Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Sie muß einen Mann bekommen!«

»Nur wolle Gott ihr nicht einen solchen bescheren, wie Sie einer sind, Iwan Fjodorowitsch!« explodierte Lisaweta Prokofjewna plötzlich wie eine Bombe. »Nicht einen mit solchen Anschauungen und Urteilen wie Sie, Iwan Fjodorowitsch; nicht einen solchen groben Grobian wie Sie, Iwan Fjodorowitsch ...«

Iwan Fjodorowitsch machte schleunigst, daß er davonkam, und Lisaweta Prokofjewna beruhigte sich nach dieser »Explosion«. Selbstverständlich war sie am Abend dieses Tages besonders liebenswürdig, sanft, freundlich und respektvoll gegen Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren »groben Grobian« Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren guten, lieben, vergötterten Iwan Fjodorowitsch; denn in Wirklichkeit liebte sie ihren Iwan Fjodorowitsch ihr ganzes Leben lang, ja sie war in ihn sogar verliebt, was Iwan Fjodorowitsch selbst genau wußte, der auch seinerseits seine Lisaweta Prokofjewna außerordentlich hochschätzte.

Aber die ärgste Qual bereitete ihr beständig Aglaja.

»Sie ist ganz, aber auch ganz wie ich, mein Ebenbild in jeder Beziehung«, sagte Lisaweta Prokofjewna bei sich im stillen, »ein eigenwilliger, abscheulicher Unhold! Eine Nihilistin, eine verdrehte Schraube, verrückt, boshaft, boshaft, boshaft! O Gott, wie unglücklich wird sie werden!«

Aber, wie schon gesagt, die aufgehende Freudensonne besänftigte und erhellte alles für eine Weile. Infolgedessen gab es in Lisaweta Prokofjewnas Leben fast einen ganzen Monat, in dem sie sich von aller Unruhe wieder völlig erholte. Anläßlich der nahe bevorstehenden Hochzeit Adelaidas wurde in den vornehmen Kreisen auch über Aglaja viel gesprochen, und dabei benahm sich Aglaja überall ganz vortrefflich, ruhig, verständig, auch etwas siegesgewiß und stolz; aber das stand ihr ja gerade gut! Den ganzen Monat über war sie so freundlich und liebenswürdig gegen ihre Mutter! (»Allerdings, diesen Jewgeni Pawlowitsch muß man sich noch sehr, sehr genau ansehen und gründlich kennenlernen; Aglaja scheint ja auch an ihm nicht sehr viel mehr Gefallen zu finden als an andern!«) Sie war auf einmal ein so prächtiges Mädchen geworden; und wie schön sie war, o Gott, wie schön, von Tag zu Tag wurde sie schöner! Und da ...

Und da war nun soeben dieser gräßliche Fürst wie der erschienen, dieser jämmerliche Idiot, und alles war wieder in Unruhe geraten, alles ging wieder im Haus drunter und drüber!

Was war denn eigentlich geschehen?

Andere hätten wohl kaum gespürt, daß etwas Besonderes vorgegangen sei. Aber Lisaweta Prokofjewna zeichnete sich eben dadurch aus, daß sie in dem bunten Durcheinander der gewöhnlichsten Dinge bei ihrer steten Unruhe immer etwas herausfand, was sie manchmal mit einer geradezu krankhaften Angst, mit einer unerklärlichen, argwöhnischen und infolgedessen höchst peinlichen Furcht erfüllte. Wie mußte ihr da zumute sein, als jetzt plötzlich aus der ganzen wüsten Menge lächerlicher, unbegründeter Befürchtungen wirklich etwas herausschaute, was tatsächlich wichtig zu sein schien, etwas, was tatsächlich zu Beunruhigung, Zweifel und Argwohn Anlaß gab!

»Wie hat nur jemand wagen können, wie hat nur jemand wagen können, mir diesen verdammten anonymen Brief über diese ›Kreatur‹ zu schreiben, mir zu schreiben, daß sie mit Aglaja Beziehungen unterhalte?« dachte Lisaweta Prokofjewna auf dem ganzen Weg, während sie den Fürsten hinter sich herzog, und zu Hause, als sie ihn an dem runden Tisch Platz nehmen ließ, um den die ganze Familie versammelt war; »wie hat sich nur jemand so etwas zuschulden lassen können? Ich müßte mich ja totschämen, wenn ich auch nur die Spur davon glaubte oder diesen Brief Aglaja zeigte! Solcher Hohn und Spott uns gegenüber, der Familie Jepantschin gegenüber! Und alles um Iwan Fjodorowitschs willen, alles um Ihretwillen, Iwan Fjodorowitsch! Ach, warum sind wir nicht nach Jelagin gegangen; ich sagte ja, wir sollten nach Jelagin ziehen! Den Brief hat vielleicht Warja geschrieben, denke ich mir, oder vielleicht ... Aber an allem, an allem ist Iwan Fjodorowitsch schuld! Diesen Streich neulich hat ihm diese Kreatur in Erinnerung an ihre früheren Beziehungen gespielt, um ihn zu blamieren, gerade wie sie sich früher über den Dummkopf lustig machte und ihn an der Nase herumführte, als er ihr noch Perlen schenkte ... Und nun werden wir schließlich auch noch mit hineingezogen, Ihre Töchter werden mit hineingezogen, Iwan Fjodorowitsch, junge Damen, die zur besten Gesellschaft gehören und in heiratsfähigem Alter stehen; die sind da mit dabei gewesen, haben dabeigestanden, haben alles mitangehört; und auch bei der Geschichte mit den dummen Burschen sind sie zugegen gewesen (freuen Sie sich doch!), auch da sind sie dabei gewesen und haben zugehört! Ich werde das diesem Menschen, dem Fürsten, nicht verzeihen; nein, niemals werde ich ihm das verzeihen! Und warum ist Aglaja drei Tage lang so nervös gewesen, warum hat sie sich mit ihren Schwestern gezankt, sogar mit Alexandra, der sie sonst immer wie einer Mutter die Hände geküßt hat – so hat sie sie verehrt? Warum gibt sie seit drei Tagen uns allen Rätsel auf? Was hat das mit Gawrila Iwolgin zu bedeuten? Warum hat sie es sich gestern und heute angelegen sein lassen, Gawrila Iwolgin zu loben, und dabei geweint? Warum wird in diesem anonymen Brief dieser verdammte ›arme Ritter‹ erwähnt, während sie den Brief, den sie vom Fürsten bekommen hatte, nicht einmal ihren Schwestern gezeigt hat? Und warum ... weshalb, weshalb bin ich jetzt wie eine Verrückte zu ihm hingerannt und habe ihn selbst hierher geschleppt? O Gott, ich habe wohl den Verstand verloren, daß ich so etwas anrichte! Mit einem jungen Mann von den Geheimnissen meiner Tochter zu reden, und noch dazu ... noch dazu von solchen Geheimnissen, die beinah ihn selbst betreffen! O Gott, es ist noch ein Glück, daß er ein Idiot und ... und ... ein Freund unseres Hauses ist! Aber hat sich Aglaja denn wirklich in einen solchen verdrehten Menschen verlieben können! O Gott, was fasele ich da! Pfui! Wir sind die reinen Originale; man müßte uns alle unter Glas ausstellen, mich zuerst, für zehn Kopeken Entree. Das werde ich Ihnen nicht verzeihen, Iwan Fjodorowitsch; niemals werde ich Ihnen das verzeihen! Und warum nimmt sie ihn sich jetzt nicht gehörig vor? Sie hatte gesagt, daß sie das tun wolle, und nun tut sie es nicht! Da, da, sie sieht ihn mit weitgeöffneten Augen an, schweigt, geht nicht weg, bleibt da, und dabei hatte sie ihm doch selbst verboten herzukommen ... Er sitzt ganz blaß da. Und dieser verdammte, verdammte Schwätzer Jewgeni Pawlowitsch hat das ganze Gespräch an sich gerissen! Sieh mal, wie ihm das Mundwerk geht; keinen andern läßt er zu Wort kommen. Ich würde alles sofort erfahren, wenn ich nur die Rede darauf bringen könnte ...«

Der Fürst saß tatsächlich ganz blaß an dem runden Tisch und schien sich gleichzeitig in großer Angst und für Augenblicke in einem ihm selbst unbegreiflichen Wonnerausch zu befinden, der seine Seele ergriffen hatte. Oh, wie er sich fürchtete, nach jener Seite hinzusehen, nach jenem Winkel, von wo zwei wohlbekannte schwarze Augen beharrlich auf ihn gerichtet waren, und wie er gleichzeitig fast verging vor Glückseligkeit darüber, daß er hier wieder unter ihnen saß und die wohlbekannte Stimme hörte – trotz allem, was sie ihm geschrieben hatte! »O Gott, was wird sie jetzt sagen!« Er selbst hatte noch kein einziges Wort gesprochen und hörte mit Anstrengung dem unaufhaltsam redenden Jewgeni Pawlowitsch zu, der sich selten in so zufriedener, angeregter Stimmung befunden hatte wie jetzt an diesem Abend. Der Fürst hörte ihn lange reden und verstand kaum ein Wort. Außer Iwan Fjodorowitsch, der noch nicht aus Petersburg zurückgekehrt war, waren alle vollzählig versammelt. Fürst Schtsch. war ebenfalls anwesend. Wie es schien, hatten sie sich versammelt, um nach einem Weilchen, vor dem Tee, zum Konzert zu gehen. Das jetzige Gespräch war offenbar schon vor der Ankunft des Fürsten in Gang gekommen. Bald darauf schlüpfte auch Kolja in die Veranda herein, ohne daß man gewußt hätte, von wo er kam. »Also wird er hier wie früher empfangen«, sagte sich der Fürst im stillen.

Das Jepantschinsche Landhaus war luxuriös im Schweizerstil gebaut und auf allen Seiten mit Blumen und Blattpflanzen schön geschmückt. Auf allen Seiten war es von einem kleinen, aber hübschen Blumengarten umgeben. Alle saßen in der Veranda wie vor kurzem beim Fürsten; nur war die Veranda etwas geräumiger und eleganter eingerichtet.

Der Gegenstand des Gesprächs, das geführt wurde, schien nicht allen sonderlich zu behagen; dieses Gespräch hatte, wie man merken konnte, seinen Ursprung von einer hitzigen Debatte genommen, und alle hätten gewiß gern das Thema gewechselt; aber Jewgeni Pawlowitsch schien um so eigensinniger an ihm festzuhalten, ohne sich um die Empfindungen der übrigen zu bekümmern, und es war, als ob durch die Ankunft des Fürsten sein Eifer noch erhöht würde. Lisaweta Prokofjewna machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie nicht alles verstand. Aglaja, die abseits, fast in einer Ecke, saß, ging nicht fort, hörte zu und schwieg hartnäckig.

»Erlauben Sie«, sagte Jewgeni Pawlowitsch eifrig, »ich sage nichts gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist keine Sünde; er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservatismus. Ich greife vielmehr den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, daß ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Rußland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler. Zeigen Sie mir einen russischen Liberalen, und ich will mich sogleich vor Ihren Augen mit ihm küssen.«

»Wenn er Sie nur wird küssen wollen«, bemerkte Alexandra Iwanowna, die sich in großer Erregung befand. Selbst ihre Wangen waren röter als sonst.

 

»Nun sieh mal an!« dachte Lisaweta Prokofjewna. »Sonst schläft und ißt sie nur und ist gar nicht aufzurütteln, und dann richtet sie sich einmal im Jahr auf und redet so lebhaft, daß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.«

Der Fürst nahm schon bei flüchtiger Beobachtung wahr, daß es Alexandra Iwanowna stark mißfiel, daß Jewgeni Pawlowitsch in so munterem Ton sprach, nämlich daß er über einen ernsten Gegenstand sprach und anscheinend in Eifer geriet, dabei aber doch scherzte.

»Ich habe soeben kurz vor Ihrer Ankunft, Fürst«, fuhr Jewgeni Pawlowitsch fort, »die Behauptung aufgestellt, daß bei uns bisher die Liberalen nur zwei Gesellschaftsschichten angehört haben: der früheren, jetzt abgeschafften, gutsherrlichen und der seminaristischen. Und da diese beiden Stände sich schließlich in richtige Kasten, in etwas von der Nation völlig Abgesondertes verwandelten, und zwar je länger in um so höherem Grade, von einer Generation zur andern immer mehr, so war und ist auch alles, was sie getan haben und tun, ganz nichtnational ...«

»Wie? Also wäre alles, was auf diesem Gebiet getan worden ist, nicht-russisch?« versetzte Fürst Schtsch.

»Es ist nicht national; obgleich es von Russen getan ist, ist es doch nicht national; weder unsere Liberalen noch unsere Konservativen sind echte Russen, keiner ... Und seien Sie überzeugt, daß die Nation nichts von dem anerkennen wird, was von den Gutsherren und Seminaristen getan ist, weder jetzt noch später ...«

»Nun, das ist ja nett! Wie kannst du nur eine so paradoxe Behauptung verfechten, wenn anders du es überhaupt ernst meinst! Ich kann solchen Angriffen auf den russischen Gutsherrn keine Berechtigung zuerkennen; du selbst bist ja ein russischer Gutsherr!« erwiderte Fürst Schtsch. sehr erregt.

»Ich rede ja von dem russischen Gutsherrn auch nicht in dem Sinn, wie Sie das annehmen. Das ist ein Stand, der alle Achtung verdient, und wär's auch nur deswegen, weil ich zu ihm gehöre; besonders jetzt, wo er aufgehört hat, eine Kaste zu sein ...«

»Hat es etwa auch in der Literatur nichts Nationales gegeben?« unterbrach ihn Alexandra Iwanowna.

»Ich bin mit der Literatur nicht vertraut; aber auch die russische Literatur ist meiner Ansicht nach in ihrem ganzen Umfang nicht-russisch, ausgenommen etwa Lomonosow, Puschkin und Gogol.«

»Erstens ist das gerade nicht wenig, und zweitens stammt einer von ihnen aus dem niederen Volk, und die beiden andern waren Gutsherren«, versetzte Adelaida lachend.

»Ganz richtig; aber triumphieren Sie nicht zu früh! Da es von allen russischen Schriftstellern bisher nur diesen dreien gelungen ist, etwas wirklich Eigenes zu sagen, etwas, was sie von keinem andern entlehnt haben, so sind sie eben dadurch alle drei sofort national geworden. Wenn ein Russe etwas Eigenes sagt, schreibt oder tut, etwas Eigenes, das er von niemand entnommen und entlehnt hat, so wird er unfehlbar national, selbst wenn er schlecht russisch spricht. Das ist für mich ein Axiom. Aber wir sprachen ursprünglich nicht von der Literatur; wir begannen von den Sozialisten zu sprechen, und durch sie hat das Gespräch diesen Gang genommen; nun also, ich behaupte, daß wir keinen einzigen russischen Sozialisten haben; es gibt keinen und hat keinen gegeben, weil alle unsere Sozialisten aus den Gutsherren oder Seminaristen hervorgegangen sind. Alle unsere bekanntesten, renommiertesten Sozialisten, sowohl die hiesigen als die im Ausland lebenden, sind weiter nichts als liberale Gutsherren aus den Zeiten der Leibeigenschaft. Warum lachen Sie? Geben Sie mir ihre Bücher, ihre Lehren, ihre Memoiren, und obgleich ich kein zünftiger Kritiker bin, mache ich mich anheischig, Ihnen eine überzeugende Kritik abzufassen, in der ich sonnenklar beweisen werde, daß jede Seite ihrer Bücher, Broschüren und Memoiren mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem früheren russischen Gutsherrn geschrieben ist. Ihr Zorn, ihre Entrüstung, ihr Witz, alles weist auf Gutsherren als Verfasser hin (sogar auf solche von der Art Famusows); nicht minder ihr Entzücken, ihre Tränen, die vielleicht wahr und echt sind. Alles stimmt zu Gutsherren, oder auch zu Seminaristen ... Sie lachen wieder, und auch Sie lachen, Fürst? Sind auch Sie nicht meiner Meinung?«

In der Tat lachten alle; auch der Fürst lächelte.

»Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich Ihrer Meinung bin oder nicht«, erwiderte der Fürst, indem er plötzlich aufhörte zu lächeln und wie ein ertappter Schuljunge zusammenfuhr. »Aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen mit außerordentlichem Vergnügen zuhöre ...« Als er dies sagte, konnte er kaum Luft holen, und es trat ihm sogar kalter Schweiß auf die Stirn. Dies waren die ersten Worte, die er sprach, seit er sich hingesetzt hatte. Er wollte den Versuch machen, sich im Kreis der Anwesenden umzuschauen; aber er wagte es nicht; Jewgeni Pawlowitsch hatte seine Kopfbewegung bemerkt und lächelte.

»Ich werde Ihnen eine Tatsache mitteilen, meine Herrschaften«, fuhr er in dem früheren Ton fort, das heißt scheinbar mit großem Eifer und großer Wärme, gleichzeitig aber beinah lachend, vielleicht über seine eigenen Worte, »eine Tatsache, eine Beobachtung, sogar eine Entdeckung, die ich die Ehre habe, mir selbst zuzuschreiben und sogar mir ganz allein; wenigstens ist darüber nirgends etwas gesagt oder geschrieben worden. In dieser Tatsache kommt das ganze Wesen jener Art von russischem Liberalismus, von der ich rede, zum Ausdruck. Erstens: was ist denn der Liberalismus, allgemein gesprochen, anderes als ein Angriff (ob ein vernünftiger oder irrtümlicher, das ist eine andere Frage) auf die bestehende Ordnung der Dinge? Nicht wahr? Die von mir beobachtete Tatsache besteht nur darin, daß der russische Liberalismus nicht ein Angriff auf die bestehende Ordnung der Dinge ist, sondern ein Angriff auf das Wesen unserer Dinge selbst, auf die Dinge selbst und nicht nur auf ihre Ordnung, ein Angriff nicht auf russische Einrichtungen, sondern auf Rußland selbst. Mein Liberaler ist dahin gelangt, die Existenzberechtigung Rußlands selbst zu verneinen, das heißt, er haßt und schlägt seine eigene Mutter. Alles, was in Rußland unglücklich ausfällt und mißlingt, bringt ihn zum Lachen und versetzt ihn beinah in Entzücken. Er haßt die Volkssitten, die russische Geschichte und alles. Wenn es für ihn eine Entschuldigung gibt, so kann sie höchstens darin bestehen, daß er nicht weiß, was er tut, und seinen Haß gegen Rußland für den fruchtbarsten Liberalismus hält (oh, Sie können bei uns nicht selten einen Liberalen finden, dem die übrigen Beifall klatschen, und der vielleicht in Wirklichkeit der abgeschmackteste, stumpfsinnigste und gefährlichste Konservative ist, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben!). Diesen Haß gegen Rußland hielten noch vor nicht allzu langer Zeit manche unserer Liberalen beinah für die wahre Vaterlandsliebe und rühmten sich, besser als andere Leute einzusehen, worin diese bestehen müsse; aber jetzt sind sie schon aufrichtiger geworden und haben sich sogar des Wortes ›Vaterlandsliebe‹ zu schämen angefangen, ja sogar den Begriff als einen nichtigen und schädlichen ausgemerzt und entfernt. Das ist eine sichere Tatsache, die ich verbürgen kann ... es muß doch einmal die Wahrheit vollständig, schlicht und aufrichtig ausgesprochen werden. Ein solches Verhalten des Liberalismus ist aber seit Menschengedenken nie und bei keinem Volk vorgekommen, und es mag daher etwas Zufälliges sein und vielleicht vorübergehen, das will ich zugeben. Ein Liberaler, der einen Haß auf sein eigenes Vaterland hätte, ist in keinem andern Land möglich. Wodurch läßt sich nun diese Erscheinung bei uns erklären? Durch denselben Gedanken, den ich schon vorhin aussprach: dadurch, daß der Liberale in Rußland vorläufig noch nicht ein russischer Liberaler ist; meiner Ansicht nach ist das die einzig mögliche Erklärung.«

»Ich fasse alles, was du gesagt hast, als Scherz auf, Jewgeni Pawlowitsch«, bemerkte Fürst Schtsch. in ernstem Ton.

»Ich habe nicht alle Liberalen kennengelernt und erlaube mir daher kein Urteil«, sagte Alexandra Iwanowna. »Aber ich bin über Ihre Darlegung ganz empört; Sie haben einen vereinzelten Fall genommen und eine allgemeine Regel daraus gemacht; Sie haben folglich verleumdet.«

»Einen vereinzelten Fall? Ah, ah! Das ist ein wichtiger Ausdruck, den Sie da gebraucht haben!« versetzte Jewgeni Pawlowitsch. »Wie denken Sie darüber, Fürst? Ist es ein vereinzelter Fall oder nicht?«

»Ich muß ebenfalls bekennen, daß ich nur wenige Liberale kennengelernt und nur wenig mit ihnen verkehrt habe«, antwortete der Fürst. »Aber es scheint mir, daß Sie vielleicht bis zu einem gewissen Grade recht haben, und daß dieser russische Liberalismus, von dem Sie gesprochen haben, tatsächlich teilweise dazu neigt, Rußland selbst zu hassen und nicht nur dessen Einrichtungen. Natürlich wird das nur teilweise zutreffen und kann gerechterweise nicht von allen Liberalen gesagt werden.«

Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine scherzhafte Erwiderung von seiten des andern befürchtete, spiegelten sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgeni Pawlowitsch sich sonst immer nur mit einem besonderen Lächeln an ihn wendete, so blickte er ihn jetzt bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort von ihm in keiner Weise erwartet hätte.

»So ...! aber das ist doch seltsam«, sagte er. »War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?«

»Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?« erwiderte dieser erstaunt.

Alle lachten.

»Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgeni Pawlowitsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!«

»Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir wollten doch spazierengehen ...«

»Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!« rief Jewgeni Pawlowitsch. »Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe, und namentlich um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch nicht, wiewohl ich wirklich oberflächlich bin!), zu diesem Zweck, meine Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl, Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie mir beantwortet; aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war soeben von einem ›vereinzelten Fall‹ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen Mord, den ein junger Mann an sechs Menschen begangen hatte, und von der seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hatte, dem Verbrecher habe bei seinen ärmlichen Verhältnissen ›naturgemäß‹ der Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden. Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken ausgesprochen zu haben, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?«

Alle lachten.

»Ein vereinzelter Fall; selbstverständlich ein vereinzelter Fall!« riefen Alexandra und Adelaida lachend.

»Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgeni Pawlowitsch«, fügte Fürst Schtsch. hinzu, »daß dein Scherz schon sehr abgenutzt ist.«

»Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte, ohne darauf hinzuhören, Jewgeni Pawlowitsch, welcher wahrnahm, daß ihn Fürst Ljow Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. »Was meinen Sie: war das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.«

 

»Nein, das war kein vereinzelter Fall«, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme.

»Aber ich bitte Sie, Ljow Nikolajewitsch«, rief Fürst Schtsch. ein wenig ärgerlich; »sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt? Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig zu machen.«

»Ich glaubte, Jewgeni Pawlowitsch spräche im Ernst«, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder.

»Lieber Fürst«, fuhr Fürst Schtsch. fort, »denken Sie doch an ein Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen namentlich darüber, daß sich bei unseren jungen, neu eröffneten Gerichten bereits so viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger finden. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut, und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut ...! Wir sagten, daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein ... Aber diese ungeschickte Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.«

Fürst Ljow Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete aber dann mit der Stimme festester Überzeugung, wenn auch leise und gewissermaßen schüchtern: »Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgeni Pawlowitsch ausdrückte) sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Dermaßen, daß, wenn diese Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese ...«

»Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns, sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen zu reden und sogar zu schreiben; daher gewinnt es nun den Anschein, als seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, das versichere ich Ihnen«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd.

»Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch furchtbarere Verbrecher als jener junge Mann, Verbrecher, von denen ein jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne nachher irgendwelche Reue zu verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist, das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt hat, wiewohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber diejenigen, von denen Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hat, wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und ... hätten sogar gut gehandelt; das heißt, ungefähr so denken sie. Darin besteht meiner Ansicht nach der furchtbare Unterschied. Und beachten Sie, daß das lauter junge Leute sind, das heißt Leute in demjenigen Lebensalter, in welchem man am leichtesten und schutzlosesten einer Verdrehung der Anschauungen anheimfallen kann.«

Fürst Schtsch. lachte nicht mehr und hörte dem Fürsten erstaunt zu. Alexandra Iwanowna, die schon lange etwas hatte sagen wollen, schwieg dennoch, wie wenn ein besonderer Gedanke sie vom Reden zurückhielte. Jewgeni Pawlowitsch aber sah den Fürsten mit unverhohlener Verwunderung und jetzt ohne eine Spur von Lächeln an. »Aber warum wundern Sie sich denn so über ihn, mein Herr?« mischte sich Lisaweta Prokofjewna unerwartet in das Gespräch. »Ist er etwa dümmer als Sie, weil sein Urteil von dem Ihrigen abweicht?«

»Nein, so etwas denke ich nicht«, erwiderte Jewgeni Pawlowitsch. »Aber wie geht es denn zu, Fürst (entschuldigen Sie die Frage!), wenn Sie das alles so scharf beobachten und erkennen, wie geht es denn zu, daß Sie (ich bitte nochmals um Verzeihung) bei dieser sonderbaren Angelegenheit ... ich meine das, was sich vor einigen Tagen begab ... bei der Angelegenheit dieses Herrn, Burdowski heißt er ja wohl ..., wie geht es denn zu, daß Sie da die ganz gleiche Verdrehung der Ideen und moralischen Anschauungen nicht bemerkten? Es war ja doch ganz genau dasselbe! Ich hatte damals den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht bemerkt hätten.«

»Ja, sehen Sie mal, lieber Freund«, ereiferte sich Lisaweta Prokofjewna, »wir haben es damals alle bemerkt, und nun sitzen wir hier und brüsten uns damit vor ihm; aber er, er hat heute von einem dieser Leute einen Brief erhalten, von der eigentlichen Hauptperson, von dem mit den Pickeln im Gesicht, erinnerst du dich, Alexandra? In dem Brief bittet er ihn um Verzeihung, wenn auch so auf seine Art, und teilt ihm mit, daß er sich von jenem Kameraden, der ihn damals aufgehetzt hatte, losgesagt habe; du erinnerst dich wohl an den Menschen, Alexandra? Und er glaube dem Fürsten jetzt mehr als jenem. Na, aber wir haben einen solchen Brief noch nicht erhalten, obgleich wir uns hier dem Fürsten gegenüber so hochnäsig benehmen.«

»Und Ippolit ist auch jetzt eben zum Fürsten in das Landhaus gezogen!« rief Kolja.

»Wie? Ist er schon hier?« fragte der Fürst aufgeregt.

»Gleich nachdem Sie mit Lisaweta Prokofjewna weggegangen waren, ist er eingetroffen; ich hatte ihn hertransportiert!«

»Na, da möchte ich darauf wetten«, fuhr Lisaweta Prokofjewna heftig auf, die ganz vergaß, daß sie den Fürsten einen Augenblick vorher gelobt hatte, »da möchte ich darauf wetten, daß er gestern zu ihm hingefahren ist nach seiner Dachkammer und ihn kniefällig um Verzeihung gebeten hat, damit diese boshafte Kanaille sich herablassen möchte, hierher überzusiedeln. Bist du gestern zu ihm hingefahren? Du hast ja neulich selbst bekannt, daß du es tun wolltest. Ja oder nein? Bist du vor ihm auf die Knie gefallen oder nicht?«

»Auf die Knie ist er ganz und gar nicht gefallen«, rief Kolja. »Ganz im Gegenteil: Ippolit hat gestern die Hand des Fürsten ergriffen und zweimal geküßt; das habe ich selbst gesehen; und damit endete die ganze Aussprache; der Fürst sagte nur noch ganz einfach, Ippolit werde sich in der Sommerfrische wohler fühlen, und der war sofort damit einverstanden überzusiedeln, sobald es ihm nur ein wenig besser gehen werde.«

»Sie hätten das nicht sagen sollen, Kolja ...«, murmelte der Fürst, indem er aufstand und nach seinem Hut griff.

»Warum erzählen Sie das? Ich ...«

»Wohin willst du denn?« hielt ihn Lisaweta Prokofjewna zurück.

»Lassen Sie sich hier nicht stören, Fürst!« fuhr Kolja in seinem Feuereifer fort. »Gehen Sie nicht zu ihm hin, und beunruhigen Sie ihn nicht; er ist, von der Fahrt ermüdet, eingeschlafen; er freut sich sehr; und wissen Sie, Fürst, meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie ihn jetzt nicht aufsuchen. Verschieben Sie es lieber auf morgen; sonst wird er wieder verlegen. Er hat heute vormittag zu mir gesagt, er habe sich schon seit einem halben Jahr nicht so wohl und kräftig gefühlt; er hustet sogar weit weniger.«