Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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XII

Es war sieben Uhr abends; der Fürst wollte eben in den Park gehen.

Auf einmal kam Lisaweta Prokofjewna ganz allein zu ihm in die Veranda.

»Erstens, bilde dir nicht ein«, begann sie, »daß ich gekommen wäre, dich um Verzeihung zu bitten! Unsinn! Du allein trägst die ganze Schuld.«

Der Fürst schwieg.

»Trägst du die Schuld?«

»In demselben Maße wie Sie. Übrigens haben weder Sie noch ich in irgendeiner Hinsicht uns absichtlich schuldig gemacht. Ich hielt mich vorgestern für schuldig; aber jetzt bin ich doch anderer Ansicht geworden und meine, daß dem nicht so ist.«

»Also so denkst du darüber! Nun gut; höre zu und setze dich; denn ich beabsichtige nicht zu stehen.«

Beide setzten sich.

»Zweitens, kein Wort von den boshaften Burschen! Ich werde zehn Minuten hierbleiben und mit dir reden; ich bin hergekommen, um dich nach etwas zu fragen (du dachtest wohl schon, ich sei aus Gott weiß was für einem Grund gekommen?), und wenn du der dreisten Burschen auch nur mit einem Wort Erwähnung tust, so stehe ich auf und gehe weg und breche jeden Verkehr mit dir ab.«

»Gut«, antwortete der Fürst.

»Gestatte die Frage: hast du vor zwei oder eineinhalb Monaten, um Ostern herum, an Aglaja einen Brief geschrieben?«

»J-ja, das habe ich getan.«

»Was hattest du dabei für eine Absicht? Was stand in dem Brief? Zeige mal den Brief her!«

Lisaweta Prokofjewnas Augen blitzten; sie zitterte vor Ungeduld.

»Den Brief habe ich nicht«, versetzte der Fürst sehr erstaunt und sehr schüchtern. »Wenn er überhaupt noch existiert, muß ihn Aglaja Iwanowna haben.«

»Keine Ausflüchte! Was hast du ihr geschrieben?«

»Ich mache keine Ausflüchte; ich habe keinen Grund, mich zu fürchten. Ich sehe nicht ein, warum ich ihr nicht hätte schreiben dürfen ...«

»Schweig! Du kannst nachher reden. Was stand in dem Brief? Warum bist du so rot geworden?«

Der Fürst überlegte ein Weilchen.

»Ich kenne Ihre Gedanken nicht, Lisaweta Prokofjewna. Ich sehe nur, daß Ihnen dieser Brief sehr mißfällt. Sie werden zugeben müssen, daß ich die Beantwortung einer solchen Frage ablehnen könnte; aber um Ihnen zu zeigen, daß ich mich wegen des Briefes nicht fürchte und es nicht bedaure, ihn geschrieben zu haben, und um seinetwillen ganz und gar nicht erröte« (hier wurde der Fürst dunkelrot), »will ich Ihnen diesen Brief hersagen, da ich ihn, wie ich meine, auswendig weiß.«

Hierauf sagte der Fürst den Brief fast Wort für Wort so her, wie er ihn geschrieben hatte.

»So ein törichtes Gerede! Was soll dieser Unsinn denn nach deiner Meinung bedeuten?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton, nachdem sie bei dem Hersagen des Briefes sehr aufmerksam zugehört hatte.

»Ich weiß es selbst nicht ganz; ich weiß nur, daß meine Empfindung wahr und echt war. Ich hatte dort Augenblicke, in denen ich wahrhaft lebte und von außerordentlichen Hoffnungen erfüllt war.«

»Von was für Hoffnungen?«

»Das ist schwer zu erklären, aber nicht von denen, an die Sie jetzt vielleicht denken. Von Hoffnungen ... nun, kurz von Hoffnungen auf die Zukunft und von Freude darüber, daß ich vielleicht in Rußland kein Fremder, kein Ausländer war. Es gefiel mir auf einmal sehr gut in der Heimat. An einem sonnigen Morgen ergriff ich die Feder und schrieb einen Brief an sie; warum gerade an sie, das weiß ich nicht. Es überkommt einen ja manchmal ein Verlangen, einen Freund neben sich zu haben; auch ich sehnte mich offenbar nach einem Freund ...«, fügte der Fürst nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Bist du verliebt, ja?«

»N-nein. Ich ... ich habe wie an eine Schwester geschrieben; ich habe mich auch als Bruder unterzeichnet.«

»Hm! Absichtlich; ich verstehe.«

»Es ist mir sehr peinlich, Ihnen auf diese Fragen zu antworten, Lisaweta Prokofjewna.«

»Ich weiß, daß es dir peinlich ist; aber das kümmert mich nicht. Höre mal, antworte mir die Wahrheit, wie wenn du vor Gott ständest: lügst du mir auch nichts vor?«

»Ich lüge nicht.«

»Sagst du die Wahrheit, daß du nicht verliebt bist?«

»Ich glaube, daß das die volle Wahrheit ist.«

»Sieh mal an: ›Ich glaube!‹ Wer hat ihr den Brief überbracht? Der dumme Junge?«

»Ich hatte Nikolai Ardalionowitsch gebeten ...«

»Ein dummer Junge ist er! Ein dummer Junge!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna. »Ich kenne keinen Nikolai Ardalionowitsch! Ein dummer Junge ist er!«

»Nikolai Ardalionowitsch ...«

»Ein dummer Junge, sage ich dir!«

»Nein, kein dummer Junge, sondern Nikolai Ardalionowitsch«, antwortete der Fürst in festem Ton, wiewohl ziemlich leise.

»Na, schön, lieber Freund, schön! Das werde ich dir aufs Kerbholz schneiden.«

Sie kämpfte ihre Aufregung für ein Weilchen nieder und erholte sich.

»Und was hat es mit dem ›armen Ritter‹ für eine Bewandtnis?«

»Das ist mir völlig unbekannt; ich bin nicht dabeigewesen, als es aufkam; es ist irgendein Scherz.«

»Mir sehr angenehm, das zu erfahren! Aber konnte sie sich denn wirklich für dich interessieren? Sie hat dich ja selbst einen Krüppel und einen Idioten genannt.«

»Das hätten Sie mir nicht sagen sollen«, bemerkte der Fürst vorwurfsvoll, aber beinah flüsternd.

»Sei nicht böse! Sie ist ein eigensinniges, verrücktes, verzogenes Mädchen; wenn sie sich verliebt, so wird sie unbedingt laut über den Geliebten räsonieren und ihm ins Gesicht spotten; ich bin ganz ebenso gewesen. Nur, bitte, triumphiere nicht, lieber Freund; sie wird nicht die Deine werden; ich glaube nicht daran; es wird nie geschehen! Ich sage das, damit du dich schon jetzt danach einrichtest. Höre mal, schwöre mir, daß du nicht mit jener Frauensperson verheiratet bist!«

»Lisaweta Prokofjewna, ich bitte Sie, was reden Sie da!« rief der Fürst und sprang vor Erstaunen beinah auf.

»Aber es fehlte nicht viel, daß du sie geheiratet hättest?«

»Nein, es fehlte nicht viel daran«, flüsterte der Fürst und ließ den Kopf sinken.

»Also in die bist du doch verliebt, wenn es so ist? Bist du jetzt um ihretwillen hergereist? Um dieser Frauensperson willen?«

»Ich bin nicht hergereist, um zu heiraten«, versetzte der Fürst.

»Ist dir etwas auf der Welt heilig?«

»Ja.«

»Dann schwöre mir, daß du nicht hergereist bist, um sie zu heiraten.«

»Ich schwöre es bei allem, was Sie wollen!«

»Ich glaube dir; küsse mich! Endlich kann ich wieder frei atmen. Aber wisse: Aglaja liebt dich nicht; danach richte dich; solange ich auf der Welt bin, wird sie nicht deine Frau werden! Hast du gehört?«

»Ja, ich habe es gehört.«

Der Fürst errötete so stark, daß er Lisaweta Prokofjewna nicht gerade in die Augen sehen konnte.

»Nun, dann merke es dir! Ich habe auf dich gewartet wie auf die Vorsehung (was du übrigens nicht wert warst!); ich habe mein Kissen nachts mit meinen Tränen benetzt – nicht deinetwegen, lieber Freund; mach dir keine Sorgen; ich habe meinen eigenen, anderen Kummer, immer und ewig denselben. Aber der Grund, weshalb ich auf dich mit solcher Ungeduld gewartet habe, ist der: ich glaube immer noch, daß Gott selbst dich mir als meinen Freund und Bruder gesandt hat. Ich habe keinen Menschen als die alte Bjelokonskaja, und auch die ist jetzt ausgeflogen und ist überdies infolge ihres hohen Alters dumm wie ein Schaf. Jetzt antworte einfach ja oder nein: weißt du, warum sie neulich die seltsamen Worte aus dem Wagen gerufen hat?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht dabei beteiligt war und nichts davon weiß!«

»Genug, ich glaube dir. Jetzt fasse ich die Sache anders auf; aber noch vorgestern vormittag maß ich Jewgeni Pawlowitsch an allem die Schuld bei. Den ganzen vorgestrigen Tag und gestern vormittag war ich dieser Meinung. Jetzt allerdings kann ich nicht umhin, den andern beizustimmen: es ist offenbar, daß sie sich über ihn wie über einen Dummkopf lustig gemacht hat, aus irgendeinem Grund, zu irgendeinem Zwecke in irgendeiner Absicht. (Schon das allein ist verdächtig und ganz ungehörig!) Aber Aglaja wird er nicht zur Frau bekommen, das sage ich dir! Er mag ja ein ganz guter Mensch sein; aber es wird doch so geschehen, wie ich gesagt habe. Früher habe ich noch geschwankt; aber jetzt habe ich mit aller Bestimmtheit erklärt: ›Legt mich erst in den Sarg und vergrabt mich in die Erde; dann könnt ihr meine Tochter zur Frau geben, wem ihr wollt!‹ Das habe ich heute mei nem Mann gegenüber ausgesprochen. Siehst du wohl, daß ich dir vertraue? Siehst du das wohl?«

»Ja, ich sehe es und verstehe es.«

Lisaweta Prokofjewna blickte den Fürsten prüfend an: vielleicht hätte sie gern gewußt, welchen Eindruck die Mitteilung über Jewgeni Pawlowitsch auf ihn gemacht hatte.

»Von Gawrila Iwolgin weißt du nichts?«

»Das heißt ... ich weiß von ihm vieles.«

»Hast du gewußt, daß er mit Aglaja Beziehungen unterhält?«

»Davon habe ich nicht das geringste gewußt«, erwiderte der Fürst erstaunt; er war sogar zusammengezuckt.

»Wie? Sie sagen, Gawrila Ardalionowitsch unterhalte Beziehungen mit Aglaja Iwanowna? Unmöglich!«

»Erst seit kurzer Zeit. Seine Schwester hat ihm den ganzen Winter über den Weg gebahnt; wie eine Ratte hat sie gewühlt und genagt.«

»Ich glaube es nicht«, wiederholte der Fürst mit fester Stimme, nachdem er ein Weilchen in Aufregung nachgedacht hatte. »Wenn das der Fall wäre, so würde ich es sicher wissen.«

 

»Na ja, er wäre wohl selbst gekommen, wäre dir an die Brust gesunken und hätte es dir unter Tränen gestanden! O du Einfalt, du Einfalt! Alle betrügen sie dich ja wie ... wie ... Schämst du dich denn gar nicht, ihm zu vertrauen? Siehst du denn nicht, daß er dich beständig hinters Licht führt?«

»Ich weiß sehr wohl, daß er mich manchmal betrügt«, antwortete der Fürst nur ungern und halblaut, »und er weiß, daß ich das weiß; aber ...«, fügte er hinzu, sprach jedoch den Satz nicht zu Ende.

»Es zu wissen und doch zu vertrauen! Das ist das Nonplusultra! Übrigens konnte man das von dir erwarten. Worüber wundere ich mich da noch? Mein Gott! Hat es je so einen Menschen gegeben? Nein, so etwas! Und weißt du, daß dieser Ganja oder diese Warja sie mit Nastasja Filippowna in Verkehr gebracht haben?«

»Wen?« rief der Fürst.

»Aglaja.«

»Das glaube ich nicht! Das ist nicht möglich! Was sollten sie dabei für eine Absicht gehabt haben?«

Er sprang vom Stuhl auf.

»Auch ich glaube es nicht, wiewohl sichere Anzeichen dafür vorhanden sind. Sie ist ein eigenwilliges Mädchen, ein phantastisches Mädchen, ein verrücktes Mädchen! Und boshaft ist sie, boshaft! Lebenslänglich werde ich behaupten, daß sie boshaft ist! Alle meine Töchter haben sich jetzt in dieser Weise verändert, sogar die mattherzige Alexandra; aber bei Aglaja ist es rein zum Tollwerden. Aber ich glaube es auch nicht! Vielleicht deswegen, weil ich es nicht glauben will«, fügte sie wie für sich hinzu.

»Warum bist du denn nicht zu uns gekommen?« wandte sie sich plötzlich wieder an den Fürsten. »Warum bist du die ganzen drei Tage nicht gekommen?« rief sie ihm ungeduldig zum zweitenmal zu.

Der Fürst begann seine Gründe anzuführen; aber sie unterbrach ihn von neuem.

»Alle halten sie dich für einen Dummkopf und betrügen dich! Du bist gestern nach der Stadt gefahren; ich möchte wetten, du hast auf den Knien gelegen und diesen Schuft gebeten, die zehntausend Rubel anzunehmen!«

»Keineswegs; ich habe gar nicht daran gedacht. Ich habe ihn überhaupt nicht besucht, und außerdem ist er kein Schuft. Ich habe einen Brief von ihm erhalten.«

»Zeig ihn mal her!«

Der Fürst nahm einen Zettel aus seiner Brieftasche und reichte ihn Lisaweta Prokofjewna hin. Auf dem Zettel stand:

»Geehrter Herr! Ich habe freilich in den Augen der Menschen nicht das geringste Recht, Ehrgefühl zu besitzen; nach der Meinung der Leute stehe ich dazu zu niedrig. Aber so ist das nur in den Augen der Menschen, nicht in den Ihrigen. Ich bin zu der bestimmten Überzeugung gelangt, daß Sie, geehrter Herr, besser als andere sind. Ich bin darin nicht Doktorenkos Meinung und trenne mich in diesem Punkt von ihm. Ich werde von Ihnen nie auch nur eine Kopeke annehmen; aber Sie haben meine Mutter unterstützt, und dafür muß ich Ihnen dankbar sein, wenn auch nur aus Schwäche. Jedenfalls sehe ich Sie jetzt mit anderen Augen an und hielt für nötig, Ihnen das mitzuteilen. Des weiteren aber bin ich der Ansicht, daß zwischen uns keinerlei Beziehungen mehr bestehen können. Antip Burdowski.

P.S. Die an den zweihundertfünfzig Rubeln fehlende Summe wird Ihnen im Laufe der Zeit sicher zurückgezahlt werden.«

»So ein Blödsinn!« rief Lisaweta Prokofjewna nach dem Durchlesen und warf dem Fürsten das Blatt wieder hin.

»Es lohnte nicht der Mühe, es durchzulesen. Was schmunzelst du?«

»Geben Sie doch zu, daß auch Sie es mit Vergnügen gelesen haben!«

»Wie? Diesen von Eitelkeit durchtränkten Unsinn? Siehst du denn nicht, daß diese Menschen alle vor Stolz und Eitelkeit geradezu verrückt geworden sind?«

»Ja, aber er hat sich schuldig bekannt, hat mit Doktorenko gebrochen, und je eitler er ist, um so schwerer muß das seiner Eitelkeit gefallen sein. Ach, was sind Sie für ein kleines Kind, Lisaweta Prokofjewna!«

»Du möchtest wohl zum Schluß eine Ohrfeige von mir bekommen, was?«

»Nein, das möchte ich nicht. Ich sage das, weil Sie sich über den Brief freuen und es verbergen. Warum schämen Sie sich Ihrer Empfindungen? So machen Sie es immer.«

»Untersteh dich nicht, je wieder den Fuß über meine Schwelle zu setzen!« rief Lisaweta Prokofjewna und sprang, ganz blaß vor Zorn, auf. »Laß dich nie wieder bei mir blicken!«

»Aber nach drei Tagen werden Sie selbst herkommen und mich zu sich rufen ... Sie sollten sich schämen! Das sind ja Ihre besten Empfindungen; warum schämen Sie sich ihrer denn? Sie quälen sich ja nur selbst damit.«

»Ich will eher sterben, als daß ich dich jemals rufe! Ich werde deinen Namen vergessen! Ich habe ihn schon vergessen!«

Sie stürzte von dem Fürsten weg.

»Es war mir sowieso schon verboten worden, zu Ihnen zu gehen!« rief ihr der Fürst nach.

»Wa-as? Wer hat es dir verboten?«

Sie wandte sich augenblicklich um, wie wenn jemand sie mit einer Nadel gestochen hätte. Der Fürst zauderte zu antworten; er merkte, daß er unbedachtsamerweise sich arg verplappert hatte.

»Wer hat es dir verboten?« rief Lisaweta Prokofjewna wütend.

»Aglaja Iwanowna hat es mir verboten ...«

»Wann? So – re-de – doch!«

»Heute vormittag hat sie mir die Weisung zugehen lassen, ich möchte mich nie wieder erdreisten, zu Ihnen zu kommen.«

Lisaweta Prokofjewna stand wie versteinert da; aber sie suchte sich die Sache zurechtzulegen. »Was hat sie dir geschickt? Wen hat sie geschickt? Den dummen Jungen? Mit einer mündlichen Bestellung?« rief sie wieder.

»Ich habe ein Billett erhalten«, versetzte der Fürst.

»Wo ist es? Gib es her! Augenblicklich!«

Der Fürst überlegte einen Augenblick, zog dann aber aus der Westentasche ein gewöhnliches Stückchen Papier heraus, auf dem geschrieben stand:

»Fürst Ljow Nikolajewitsch! Wenn Sie nach allem, was vorgefallen ist, beabsichtigen sollten, mich durch einen Besuch in unserem Landhaus in Erstaunen zu versetzen, so mögen Sie wissen, daß ich nicht zu denjenigen gehören werde, die sich darüber freuen. Aglaja Jepantschina.«

Lisaweta Prokofjewna dachte ein Weilchen nach; dann stürzte sie plötzlich auf den Fürsten zu, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

»Komm! Sofort! Nun gerade sofort, augenblicklich!« rief sie in einem Anfall starker Aufregung und Ungeduld.

»Aber Sie setzen mich ja der Gefahr aus ...«

»Was für einer Gefahr? Du harmloser Tropf! Gerade als ob du kein Mann wärst! Na, jetzt werde ich selbst alles mit eigenen Augen sehen ...«

»Aber lassen Sie mich doch wenigstens meinen Hut nehmen ...«

»Da ist dein garstiger Hut, komm! Du hast nicht einmal so viel Geschmack gehabt, dir eine ordentliche Fasson auszusuchen ...! Das hat sie ... das hat sie infolge des Auftritts von heute vormittag getan ... in der Aufregung«, murmelte Lisaweta Prokofjewna, indem sie den Fürsten hinter sich herzog und seine Hand keinen Augenblick losließ. »Vorhin habe ich dich noch verteidigt und habe laut erklärt, es sei dumm von dir, daß du nicht kämst ... Sonst hätte sie ja auch nicht einen so sinnlosen Brief geschrieben! Einen so unpassenden Brief, ganz unpassend für ein anständiges, wohlerzogenes, kluges, kluges Mädchen ...! Hm«, fuhr sie fort, »oder ... oder vielleicht ... vielleicht hat sie sich selbst darüber geärgert, daß du nicht kamst, und nur nicht recht bedacht, daß man an einen Idioten so nicht schreiben kann, weil er es wörtlich auffaßt, wie es ja auch geschehen ist. Warum horchst du denn?« rief sie, da sie merkte, daß sie zu viel gesagt hatte. »Sie braucht einen Hansnarren, wie du einer bist; so einen hat sie schon lange nicht gesehen; darum lädt sie dich ein zu kommen! Und ich freue mich, ich freue mich, daß sie dich jetzt bei den Ohren kriegen wird, ich freue mich! Das geschieht dir ganz recht! Und sie versteht das, oh, das versteht sie vorzüglich!«

Dritter Teil
I

Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine Praktiker gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber an Praktikern mangle es. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschiffahrts-Gesellschaft einen halbwegs erträglichen Betrieb herzustellen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder mit einer zusammenbrechenden Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren ausgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern werde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck, zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat dem Vernehmen nach (es ist übrigens kaum zu glauben) dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei »in Eifer geraten«. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial ein anständiges Betriebspersonal bei einer Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bilden?

Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, eine so einfache Antwort, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln; aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu reden gekommen; wir wollten eigentlich von Praktikern sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines Praktikers gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir nur uns selbst beschuldigen – wenn anders es eine Beschuldigung ist, von jemand zu sagen, daß er diese Anschauung hat? Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer für die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch ein sehr niedriger Ansatz) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders.

Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als für Dummköpfe gehalten worden; das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so mußte selbstverständlich, als die Leihbank ab geschafft wurde und alle sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener Milliarden unfehlbar im Aktienfieber und in den Händen von Gaunern untergehen – und das forderten sogar der Anstand und die gute Sitte. Namentlich die gute Sitte; wenn eine wohlgesittete Schüchternheit und ein wohlanständiger Mangel an Originalität bei uns bisher nach der allgemeinen Anschauung eine unerläßliche Eigenschaft eines tüchtigen, ordentlichen Menschen bildeten, so wäre es geradezu ungehörig und unschicklich, sich plötzlich zu ändern. Welche Mutter zum Beispiel, die ihr Kind zärtlich liebt, wird nicht einen Schreck bekommen und vor Angst krank werden, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter auch nur ein wenig das gewohnte Geleise verläßt? »Nein«, denkt jede Mutter, die ihr Kind in Schlaf wiegt, »mag es lieber ohne Originalität glücklich sein und zufrieden leben!« Und wenn unsere Kinderfrauen die Kinder in der Wiege schaukeln, so sprechen und singen sie dabei seit undenklichen Zeiten: »In goldenen Kleidern wirst du gehen, ›Exzellenz‹ wird man zu dir sagen!« Somit galt auch bei unseren Kinderfrauen der Generalsrang von jeher für den Gipfelpunkt russischen Glücks und war also das populärste nationale Ideal eines schönen, ruhigen, seligen Daseins. Und in der Tat: wer, der sein Examen auch nur mittelmäßig bestanden und dann fünfunddreißig Jahre gedient hatte, konnte bei uns nicht schließlich Exzellenz werden und sich eine erkleckliche Summe auf der Bank zusammensparen? Auf diese Weise erlangte der Russe fast ohne alle Anstrengung schließlich eine Stellung, wie sie eigentlich nur einem tüchtigen, praktischen Menschen zukommt. Wahrhaftig, eine Unmöglichkeit, Exzellenz zu werden, bestand bei uns nur für einen originellen Menschen, mit andern Worten: für einen unruhigen Kopf. Vielleicht liegt hier bis zu einem gewissen Grade ein Mißverständnis vor; aber im allgemeinen scheint es doch zuzutreffen, und unsere Gesellschaft war vollkommen berechtigt, sich ihr Ideal eines praktischen Menschen in dieser Weise zu gestalten. Indessen wir haben vieles gesagt, was nicht hierhergehört; wir wollten eigentlich nur ein paar erklärende Worte über die uns bekannte Familie Jepantschin sagen. Diese Leute oder wenigstens diejenigen Familienmitglieder, die am meisten zum Nachdenken veranlagt waren, litten beständig an einer ihnen fast allen gemeinsamen Familieneigenschaft, die denjenigen Tugenden, über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne diese Tatsache völlig zu verstehen (weil das eben seine Schwierigkeiten hatte), hatten sie doch manchmal einen Argwohn, daß in ihrer Familie alles nicht so zugehe wie bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im Übermaß ängstlich; aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum guten Ton gehörige Ängstlichkeit, die ihnen so erstrebenswert schien. Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich darüber beunruhigte: die Mädchen waren noch jung, wiewohl ein sehr scharfsinniges Völkchen mit Neigung zur Ironie; der General aber besaß zwar Verständnis (allerdings ein langsames und schwerfälliges), sagte aber in schwierigen Fällen nur: »Hm!«, und setzte schließlich seine ganze Zuversicht auf Lisaweta Prokofjewna. Auf ihr ruhte also die Verantwortung. Nicht als ob diese Familie sich durch irgendeine besondere Initiative ausgezeichnet hätte oder infolge eines bewußten Hanges zur Originalität aus dem Geleise gesprungen wäre, was sich ja freilich mit der Schicklichkeit ganz und gar nicht vertragen hätte. O nein! Das war wirklich nicht der Fall; das heißt, es lag bei ihnen keine bewußte Absicht vor; aber dennoch kam es schließlich so heraus, daß die Familie Jepantschin trotz all ihrer Respektabilität von anderer Art war, als respektable Familien sein müssen. In letzter Zeit hatte Lisaweta Prokofjewna angefangen, die Schuld an alledem lediglich sich und ihrem »unglücklichen« Charakter beizumessen, wodurch ihre Leiden nur noch vermehrt wurden. Sie selbst nannte sich alle Augenblicke »eine dumme, taktlose Person, eine verdrehte Schraube«, quälte sich mit ihrem Mißtrauen, war beständig außer sich, fand bei ganz gewöhnlichen Dingen, die ihr zustießen, keinen Ausweg und übertrieb fortwährend das Unglück.

 

Schon zu Beginn unserer Erzählung haben wir erwähnt, daß Jepantschins sich allgemeiner, aufrichtiger Hochachtung erfreuten. Sogar der General Iwan Fjodorowitsch selbst, ein Mann von geringer Herkunft, wurde überall ohne Sträuben achtungsvoll empfangen. Diese Achtung verdiente er erstens wegen seines Reichtums und seiner hohen Stellung und zweitens als ein durchaus ordentlicher, wenn auch nicht geistreicher Mann. Aber eine gewisse Stumpfheit des Geistes bildet ja, wie es scheint, eine notwendige Eigenschaft, wenn nicht eines jeden tätigen Arbeiters, so doch wenigstens eines jeden, der ernstlich auf Gelderwerb bedacht ist. Endlich besaß der General gute Manieren, war bescheiden, verstand zu schweigen, gleichzeitig aber auch, sich nichts bieten zu lassen, und zwar nicht allein mit Rücksicht auf seinen Generalsrang, sondern auch als ehrenhafter, anständiger Mensch. Das Allerwichtigste war, daß er sich starker Protektion erfreute. Was Lisaweta Prokofjewna anlangt, so stammte sie, wie schon oben dargelegt ist, aus einem vornehmen Geschlecht, wiewohl man bei uns auf solche Herkunft keinen großen Wert legt, wenn nicht die notwendigen Konnexionen hinzukommen. Aber auch an denen fehlte es ihr nicht; sie wurde von so hohen Persönlichkeiten geachtet, ja geliebt, daß nach deren Vorgang natürlich auch alle andern sie achten und empfangen mußten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ihre Qualen mit Bezug auf ihre Familie keinen rechten Anlaß hatten, einer ernsten Ursache ermangelten und in komischer Weise übertrieben waren; aber wenn jemand auf der Nase oder auf der Stirn eine Warze hat, so meint er immer, alle Leute hätten auf der Welt nichts anderes zu tun, als seine Warze anzusehen, darüber zu spotten und ihn deswegen geringzuschätzen, selbst wenn er sich durch die Entdeckung von Amerika verdient gemacht habe. Es ist auch nicht daran zu zweifeln, daß man in der Gesellschaft Lisaweta Prokofjewna wirklich für »eine verdrehte Schraube« hielt; indes genoß sie trotzdem unstreitig alle Achtung; aber Lisaweta Prokofjewna mochte zuletzt an diese Achtung nicht mehr glauben – und das war der ganze Schade. Wenn sie ihre Töchter ansah, so quälte sie sich mit dem Verdacht, sie schädige fortwährend den Lebensweg derselben durch irgend etwas, sie habe einen lächerlichen, taktlosen, unerträglichen Charakter; aber natürlich beschuldigte sie unaufhörlich ihre Töchter und Iwan Fjodorowitsch und zankte sich ganze Tage lang mit ihnen herum, obwohl sie sie gleichzeitig leidenschaftlich und bis zur Selbstvergessenheit liebte.

Am meisten quälte sie die Befürchtung, ihre Töchter könnten ebenso »verdrehte Schrauben« werden wie sie; solche Mädchen wie die ihrigen, meinte sie, gebe es auf der ganzen Welt nicht mehr und könne es auch gar nicht mehr geben. »Sie werden die reinen Nihilistinnen, das ist's!« sagte sie alle Augenblicke bei sich im stillen. Im letzten Jahr und besonders in der allerletzten Zeit hatte sich dieser traurige Gedanke immer mehr und mehr bei ihr festgesetzt. »Erstens, warum verheiraten sie sich nicht?« fragte sie sich fortwährend. »Um ihre Mutter zu ärgern; darin sehen sie ihren Lebenszweck, und das kommt natürlich alles von den neuen Ideen und der verdammten Frauenfrage her! Kam nicht Aglaja vor einem halben Jahr auf den Einfall, sich ihr prächtiges Haar abzuschneiden? (O Gott, solches Haar habe ich in meiner Jugend nicht gehabt!) Sie hatte ja sogar schon die Schere in der Hand, und ich habe sie auf den Knien bitten müssen, es doch zu unterlassen ...! Na, die hat das allerdings aus Bosheit getan, um ihre Mutter zu quälen; denn sie ist ein boshaftes, eigenwilliges, verzogenes Mädchen, vor allem boshaft, boshaft, boshaft! Aber wollte nicht diese behäbige Alexandra es ihr nachmachen und sich ebenfalls ihre Zotteln abschneiden? Und die nicht aus Bosheit und nicht aus Laune, sondern in aufrichtiger Dummheit, weil Aglaja ihr eingeredet hatte, sie werde ohne Haar besser schlafen und keine Kopfschmerzen mehr haben. Und wie viele, viele Bewerber haben sie nicht in diesen fünf Jahren gehabt? Und es waren doch wirklich nette Männer darunter, sogar ganz prächtige Männer! Worauf warten sie denn noch? Warum heiraten sie nicht? Nur um ihre Mutter zu ärgern – das ist der einzige Grund! Der einzige! Der einzige!«

Endlich ging nun auch für ihr Mutterherz die Freudensonne auf: es war Aussicht, daß wenigstens eine Tochter, Adelaida, endlich unter die Haube kommen werde. »Wenigstens eine werde ich loswerden«, sagte Lisaweta Prokofjewna, wenn es sich traf, daß sie laut darüber sprach (im stillen drückte sie sich sehr viel zärtlicher aus). Und in wie netter, schicklicher Weise sich die ganze Sache gemacht hatte; selbst in den Kreisen der vornehmen Welt wurde davon mit Achtung gesprochen. Der Bräutigam war eine allgemein bekannte Persönlichkeit, ein Fürst, mit bedeutendem Vermögen, ein guter Mensch und ihr von Herzen zugetan: was konnte man sich noch Besseres denken? Aber für Adelaida hatte sie auch früher weniger Befürchtungen gehegt als für die andern Töchter, wiewohl ihre künstlerischen Neigungen dem stets von Zweifeln geplagten Mutterherzen Lisaweta Prokofjewnas manchmal bedenklich gewesen waren. »Dafür hat sie ein heiteres Gemüt und außerdem viel Verstand – also wird das Mädchen nicht zugrundegehen«, tröstete sie sich schließlich. Um Aglaja ängstigte sie sich am allermeisten. Beiläufig gesagt, was die älteste, Alexandra, betraf, so wußte Lisaweta Prokofjewna selbst nicht, wie sie sich in bezug auf diese verhalten sollte: sollte sie sich um sie ängstigen oder nicht? Manchmal schien es ihr, als sei mit dem Mädchen »schon alles vorbei«; sie sei fünfundzwanzig Jahre alt, also werde sie sitzenbleiben. Und »bei solcher Schönheit«! Lisaweta Prokofjewna weinte sogar nachts um sie, während Alexandra Iwanowna zur selben Zeit sehr ruhig schlief. »Was ist sie denn eigentlich? Eine Nihilistin oder einfach dumm?« Daß sie übrigens nicht dumm war, davon war auch Lisaweta Prokofjewna durchaus überzeugt; sie legte auf Alexandra Iwanownas Urteil hohen Wert und beriet sich gern mit ihr. Aber daß sie »eine Suse« war, daran konnte kein Zweifel sein; »sie ist von einer solchen Seelenruhe, daß man sie gar nicht aufrütteln kann! Übrigens ist es mit der Seelenruhe auch bei solchen Susen manchmal nicht weit her – na! Ich bin an meinen Töchtern wirklich ganz irre geworden!« Lisaweta Prokofjewna empfand für Alexandra Iwanowna eine Art von unerklärlicher, mitleidiger Sympathie, in noch höherem Grade selbst als für Aglaja, die ihr Abgott war. Aber ihre galligen Bemerkungen (in denen im wesentlichen nur ihre mütterliche Sorge und Liebe zum Ausdruck kamen), ihre Sticheleien und solche Bezeichnungen wie »eine Suse« brachten Alexandra nur zum Lachen. Es kam mitunter so weit, daß Lisaweta Prokofjewna über die nichtigsten Dinge furchtbar zornig wurde und außer sich geriet. So zum Beispiel liebte Alexandra Iwanowna es, lange zu schlafen, wobei sie viel träumte; aber ihre Träume zeichneten sich stets durch eine außerordentliche Harmlosigkeit und Naivität aus, ganz wie bei einem siebenjährigen Kind, und da hatte selbst diese Naivität der Träume wunderlicherweise die Wirkung, die Mama in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Einmal hatte Alexandra Iwanowna von neun Hennen geträumt, und hieraus entstand ein wirklicher Streit zwischen ihr und der Mutter; warum, war schwer zu sagen. Ein andermal, nur ein einziges Mal, glückte es ihr, daß sie einen einigermaßen originellen Traum hatte: sie träumte von einem Mönch in einem dunklen Zimmer, in welches hineinzugehen sie sich fürchtete. Der Traum wurde von den beiden andern Schwestern sofort unter großem Gelächter triumphierend der Mutter mitgeteilt; aber diese wurde wieder ärgerlich und nannte sie alle drei Dummköpfe. »Hm! Sie besitzt die Seelenruhe eines Dummkopfs, sie ist eine vollständige Suse und läßt sich nicht aufrütteln; aber dabei ist sie doch traurig und sieht manchmal ganz trübselig aus! Worüber mag sie sich grämen? Ja, worüber?« Mitunter richtete sie diese Frage auch an Iwan Fjodorowitsch, und zwar nach ihrer Gewohnheit in großer Erregung, in drohendem Ton und in Erwartung einer unverzüglichen Antwort. Iwan Fjodorowitsch sagte: »Hm!«, machte ein finsteres Gesicht, zuckte mit den Schultern und gab endlich, die Arme ausbreitend, sein Urteil dahin ab: