zu ihm um; jeder Muskel seines Gesichtes zitterte und schien zu sprechen. »Ah, Sie haben das befürchtet! So mußte es nach Ihrer Meinung kommen! So mögen Sie denn wissen«, heulte er heiser und kreischend, und Speicheltröpfchen flogen ihm dabei aus dem Mund, »daß, wenn ich jemand hier hasse (und ich hasse Sie alle, alle!), ich Sie von allen und von allem, was es auf der Welt gibt, am meisten hasse, Sie Jesuit, Sie Sirupsseele, Sie Idiot, Sie Millionär und Wohltäter! Ich habe Sie schon lange durchschaut und gehaßt, schon damals, als ich Sie nur erst vom Hörensagen kannte; ich habe Sie gehaßt mit dem ganzen Haß meiner Seele ... Das haben Sie jetzt alles hier kunstvoll arrangiert! Sie haben meinen Krankheitsanfall herbeigeführt! Sie haben einen Sterbenden dahin gebracht, sich zu schämen; Sie, Sie, Sie sind an meinem unwürdigen Kleinmut schuld! Ich würde Sie ermorden, wenn ich am Leben bliebe! Ich brauche Ihre Wohltaten nicht; ich nehme von niemand Wohltaten an; hören Sie wohl? von niemand und nichts! Ich habe vorhin im Delirium gesprochen; erdreisten Sie sich nicht zu triumphieren ...! Ich verfluche Sie alle ein für allemal!« Hier ging ihm die Luft völlig aus.

»Er schämt sich seiner Tränen!« flüsterte Lebedjew der Generalin zu. »›So mußte es kommen!‹ Ja, ja, der Fürst! Der hat in seiner Seele gelesen ...«

Aber Lisaweta Prokofjewna würdigte ihn keines Blickes. Sie stand stolz aufgerichtet mit zurückgeworfenem Kopf da und betrachtete mit geringschätziger Neugier »diese jämmerlichen Menschen«. Als Ippolit schwieg, zuckte der General die Schultern; aber seine Frau sah ihn zornig vom Kopf bis zu den Füßen an, als wolle sie ihn wegen dieser Bewegung zur Rechenschaft ziehen, und wandte sich sogleich zum Fürsten.

»Ich danke Ihnen, Fürst, Sie exzentrischer Freund unseres Hauses, für den angenehmen Abend, den Sie uns allen bereitet haben. Gewiß sind Sie jetzt im Herzen froh darüber, daß es Ihnen gelungen ist, auch uns in Ihre Dummheiten zu verwickeln ... Machen wir Schluß, lieber Freund unseres Hauses; ich danke Ihnen, daß Sie uns Gelegenheit gegeben haben, wenigstens Sie genau kennenzulernen ...!«

Mit allen Zeichen des Unwillens brachte sie ihre Mantille in Ordnung und wartete darauf, daß die Burdowskische Gesellschaft aufbräche. Für diese fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor, die Doktorenko schon vor einer Viertelstunde durch Lebedjews Sohn, den Gymnasiasten hatte holen lassen. Der General fügte dem, was seine Gattin gesagt hatte, sofort auch seinerseits ein Wort hinzu.

»In der Tat, Fürst, ich hatte nicht erwartet ... nach allem Früheren ... nach all den freundschaftlichen Beziehungen ... und schließlich hat Lisaweta Prokofjewna ...«

»Aber wie ist es nur möglich, wie ist es nur möglich!« rief Adelaida, indem sie schnell an den Fürsten herantrat und ihm die Hand reichte.

Der Fürst lächelte sie mit verwirrter Miene an. Plötzlich drang ein erregtes, hastiges Flüstern an sein Ohr.

»Wenn Sie nicht augenblicklich den Verkehr mit diesen garstigen Menschen abbrechen, werde ich Sie mein Leben lang, mein ganzes Leben lang hassen«, flüsterte Aglaja.

Sie war ganz außer sich vor Empörung; aber sie wandte sich ab, ehe der Fürst Zeit fand, sie anzusehen. Übrigens hatte er zu einem Abbruch des Verkehrs nicht mehr die Möglichkeit: der kranke Ippolit war mittlerweile, so gut es eben ging, in die Droschke gepackt worden, und diese fuhr eben ab.

»Nun, wird das noch lange dauern, Iwan Fjodorowitsch? Wie denken Sie darüber? Werde ich noch lange unter diesen bösen Buben zu leiden haben?«

»Ja, liebe Frau, ich ... ich bin natürlich bereit, und ... der Fürst ...«

Iwan Fjodorowitsch streckte dennoch dem Fürsten die Hand hin, lief aber, ohne daß es zu einem Händedruck gekommen wäre, hinter Lisaweta Prokofjewna her, die geräuschvoll und zornig die Stufen vor der Veranda hinunterstieg. Adelaida, ihr Bräutigam und Alexandra verabschiedeten sich freundlich und herzlich vom Fürsten. Jewgeni Pawlowitsch machte es ebenso; er war der einzige, der sich in heiterer Stimmung befand.

»Es ist so gegangen, wie ich es mir gedacht hatte! Nur schade, daß auch Sie Armer dabei zu leiden gehabt haben!« flüsterte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln. Aglaja ging weg, ohne sich zu verabschieden.

Aber die Ereignisse dieses Abends waren damit noch nicht zu ihrem Ende gelangt; Lisaweta Prokofjewna sollte noch eine sehr unerwartete Begegnung durchmachen.

Sie war noch nicht ganz die Stufen nach dem Weg hinuntergestiegen, der sich um den Park herumzog, als eine elegante Equipage, ein mit zwei Schimmeln bespannter Landauer, neben dem Landhaus des Fürsten vorbeirollte. In dem Wagen saßen zwei schöngekleidete Damen. Aber als der Wagen kaum zehn Schritte vorbeigefahren war, hielt er plötzlich an; eine der Damen wendete sich schnell um, als ob sie plötzlich einen Bekannten erblickt hätte, mit dem sie notwendig sprechen müßte.

 

»Jewgeni Pawlowitsch! Bist du es?« rief eine wohltönende, helle Stimme, bei deren Klang der Fürst und vielleicht sonst noch jemand zusammenfuhr. »Wie freue ich mich, daß ich dich endlich gefunden habe! Ich hatte einen expressen Boten an dich nach der Stadt geschickt, und dann einen zweiten! Den ganzen Tag haben sie dich gesucht!«

Jewgeni Pawlowitsch stand auf den Treppenstufen wie vom Donner gerührt. Lisaweta Prokofjewna war ebenfalls stehengeblieben, aber nicht in starrem Schreck wie Jewgeni Pawlowitsch; sie schaute die dreiste Dame ebenso stolz und mit derselben kalten Verachtung an wie fünf Minuten vorher die »jämmerlichen Menschen« und wandte dann ihren forschenden Blick sofort nach Jewgeni Pawlowitsch.

»Eine Neuigkeit!« fuhr die helle Stimme fort. »Wegen der Kupferschen Wechsel kannst du unbesorgt sein; Rogoschin hat sie für dreißigtausend Rubel aufgekauft; ich habe ihn dazu überredet. Wenigstens für drei Monate kannst du beruhigt sein. Und mit Biskup und dieser ganzen Bande werden wir uns gewiß einigen, auf Grund unserer alten Bekanntschaft! Nun, du siehst also, es steht alles gut. Freue dich! Auf Wiedersehen morgen!«

Die Equipage setzte sich wieder in Bewegung und verschwand schnell.

»Das ist eine Irrsinnige!« rief Jewgeni Pawlowitsch endlich; er war vor Entrüstung ganz rot geworden und blickte erstaunt rings um sich. »Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagte! Was sollen das für Wechsel sein? Wer ist die Person?«

Lisaweta Prokofjewna sah ihn noch ein paar Sekunden an; dann drehte sie sich kurz um und ging schnell nach ihrem Landhaus; die andern folgten ihr. Aber einen Augenblick darauf kehrte Jewgeni Pawlowitsch in großer Aufregung wieder zu dem Fürsten in die Veranda zurück. »Fürst, sagen Sie mir die Wahrheit: wissen Sie nicht, was das zu bedeuten hat?«

»Ich weiß nichts davon«, antwortete der Fürst, der sich ebenfalls in einer höchst peinlichen Aufregung befand.

»Nein?«

»Nein.«

»Ich verstehe auch nichts davon«, sagte Jewgeni Pawlowitsch, plötzlich auflachend. »Bei Gott, ich habe mit diesen Wechseln nichts zu schaffen; glauben Sie meinem Ehrenwort ...! Aber was ist mit Ihnen? Fallen Sie in Ohnmacht?«

»O nein, nein, ich versichere Ihnen, nein ...«

XI

Erst am dritten Tag erbarmten Jepantschins sich des Fürsten und verziehen ihm vollständig. Obgleich der Fürst sich nach seiner Gewohnheit viel Schuld beimaß und in vollem Ernst eine Strafe erwartete, so war er doch von vornherein innerlich völlig davon überzeugt, daß Lisaweta Prokofjewna ihm nicht allzusehr zürnen konnte und in der Hauptsache nur auf sich selbst böse war. Daher war er am dritten Tag durch die unerwartet lange Dauer der Feindschaft in eine sehr trübe, ratlose Stimmung versetzt. Dazu hatten auch noch andere Umstände beigetragen, und einer von ihnen in besonders hohem Grad. Dieser hatte während der drei Tage für ihn infolge seines mißtrauischen Wesens immer mehr an Bedeutung gewonnen. (Der Fürst beschuldigte sich nämlich seit einiger Zeit zweier fehlerhafter Extreme: einer übermäßigen »sinnlosen, aufdringlichen« Zutraulichkeit und gleichzeitig eines »finsteren, unwürdigen« Mißtrauens.)

Kurz, am Ende des dritten Tages, hatte das Erlebnis mit der exzentrischen Dame, die aus ihrer Kutsche mit Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hatte, in seinem Kopf ganz rätselhafte, beängstigende Dimensionen angenommen. Der Kernpunkt des Rätsels, abgesehen von anderen Seiten der Angelegenheit, bestand für den Fürsten in der betrüblichen Frage, ob auch er an dieser neuen »Ungeheuerlichkeit« schuld sei oder nur ... Aber er ließ unausgesprochen, wer dabei noch in Betracht kam. Was die Buchstaben N.F.B. anlangte, so war das nach seiner Anschauung nur unschuldiger Mutwille, rein kindlicher Mutwille, so daß es lächerlich und in gewisser Hinsicht sogar nicht ehrenhaft sei, darüber nachzudenken.

Gleich am ersten Tag nach dem häßlichen Abend, an dessen ungehörigen Vorgängen er die »Hauptschuld« trug, hatte der Fürst am Vormittag das Vergnügen, den Fürsten Schtsch. und Adelaida in seiner Wohnung zu empfangen; sie waren nach ihrer Angabe »hauptsächlich« gekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und zwar auf einem Spaziergang zu zweien. Adelaida hatte soeben im Park einen Baum bemerkt, einen wundervollen alten Baum, mit langen, gekrümmten Ästen, ganz mit jungem, grünem Laub bedeckt, mit einer Höhlung und einem Spalt; sie hatte sich fest, ganz fest vorgenommen, diesen Baum zu malen! So sprach sie denn die ganze halbe Stunde, die ihr Besuch dauerte, fast nur hiervon. Fürst Schtsch. war wie gewöhnlich angenehm und liebenswürdig, befragte den Fürsten nach weiter zurückliegenden Dingen und erwähnte einige Umstände aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft, so daß von den Ereignissen des vorhergehenden Tages fast gar nicht gesprochen wurde. Endlich konnte sich Adelaida nicht mehr beherrschen und gestand lächelnd, daß sie ohne Wissen der Eltern gekommen seien; aber damit war auch das Bekenntnis zu Ende, wiewohl schon aus dieser Heimlichkeit zu ersehen war, daß die Eltern, das heißt besonders Lisaweta Prokofjewna, sich in einer gewissen Mißstimmung befanden. Aber weder von ihr, noch von Aglaja, noch selbst von Iwan Fjodorowitsch sagten Adelaida und Fürst Schtsch. bei ihrem Besuch ein Sterbenswörtchen.

Als sie wieder fortgingen, um ihren Spaziergang fortzusetzen, luden sie den Fürsten nicht ein, sich ihnen anzuschließen. Eine Aufforderung, doch zu ihnen in ihre Wohnung zu kommen, fand auch nicht einmal andeutungsweise statt; in dieser Hinsicht ließ sich Adelaida sogar eine sehr bezeichnende Wendung entschlüpfen: sie erzählte von einem Aquarell, das sie gemalt hatte, und äußerte den lebhaften Wunsch, es ihm zu zeigen.

»Wie könnten wir das nur möglichst bald machen? Warten Sie! Ich werde es Ihnen entweder heute noch durch Kolja schicken, wenn er zu uns kommen sollte, oder es morgen selbst bringen, wenn ich wieder mit dem Fürsten spazierengehe«, so erledigte sie schließlich diese Schwierigkeit, erfreut, daß es ihr gelungen war, diese Aufgabe in einer so geschickten und für alle Beteiligten so bequemen Weise zu lösen.

Endlich, als sie sich schon empfahlen, fragte Fürst Schtsch., wie wenn ihm das plötzlich einfiele:

»Ach ja, wissen Sie vielleicht, lieber Ljow Nikolajewitsch, was das für eine Person war, die gestern unsern Jewgeni Pawlowitsch aus dem Wagen anrief?«

»Das war Nastasja Filippowna«, antwortete der Fürst.

»Haben Sie denn noch nicht erfahren, daß sie es war? Aber wer ihre Begleiterin war, das weiß ich nicht.«

»Ja, ja, ich habe es gehört!« sagte Fürst Schtsch. »Aber was bedeutete das, was sie ihm zurief? Ich muß gestehen, das ist mir ein reines Rätsel ... mir und den andern.«

Fürst Schtsch. sprach offenbar in völliger Verständnislosigkeit.

»Sie hat von Wechseln Jewgeni Pawlowitschs geredet«, erwiderte der Fürst schlicht, »die Rogoschin auf ihre Bitte von einem Wucherer erworben habe, und hat gesagt, Rogoschin werde mit Jewgeni Pawlowitsch Geduld haben.«

»Das habe ich gehört, das habe ich gehört, mein teurer Fürst; aber das ist ja doch unmöglich! Jewgeni Pawlowitsch hat keine Wechsel ausgestellt; das ist unmöglich! Bei einem solchen Vermögen ... Allerdings ist es ihm früher einmal aus Leichtsinn begegnet, und ich habe ihm sogar selbst aus der Klemme geholfen ... Aber bei einem solchen Vermögen einem Wucherer Wechsel auszustellen und sich deswegen zu beunruhigen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch kann er sich nicht mit Nastasja Filippowna duzen und in solchen freundschaftlichen Beziehungen zu ihr stehen ... das ist das allergrößte Rätsel. Er schwört, er verstehe von der ganzen Geschichte gar nichts, und ich glaube ihm vollkommen. Aber ich wollte doch auch Sie, lieber Fürst, fragen, ob Sie vielleicht etwas davon wissen. Ich meine: ist vielleicht durch irgendeinen wunderlichen Zufall ein Gerücht zu Ihren Ohren gelangt?«

»Nein, ich weiß nichts, und ich versichere Ihnen, daß ich an der Sache in keiner Weise beteiligt bin.«

»Ach, wie wunderlich reden Sie da, Fürst! Ich erkenne Sie heute geradezu nicht wieder! Konnte ich denn überhaupt auf den Gedanken kommen, daß Sie an einer derartigen Sache beteiligt seien ...? Na, Sie sind heute angegriffen.«

Er umarmte und küßte ihn.

»Was meinen Sie denn mit ›an einer derartigen Sache beteiligt‹? Ich sehe hier keine ›derartige‹ Sache.«

»Ohne Zweifel beabsichtigte diese Person unserm Jewgeni Pawlowitsch irgendwie bei irgend etwas dadurch hinderlich zu sein, daß sie ihm vor Zeugen Eigenschaften beilegte, die er nicht besitzt und nicht besitzen kann«, versetzte Fürst Schtsch. in ziemlich trockenem Ton.

Fürst Ljow Nikolajewitsch wurde verlegen, fuhr aber doch fort, den Fürsten Schtsch. unverwandt und fragend anzusehen; aber dieser schwieg nun.

»Könnten es nicht doch einfach Wechsel sein? Könnte es sich nicht buchstäblich so verhalten, wie gestern gesagt wurde?« murmelte Fürst Myschkin endlich in einer Art von Ungeduld.

»Aber ich bitte Sie, sagen Sie selbst: was kann es zwischen Jewgeni Pawlowitsch und ... ihr Gemeinsames geben, obendrein wenn dabei noch Rogoschin ins Spiel kommt? Ich wiederhole Ihnen: er besitzt ein kolossales Vermögen, wie mir ganz genau bekannt ist, und ein zweites Vermögen hat er von seinem Onkel zu erwarten. Nastasja Filippowna hat einfach ...«

Fürst Schtsch. verstummte plötzlich wieder, augenscheinlich, weil er dem Fürsten Myschkin nichts weiter über Nastasja Filippowna sagen mochte.

»Jedenfalls ist sie doch mit ihm bekannt?« fragte der letztere plötzlich nach einem kurzen Stillschweigen.

»Es scheint allerdings, daß das einmal der Fall gewesen ist; er ist ein Windhund! Wenn es übrigens der Fall gewesen ist, so ist es schon lange her; es müßte noch in früherer Zeit gewesen sein, vor zwei, drei Jahren. Er war ja noch mit Tozki bekannt. Jetzt aber kann nichts von der Art vorliegen, und auf dem Duzfuß können sie niemals gestanden haben! Sie wissen ja selbst, daß auch sie die ganze Zeit her nicht hier gewesen ist und ihr Aufenthaltsort unbekannt war. Viele wissen auch jetzt noch nicht, daß sie wieder hier erschienen ist. Ich habe ihre Equipage vor drei Tagen zum erstenmal gesehen.«

»Eine prächtige Equipage!« bemerkte Adelaida.

»Ja, wundervoll!«

Beide brachten übrigens beim Fortgehen dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch ihre durchaus freundschaftliche, ja sozusagen geschwisterliche Gesinnung zum Ausdruck.

Aber für unseren Helden war dieser Besuch von außerordentlich hoher Bedeutung. Allerdings hatte er auch selbst, schon seit dem vorhergehenden Abend und vielleicht auch schon noch früher, gar vieles geargwöhnt; aber bis zu diesem Besuch hatte er sich nicht dazu entschließen mögen, seine Befürchtungen für begründet zu halten. Jetzt aber war alles klargeworden: Fürst Schtsch. deutete den Vorfall gewiß irrig, kam jedoch insofern der Wahrheit nahe, als er begriff, daß es sich hier um eine Intrige handelte. (»Übrigens«, dachte der Fürst, »faßt er die Sache vielleicht im stillen ganz richtig auf, will es aber nicht aussprechen und deutet sie darum absichtlich irrig.«) Am allerklarsten war, daß die beiden (besonders Fürst Schtsch.) jetzt zu ihm gekommen waren, weil sie gehofft hatten, von ihm irgendwelche Aufklärungen zu erlangen; wenn dem so war, so meinten sie offenbar, er sei an der Intrige mitbeteiligt. Wenn sich ferner all dies so verhielt und von solcher Wichtigkeit war, so mußte »sie« irgendein furchtbares Ziel im Auge haben; aber was war das für ein Ziel? Entsetzlich! »Und wie soll man sie aufhalten? Sie aufzuhalten ist keine Möglichkeit, wenn sie sich etwas einmal in den Kopf gesetzt hat!« Das wußte der Fürst aus Erfahrung. »Sie ist eine Irrsinnige, eine Irrsinnige!«

Aber es kamen an diesem Morgen noch eine Menge anderer schwieriger Fragen hinzu, die alle gleichzeitig auf ihn einstürmten und sofortige Entscheidung verlangten, so daß der Fürst in recht trübe Stimmung geriet. Ein wenig Zerstreuung verschaffte ihm Wjera Lebedjewa, die mit der kleinen Ljubow auf dem Arm zu ihm kam und ihm längere Zeit etwas unter vielem Lachen erzählte. Ihr folgte ihre Schwester, die immer den Mund so weit aufriß, und beiden folgte dann Lebedjews Sohn, der Gymnasiast, welcher versicherte, der Wermutstern der Offenbarung des Johannes, der auf die Wasserquellen der Erde gefallen sei, sei nach der Deutung seines Vaters das Eisenbahnnetz, welches Europa bedecke. Der Fürst glaubte nicht recht, daß Lebedjew es so erklärt habe, und sie nahmen sich vor, ihn selbst bei der ersten passenden Gelegenheit danach zu fragen. Von Wjera Lebedjewa erfuhr der Fürst, daß Keller sich bei ihnen seit gestern einquartiert habe und, nach allen Anzeichen zu urteilen, so bald nicht wieder fortgehen werde; denn er habe hier an General Iwolgin Gesellschaft gefunden und mit ihm Freundschaft geschlossen; er habe übrigens erklärt, er bleibe einzig und allein, um seine Bildung zu vervollständigen, bei ihnen. Überhaupt gefielen Lebedjews Kinder dem Fürsten von Tag zu Tag mehr. Kolja war den ganzen Tag nicht anwesend; er hatte sich ganz früh am Morgen nach Petersburg begeben. (Auch Lebedjew war beim Morgengrauen in Geschäftsangelegenheiten weggefahren.) Aber der Fürst wartete ungeduldig auf einen Besuch Gawrila Ardalionowitschs, der unbedingt heute bei ihm vorsprechen mußte.

 

Dieser kam zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags, gleich nach Tisch. Sowie der Fürst ihn erblickte, kam ihm der Gedanke, wenn jemand, so müsse er den ganzen Zusammenhang haarklein und irrtumslos kennen; es sei ja auch nicht anders möglich, da er solche Gehilfen wie Warwara Ardalionowna und ihren Mann habe. Aber das Verhältnis des Fürsten zu Ganja war von ganz besonderer Art. Der Fürst hatte ihm zum Beispiel die Erledigung der Burdowskischen Angelegenheit anvertraut gehabt und ihn dringend darum gebeten; aber ungeachtet des ihm hierbei bezeigten Vertrauens und trotz manchem, was vorhergegangen war, blieben zwischen ihnen beiden doch immer noch gewisse Punkte bestehen, über die sie wie nach wechselseitigem Übereinkommen nicht miteinander sprachen. Es schien dem Fürsten manchmal, daß Ganja vielleicht seinerseits den Wunsch hege, es möge doch zwischen ihnen beiden die vollste, freundschaftlichste Aufrichtigkeit herrschen; jetzt zum Beispiel unmittelbar nach Ganjas Eintritt hatte der Fürst den Eindruck, als sei Ganja der bestimmten Überzeugung, in diesem Augenblick müsse notwendigerweise das Eis zwischen ihnen auf allen Punkten brechen. Gawrila Ardalionowitsch hatte es aber eilig; in Lebedjews Wohnung erwartete ihn seine Schwester; sie hatten beide zusammen eine schleunige geschäftliche Besorgung vor.

Aber wenn Ganja wirklich eine ganze Reihe ungeduldiger Fragen, freiwilliger Mitteilungen und freundschaftlicher Herzensergießungen erwartet haben sollte, so hatte er sich sehr geirrt. Während der ganzen zwanzig Minuten, die sein Besuch dauerte, war der Fürst in seine Gedanken versunken und unaufmerksam, und es fiel ihm gar nicht ein, die vielen Fragen oder, richtiger gesagt, die eine wichtige Frage zu stellen, auf die Ganja wartete. Da entschied sich auch Ganja dafür, mit größter Zurückhaltung zu sprechen. Er erzählte die ganzen zwanzig Minuten lang, ohne eine Pause eintreten zu lassen, dieses und jenes, lachte, führte eine leichte, nette, muntere Konversation, berührte aber den Hauptpunkt nicht.

Ganja erzählte unter anderm, Nastasja Filippowna sei erst seit vier Tagen hier in Pawlowsk, ziehe aber bereits die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wohne in der Matroskaja-Straße in einem kleinen, plumpen Häuschen bei Darja Alexejewna, habe aber beinah die feinste Equipage in ganz Pawlowsk. Es habe sich bereits eine ganze Schar alter und junger Verehrer um sie gesammelt; ihre Equipage werde manchmal von Reitern begleitet. Nastasja Filippowna sei, wie in früheren Zeiten, sehr wählerisch und vergönne nur einer Auslese den Zutritt. Dennoch aber habe sich um sie eine ordentliche Truppe gebildet, auf deren Schutz sie sich im Notfall verlassen könne. Ein Verlobter aus der Zahl der Sommerfrischler sei bereits um ihretwillen mit seiner Braut zerfallen; ein alter General habe seinen Sohn beinah verflucht. Sie nehme auf ihren Spazierfahrten oft ein reizendes, eben erst sechzehnjähriges Mädchen mit, eine entfernte Verwandte Darja Alexejewnas; dieses Mädchen singe wunderschön, so daß abends das betreffende Häuschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Nastasja Filippowna benehme sich übrigens höchst anständig; sie kleide sich nicht luxuriös, aber außerordentlich geschmackvoll, und alle Damen seien wegen ihres Geschmacks, ihrer Schönheit und ihrer Equipage auf sie neidisch.

Hier aber ließ sich Ganja etwas mehr entschlüpfen, als er dem Fürsten eigentlich hatte mitteilen wollen. »Ihr gestriges auffälliges Benehmen«, sagte er, »war natürlich vorher überlegt und darf selbstverständlich nicht mitgerechnet werden. Um ihr etwas am Zeug zu flicken, müßte man sie schon absichtlich belauern oder verleumden, was übrigens nicht lange ausbleiben wird«, schloß Ganja und erwartete nun, daß der Fürst jetzt unbedingt fragen werde, warum er ihr gestriges Verhalten ein vorher überlegtes nenne; und warum die Verleumdung nicht lange ausbleiben werde.

Aber der Fürst stellte diese Fragen nicht.

Über Jewgeni Pawlowitsch ließ sich Ganja von selbst, ohne danach gefragt zu sein, ausführlich aus, was sehr sonderbar war, da er ohne jeden äußeren Anlaß das Gespräch auf ihn brachte. Nach Gawrila Ardalionowitschs Ansicht hatte Jewgeni Pawlowitsch Nastasja Filippowna früher nicht gekannt; er kenne sie auch jetzt kaum und nur daher, daß er ihr vor vier Tagen durch irgend jemand auf dem Spaziergang vorgestellt worden sei; er sei aber schwerlich auch nur ein einziges Mal bei ihr im Haus gewesen, wie andere. Was die Wechsel anlange, so sei die Sache allerdings möglich (hierüber glaubte Ganja sogar Zuverlässiges zu wissen); Jewgeni Pawlowitsch besitze freilich ein großes Vermögen; aber manches auf seinem Gut sei tatsächlich in Unordnung. Bei diesem interessanten Punkt brach Ganja plötzlich ab. Über Nastasja Filippownas auffälliges Benehmen vom vorhergehenden Tag sagte er kein Wort außer der flüchtigen Bemerkung, die ihm vorher entschlüpft war. Endlich kam Warwara Ardalionowna, um Ganja abzuholen; sie blieb einen Augenblick da, teilte (ebenfalls ungefragt) mit, daß Jewgeni Pawlowitsch sich heute und vielleicht auch morgen in Petersburg aufhalten werde, daß ihr Mann, Iwan Petrowitsch Ptizyn, gleichfalls in Petersburg sei, und zwar fast ausschließlich in geschäftlichen Angelegenheiten Jewgeni Pawlowitschs, und daß da wirklich etwas passiert sein müsse. Beim Weggehen fügte sie hinzu, Lisaweta Prokofjewna befinde sich heute in einer gräßlichen Stimmung; aber, was das Seltsamste sei, Aglaja habe sich mit der ganzen Familie überworfen, nicht nur mit dem Vater und der Mutter, sondern sogar mit ihren beiden Schwestern, und das sei ganz und gar nicht schön von ihr. Nachdem sie, anscheinend nur so beiläufig, dem Fürsten diese letzte, für ihn so bedeutsame Mitteilung gemacht hatte, entfernten sich Bruder und Schwester. Der Geschichte mit »Pawlischtschews Sohn« hatte Ganja mit keinem Wort Erwähnung getan, vielleicht aus erheuchelter Diskretion, vielleicht »um die Gefühle des Fürsten zu schonen«; aber der Fürst sprach ihm doch noch einmal für die sorgsame Erledigung der Angelegenheit seinen Dank aus.

Der Fürst war sehr froh, daß sie ihn endlich allein gelassen hatten; er stieg von der Veranda hinab, schritt quer über den Weg und ging in den Park hinein; er wollte nachdenken und über einen wichtigen Schritt ins klare kommen. Aber dieser Schritt war nicht einer von denen, die man überlegt, sondern zu denen man sich ohne Überlegung einfach entschließt: es hatte ihn auf einmal ein heftiges Verlangen ergriffen, alles, was ihn hier umgab, zu verlassen, dahin zurückzukehren, von wo er gekommen war, irgendwohin, recht weit weg, in die Einsamkeit zu fahren, und zwar sofort, ohne auch nur von jemand Abschied zu nehmen. Er sah vorher, daß, wenn er hier auch nur noch ein paar Tage bliebe, er mit Sicherheit unwiederbringlich in diese Welt werde hineingezogen werden, und daß es dann künftig sein Los sein werde, ganz in ihr aufzugehen. Aber er hatte noch nicht zehn Minuten darüber nachgedacht, als er zu der Einsicht gelangte, daß es unzulässig sei, so davonzulaufen; daß das Kleinmut sein würde; daß ihm Aufgaben gestellt seien, deren Erfüllung abzulehnen er jetzt in keiner Weise berechtigt sei; daß er sich jedenfalls nicht weigern dürfe, zu ihrer Erfüllung all seine Kräfte anzustrengen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte er nach Hause zurück, nachdem er kaum eine Viertel stunde spazierengegangen war. Er fühlte sich in diesem Augenblick tief unglücklich.