Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts weiter hinzu; aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna, die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war, wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und schien erst jetzt Jewgeni Pawlowitsch zu bemerken.

»Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet ... Ich dachte ja, du wärst dort ... bei deinem Onkel!«

Jewgeni Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab.

»Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt; aber jetzt weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere aber sagen: fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch eine große Erbschaft hinterlassen werde; aber er hat alles durchgebracht. Ja, ja, der alte Mann führte ein ausschweifendes Leben ... Nun, lebe wohl, bonne chance! Also du fährst wirklich nicht hin? Da hast du ja noch glücklich zur rechten Zeit den Abschied genommen, du Schlaukopf! Ach, Unsinn, du hast es ja gewußt, hast es vorher gewußt: vielleicht wußtest du es schon gestern ...«

Obgleich hinter dieser dreisten Zudringlichkeit und der öffentlichen Behauptung einer gar nicht existierenden Bekanntschaft und Intimität unbedingt eine besondere Absicht steckte und daran jetzt kein Zweifel mehr möglich war, so hatte Jewgeni Pawlowitsch doch zunächst noch geglaubt, er könne davonkommen, wenn er die Beleidigerin gar nicht beachte. Aber Nastasja Filippownas Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag; als er von dem Tod seines Onkels hörte, wurde er kreidebleich und wandte sich zu der Überbringerin dieser Nachricht hin. In diesem Augenblick erhob sich Lisaweta Prokofjewna schnell von ihrem Platz, winkte allen, ihr zu folgen, und entfernte sich fast laufend. Nur Fürst Ljow Nikolajewitsch blieb noch einen Moment anscheinend unentschlossen auf seinem Platz, und Jewgeni Pawlowitsch stand immer noch wie besinnungslos da. Aber die Familie Jepantschin hatte sich noch nicht zwanzig Schritte entfernt, als sich eine furchtbare Skandalszene abspielte. Der mit Jewgeni Pawlowitsch gut befreundete Offizier, der sich mit Aglaja unterhalten hatte, war im höchsten Grad empört.

»Da müßte man einfach eine Reitpeitsche nehmen; auf andere Art wird man mit diesem Geschöpf nicht fertig!« sagte er ziemlich laut. (Wie es schien, war er auch früher schon Jewgeni Pawlowitschs Vertrauter gewesen.)

Nastasja Filippowna wandte sich augenblicklich zu ihm um. Ihre Augen funkelten; sie stürzte auf einen ihr ganz unbekannten jungen Mann los, der zwei Schritte von ihr entfernt stand und ein dünnes geflochtenes Spazierstöckchen in der Hand hatte, entriß es ihm und versetzte ihrem Beleidiger damit aus aller Kraft einen Schlag quer ins Gesicht. All dies vollzog sich in einer Sekunde ... Der Offizier, vor Wut außer sich, stürzte sich auf sie; ihr Gefolge hatte Nastasja Filippowna nicht mehr um sich; der anständige Herr in mittleren Jahren war bereits völlig verschwunden, und der angeheiterte Herr stand ein wenig abseits und lachte aus Leibeskräften. Eine Minute darauf wäre natürlich die Polizei erschienen; aber während dieser Minute wäre es Nastasja Filippowna schlimm ergangen, wenn ihr nicht eine unerwartete Hilfe gekommen wäre: der Fürst, der ebenfalls zwei Schritte davon entfernt stand, vermochte noch gerade den Offizier von hinten an den Armen zu fassen. Seinen Arm losreißend, versetzte ihm der Offizier einen starken Stoß gegen die Brust; der Fürst flog etwa drei Schritte zurück und fiel auf einen Stuhl. Aber nun erschienen bei Nastasja Filippowna bereits zwei Beschützer. Vor dem heranstürmenden Offizier stand der Boxer, der Verfasser jenes dem Leser bekannten Schmähartikels und aktives Mitglied der früheren Rogoschinschen Bande.

»Keller! Leutnant a.D.«, stellte er sich in affektiert forscher Weise vor. »Wenn Ihnen ein Faustkampf gefällig ist, Hauptmann, so stehe ich als Vertreter des schwachen Geschlechts zu Ihren Diensten; ich verstehe mich vorzüglich auf die englische Boxkunst. Nehmen Sie es nicht übel, Hauptmann; ich bedaure die Ihnen angetane ›blutige‹ Beleidigung; aber ich kann nicht zugeben, daß jemand gegen eine Frau vor den Augen des Publikums vom Faustrecht Gebrauch macht. Wenn Sie aber, wie es sich für einen anständigen Mann schickt, die Sache in anderer Form zu erledigen wünschen, so ... Sie werden mich selbstverständlich verstehen, Hauptmann ...«

Aber der Hauptmann war schon zur Besinnung gekommen und hörte nicht mehr auf ihn. In diesem Augenblick tauchte Rogoschin aus der Menge auf, reichte Nastasja Filippowna schnell den Arm und zog sie hinter sich her davon. Rogoschin selbst schien furchtbar aufgeregt zu sein; er war blaß und zitterte. Während er Nastasja Filippowna wegführte, fand er noch Zeit, dem Offizier höhnisch ins Gesicht zu lachen und ihm mit triumphierender Miene zuzurufen:

»Hui! Da hast du's abbekommen! Die ganze Visage voll Blut! Hui!«

Der Offizier, der seine Fassung wiedererlangt hatte und sich darüber klar geworden war, an wen er sich zu halten hatte, wandte sich, das Gesicht mit dem Taschentuch verdeckend, höflich an den Fürsten, der bereits vom Stuhl wieder aufgestanden war:

»Sie sind Fürst Myschkin, dem ich das Vergnügen hatte vorgestellt zu werden?«

»Sie ist irrsinnig! Geisteskrank! Ich versichere Ihnen!« antwortete der Fürst mit zitternder Stimme und streckte ihm aus irgendeinem Grund seine zitternden Hände entgegen.

»Ich kann mich natürlich solcher Kenntnisse nicht rühmen; aber ich muß Ihren Namen wissen.«

Er nickte ihm zu und ging weg. Die Polizei erschien genau fünf Sekunden, nachdem die letzten beteiligten Personen verschwunden waren. Übrigens hatte die ganze Szene nicht länger als zwei Minuten gedauert. Einige aus dem Publikum hatten sich von ihren Stühlen erhoben und waren weggegangen; andere hatten sich nur von dem bisherigen Platz auf einen andern gesetzt; wieder andere freuten sich gewaltig über den Skandal; andere endlich begannen eifrig und mit lebhaftem Interesse darüber zu sprechen. Die Musikkapelle fing wieder an zu spielen. Der Fürst folgte den Jepantschins nach. Wenn er darauf verfallen wäre oder Zeit gehabt hätte, nach links zu blicken, als er infolge des Stoßes auf den Stuhl gefallen war, so hätte er zwanzig Schritte von ihm entfernt Aglaja erblickt, die stehengeblieben war, um die Skandalszene mitanzusehen, und nicht auf die Rufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern hörte, welche schon weitergegangen waren. Fürst Schtsch., der zu ihr gelaufen kam, überredete sie endlich, schneller wegzugehen. Lisaweta Prokofjewna erinnerte sich später, daß Aglaja zu ihnen in einer solchen Aufregung zurückkam, daß sie ihre Rufe wohl kaum gehört haben mochte. Aber zwei Minuten darauf, als sie eben in den Park eingetreten waren, sagte Aglaja in ihrem gewöhnlichen, gleichgültigen, launischen Ton:

»Ich wollte nur ansehen, wie die Komödie endete.«

III

Der Vorfall auf dem Bahnhof hatte die Mutter und die Töchter arg erschreckt. In ihrer Unruhe und Aufregung legten Lisaweta Prokofjewna und die Töchter den ganzen Weg vom Bahnhof nach ihrem Haus geradezu laufend zurück. Nach der Ansicht und Auffassung der Mutter war der Vorfall doch sehr bedeutsam und es hatte sich bei ihm doch gar manches entschleiert, so daß in ihrem Kopf, trotz aller Verwirrung und Angst, sich bereits bestimmte Gedanken gestalteten. Aber auch die andern begriffen, daß da etwas Besonderes vorgegangen war, und daß sich, vielleicht zum Glück, irgendein großes Geheimnis zu enthüllen begann. Trotz der früheren Behauptungen und Versicherungen des Fürsten Schtsch. war Jewgeni Pawlowitsch jetzt entlarvt und seiner Beziehungen zu diesem Geschöpf in aller Form überführt. So dachten Lisaweta Prokofjewna und auch ihre beiden ältesten Töchter. Aber der Gewinn aus dieser Schlußfolgerung bestand lediglich darin, daß die Rätsel sich noch mehr häuften. Die beiden ältesten Mädchen waren zwar im stillen etwas ungehalten darüber, daß ihre Mama sich so übermäßig geängstigt hatte und so offensichtlich davongelaufen war; aber sie mochten sie in der ersten Zeit des Wirrwarrs nicht mit Fragen belästigen. Außerdem hatten sie aus irgendeinem Grund den Eindruck, daß ihre Schwester Aglaja vielleicht von dieser Sache mehr wisse als sie beide und die Mama. Fürst Schtsch. machte ein Gesicht finster wie die Nacht und war ebenfalls sehr nachdenklich. Lisaweta Prokofjewna sprach mit ihm auf dem ganzen Weg kein Wort; aber er schien das gar nicht zu beachten. Adelaida versuchte, ihn zu fragen: »Von was für einem Onkel war denn da eben die Rede, und was ist denn eigentlich in Petersburg passiert?« Aber er gab ihr mit sehr saurer Miene murmelnd eine recht unbestimmte Antwort von irgendwelchen Erkundigungen, die er anstellen wolle, und das sei natürlich alles Unsinn. »Daran ist kein Zweifel«, antwortete Adelaida und fragte nicht weiter. Aglaja dagegen war auffallend ruhig und bemerkte unterwegs nur, sie liefen doch gar zu schnell. Einmal wandte sie sich um und erblickte den Fürsten, der ihnen nacheilte. Als sie wahrnahm, wie er sich anstrengte, um sie einzuholen, lächelte sie spöttisch und sah sich seitdem nicht mehr um.

Endlich, als sie schon ganz nahe bei ihrem Landhaus waren, kam ihnen Iwan Fjodorowitsch entgegen, der soeben aus Petersburg zurückgekommen war. Er erkundigte sich sogleich bei den ersten Worten nach Jewgeni Pawlowitsch. Aber seine Gattin ging mit drohender Miene an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten und ohne ihn auch nur anzusehen. An den Augen seiner Töchter und des Fürsten Schtsch. erkannte er sogleich, daß es in seiner Familie gewitterte. Aber auch ohne das prägte sich auf seinem eigenen Gesicht eine ungewöhnliche Unruhe aus. Er faßte den Fürsten Schtsch. sogleich unter, hielt ihn am Hauseingang zurück und wechselte fast flüsternd einige Worte mit ihm. An den aufgeregten Mienen beider, als sie dann in die Veranda kamen und durch diese hindurch sich zu Lisaweta Prokofjewna begaben, konnte man merken, daß sie beide eine außerordentliche Nachricht erhalten hatten. Allmählich fanden sich alle oben bei Lisaweta Prokofjewna zusammen, und in der Veranda blieb schließlich nur der Fürst zurück. Er saß in einer Ecke, wie wenn er auf etwas wartete, ohne jedoch selbst zu wissen, warum; angesichts der im Hause herrschenden Unruhe wegzugehen, das kam ihm gar nicht in den Sinn; es schien, als habe er die ganze Welt vergessen und sei bereit, selbst zwei Jahre hintereinander da zu sitzen, wo man ihn hinsetzen würde. Von oben hörte er mitunter einzelne Laute eines aufgeregten Gesprächs. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er da schon so gesessen hatte. Es war spät geworden und schon ganz dunkel. Auf einmal kam Aglaja nach der Veranda heraus; sie war äußerlich ruhig, wiewohl etwas blaß. Als sie den Fürsten erblickte, den sie anscheinend nicht erwartet hatte hier in der Ecke auf einem Stuhl zu treffen, lächelte sie wie erstaunt.

 

»Was machen Sie denn hier?« fragte sie, an ihn herantretend.

Der Fürst murmelte verlegen eine Antwort und sprang vom Stuhl auf; aber Aglaja setzte sich sogleich neben ihn, und so ließ auch er sich wieder nieder. Sie blickte ihn aufmerksam an; dann sah sie wie gedankenlos durch das Fenster, dann wieder nach ihm hin. »Vielleicht will sie sich über mich lustig machen«, dachte der Fürst; »aber nein, dann hätte sie es ja schon getan.«

»Vielleicht möchten Sie Tee trinken; dann werde ich welchen bringen lassen«, sagte sie nach einigem Schweigen.

»N-nein. Ich weiß nicht ...«

»Aber wie kann man denn so etwas nicht wissen? Ach ja, hören Sie: wenn Sie jemand zum Duell forderte, was würden Sie dann machen? Ich wollte Sie schon vorhin danach fragen.«

»Aber ... wer sollte das tun ...? Es fordert mich ja niemand zum Duell.«

»Nun, aber wenn Sie gefordert würden? Würden Sie große Angst haben?«

»Ich glaube, ich würde mich sehr ... fürchten.«

»Im Ernst? Also sind Sie feige?«

»N-nein; das vielleicht nicht. Feige ist derjenige, der sich fürchtet und davonläuft; aber wer sich fürchtet und nicht davonläuft, der braucht noch nicht feige zu sein«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lächelnd.

»Und Sie würden nicht weglaufen?«

»Vielleicht würde ich das nicht tun«, antwortete er, schließlich auflachend, auf Aglajas Fragen.

»Ich bin zwar ein Weib; aber ich würde unter keinen Umständen weglaufen«, bemerkte sie empfindlich.

»Aber Sie machen sich über mich lustig und reden nach Ihrer Gewohnheit wunderliches Zeug, um sich interessant zu machen. Sagen Sie mal: die Duellanten schießen ja wohl gewöhnlich auf zwölf Schritte, manche auch auf zehn Schritte; also wird man sicher erschossen oder verwundet?«

»Beim Duell fällt wohl selten jemand.«

»Selten? Puschkin wurde doch im Duell erschossen.«

»Das war vielleicht ein Zufall.«

»Ganz und gar kein Zufall; es war ein Duell auf Leben und Tod, und da wurde er erschossen.«

»Die Kugel traf ihn so weit unten, daß man annehmen muß, d'Antès habe auf eine höhere Körperstelle gezielt, auf die Brust oder auf den Kopf. So weit nach unten zielt niemand; somit hat die Kugel Puschkin aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig getroffen, durch einen Fehlschuß. Das ist mir von urteilsfähigen Leuten gesagt worden.«

»Aber mir hat ein Soldat, mit dem ich einmal sprach, gesagt, sie seien, wenn sie sich in Schützenschwärme auflösten, durch das Reglement ausdrücklich angewiesen, auf die Mitte des Menschen zu zielen; so lautet der Ausdruck bei ihnen. Also die werden angewiesen, nicht nach der Brust oder nach dem Kopf, sondern absichtlich nach der Mitte des Körpers zu schießen. Ich fragte später einen Offizier danach, und der sagte mir, daß es sich genau so verhalte.«

»Das ist gewiß so angeordnet, weil da auf weite Entfernung geschossen wird.«

»Können Sie schießen?«

»Ich habe noch nie geschossen.«

»Können Sie wirklich nicht einmal eine Pistole laden?«

»Nein, das kann ich nicht. Das heißt, ich weiß, wie es gemacht wird; aber ich habe noch nie selbst eine geladen.«

»Nun, dann können Sie es auch nicht; denn dazu gehört praktische Erfahrung! Hören Sie mal zu, und prägen Sie es sich gut ein: erstens kaufen Sie sich gutes Pistolenpulver, nicht feuchtes (es darf nicht feucht sein, sage ich; es muß ganz trocken sein), recht feines; solches müssen Sie gleich fordern, nicht solches, mit dem man aus Kanonen schießt. Die Kugel gießt man sich irgendwie selbst. Haben Sie Pistolen?«

»Nein, ich brauche auch keine«, versetzte der Fürst lachend.

»Ach, dummes Zeug! Kaufen Sie sich unter allen Umständen eine: eine gute französische oder englische; das sind die besten, sage ich Ihnen. Dann nehmen Sie Pulver, etwa einen Fingerhut voll oder vielleicht zwei, und schütten Sie es hinein! Lieber ein bißchen mehr. Drücken Sie es mit Filz fest (Filz ist ungedingt nötig, sage ich Ihnen); den können Sie sich leicht irgendwoher beschaffen, von einer Matratze; auch die Türen werden manchmal mit Filz beschlagen. Dann, wenn Sie den Filz hineingesteckt haben, legen Sie die Kugel darauf; hören Sie wohl: die Kugel nachher, das Pulver zuerst; sonst schießt es nicht. Warum lachen Sie? Ich will, daß Sie täglich ein paarmal schießen und unbedingt ein Ziel treffen lernen. Werden Sie das auch tun?«

Der Fürst lachte; Aglaja stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Ihre ernste Miene bei einem solchen Gespräch setzte den Fürsten einigermaßen in Erstaunen. Er hatte die unklare Empfindung, daß er hier etwas in Erfahrung bringen, nach etwas fragen müsse, und zwar jedenfalls nach etwas Ernsthafterem, als es das Laden einer Pistole war. Aber all das war ihm aus dem Sinn entschwunden, und er fühlte nur das eine, daß sie vor ihm saß und er sie ansah; worüber sie redete, das war ihm in diesem Augenblick so gut wie gleichgültig.

Endlich kam Iwan Fjodorowitsch selbst von oben nach der Veranda herunter; er hatte noch einen Gang vor; seine Miene war finster und sorgenvoll, zeigte aber feste Entschlossenheit.

»Ah, Ljow Nikolajewitsch, du bist hier ... Wo willst du denn jetzt hin?« fragte er, obwohl dieser gar nicht daran dachte, sich von seinem Platz zu rühren. »Komm mit, ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

»Auf Wiedersehen!« sagte Aglaja und reichte dem Fürsten die Hand.

In der Veranda war es schon recht dunkel, und der Fürst konnte jetzt ihren Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen. Gleich darauf, als er bereits mit dem General das Landhaus verließ, errötete er plötzlich stark und preßte seine rechte Hand fest zusammen.

Es stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch mit ihm den gleichen Weg hatte; der General ging trotz der späten Stunde noch eilig aus, um sich mit jemand über etwas zu besprechen. Zunächst aber begann er jetzt mit dem Fürsten zu reden, hastig, aufgeregt, unzusammenhängend, und tat in dem, was er sagte, häufig Lisaweta Prokofjewnas Erwähnung. Hätte der Fürst in diesem Augenblick aufmerksamer sein können, so würde er vielleicht gemerkt haben, daß Iwan Fjodorowitsch unter anderm auch von ihm etwas herauszubringen oder, richtiger ausgedrückt, ihn offen und gerade nach etwas zu fragen wünschte, es aber immer nicht fertigbrachte, den Hauptpunkt zu berühren. Zu seiner Schande war aber der Fürst in dem Grade zerstreut, daß er gleich von vornherein nichts hörte und, als der General mit einer eifrigen Frage vor ihm stehenblieb, genötigt war zu bekennen, daß er nichts verstanden habe.

Der General zuckte mit den Achseln.

»Was seid ihr alle für sonderbare Menschen geworden«, begann er dann von neuem. »Ich sage dir, ich begreife gar nicht, was Lisaweta Prokofjewna sich für Gedanken macht, und warum sie sich so aufregt. Sie ist furchtbar nervös und weint und sagt, wir seien beschimpft und an den Pranger gestellt worden. Wer hätte das getan? Wie? Wodurch? Wann und warum? Ich gestehe, daß ich einen Teil der Schuld trage (das gebe ich zu), einen großen Teil der Schuld; aber den hinterlistigen Anfällen dieses ... dieses unruhigen Weibes (obendrein ist auch ihre Aufführung schlecht) muß schließlich durch die Polizei ein Ende gemacht werden, und ich beabsichtige gleich heute, mich zu diesem Zweck mit jemand zu besprechen und der Sache einen Riegel vorzuschieben. Man kann all dergleichen im stillen, im guten, sogar in freundlicher Weise, durch gute Bekannte und ohne alles Aufsehen abmachen. Ich gebe auch zu, daß die Zukunft noch manche Überraschungen in ihrem Schoß birgt, und daß vieles noch unaufgeklärt ist; es steckt da eine Intrige dahinter; aber wenn man hier nichts weiß und dort nichts zu erklären vermag, und wenn ich nichts gehört habe und du nichts gehört hast und jener nichts gehört hat und ein vierter ebenfalls nichts gehört hat: wer hat denn schließlich etwas davon gehört, frage ich dich? Wie soll man das deiner Ansicht nach erklären, wenn man nicht sagen will, die Sache sei zur Hälfte eine Luftspiegelung, etwas nicht Existierendes, in der Art wie das Mondlicht oder andere Visionen?«

»Sie ist geisteskrank«, murmelte der Fürst, der sich plötzlich mit Schmerz an den ganzen Vorfall von vorhin erinnerte.

»Das habe ich auch geglaubt, wenn du damit dieses Weib meinst. Auch mir war dieser Gedanke gekommen, und ich konnte infolgedessen ruhig schlafen. Aber jetzt sehe ich, daß sie doch sehr folgerichtig denkt, und glaube nicht mehr an ihre Geisteskrankheit. Sie ist allerdings ein zanklustiges Weib, dabei aber scharfsinnig und ganz und gar nicht verrückt. Ihre heutigen scharfen Bemerkungen über Kapiton Alexejewitsch beweisen das deutlich. Es liegt ihrerseits ein gaunerisches, das heißt zumindestens ein jesuitisches Verfahren vor, bei dem sie bestimmte Ziele verfolgt.«

»Was ist das für ein Kapiton Alexejewitsch?«

»Ach, mein Gott, Ljow Nikolajewitsch, du hörst ja gar nicht zu! Ich habe ja damit angefangen, dir von Kapiton Alexejewitsch zu erzählen; ich bin so erschüttert, daß mir noch jetzt Arme und Beine zittern. Darum bin ich ja auch heute so lange in der Stadt geblieben. Es handelt sich um Kapiton Alexejewitsch Radomski, den Onkel Jewgeni Pawlowitschs.«

»Nun, was ist mit ihm?« rief der Fürst.

»Er hat sich erschossen, heute morgen um sieben Uhr. Ein allgemein geachteter Greis, siebzigjährig, ein Epikureer. Und ganz wie sie gesagt hat: es fehlen Staatsgelder, eine bedeutende Summe!«

»Woher hat sie denn ...«

»Woher sie das erfahren hat? Haha! Es hat sich ja um sie schon ein ganzer Stab gebildet, sowie sie nur hier erschienen ist. Weißt du nicht, was für Leute sie jetzt besuchen und sich um ›die Ehre ihrer Bekanntschaft‹ bemühen? Sie konnte das heute auf die einfachste Weise von Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, erfahren; denn jetzt weiß es schon ganz Petersburg und hier halb Pawlowsk oder auch schon ganz Pawlowsk. Aber wie fein war ihre Bemerkung über die Uniform (sie ist mir wiedererzählt worden), das heißt in bezug darauf, daß Jewgeni Pawlowitsch rechtzeitig den Abschied genommen habe! Das war eine teuflische Anspielung! Nein, das weist nicht auf Geisteskrankheit hin. Ich kann natürlich nicht glauben, daß Jewgeni Pawlowitsch von der Katastrophe etwas im voraus hätte wissen können, das heißt, daß am soundsovielten, um sieben Uhr morgens und so weiter. Aber er konnte all das wenigstens ahnen. Und ich und wir alle, auch Fürst Schtsch., rechneten darauf, daß der Onkel ihm noch eine hübsche Erbschaft hinterlassen werde! Es ist furchtbar! Geradezu furchtbar! Versteh mich übrigens recht: ich spreche gegen Jewgeni Pawlowitsch keinerlei Beschuldigung aus und beeile mich, dir das ausdrücklich zu erklären; aber verdächtig ist die Sache trotz alledem. Fürst Schtsch. ist tief erschüttert. Alles ist so überraschend hereingebrochen.«

»Aber was ist denn an Jewgeni Pawlowitschs Benehmen verdächtig?«

»Gar nichts! Er hat sich in durchaus anständiger Weise benommen. Ich habe ja auch nichts Derartiges angedeutet. Sein eigenes Vermögen, denke ich, ist unversehrt. Lisaweta Prokofjewna will davon natürlich nichts hören ... Aber die Hauptsache sind all diese Familienszenen oder, richtiger gesagt, all diese Zänkereien, man weiß gar nicht, wie man es nennen soll. Du bist ja (das kann man wahrheitsgemäß sagen) ein Freund unseres Hauses, Ljow Nikolajewitsch; nun denk dir einmal, eben kommt zur Sprache, wiewohl nicht in genauer, zuverlässiger Form, daß Jewgeni Pawlowitsch schon vor mehr als einem Monat Aglaja einen Heiratsantrag gemacht und von ihr in aller Form einen Korb erhalten hat.«

 

»Das ist nicht möglich!« rief der Fürst lebhaft.

»Aber weißt du denn vielleicht etwas darüber? Siehst du, Teuerster«, sagte der General, indem er erschrocken zusammenfuhr und auf dem Fleck wie angenagelt stehenblieb, »ich habe dir vielleicht unpassenderweise mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen; aber das ist mir so entschlüpft, weil du ... weil du ... man kann sagen, weil du ein solcher Mensch bist. Vielleicht weißt du irgend etwas Besonderes?«

»Ich weiß nichts ... von Jewgeni Pawlowitsch«, murmelte der Fürst.

»Auch ich weiß nichts! Mich ... mich, lieber Freund, behandeln alle geradezu, als ob ich schon tot und begraben wäre und von nichts mehr zu wissen brauchte, und können dabei gar nicht verstehen, daß das für einen Menschen peinlich ist, und daß ich das nicht ertragen kann. Eben habe ich da eine Szene durchgemacht, es war schrecklich! Ich rede mit dir, wie wenn du mein Sohn wärst. Die Hauptsache ist: Aglaja macht sich geradezu über ihre Mutter lustig. Daß sie anscheinend vor einem Monat Jewgeni Pawlowitsch einen Korb gegeben und daß zwischen ihnen eine ziemlich formelle Auseinandersetzung stattgefunden hat, haben uns die Schwestern als Vermutung mitgeteilt ... übrigens als bestimmte Vermutung. Aber sie ist ja ein so eigenwilliges, phantastisches Wesen, daß es gar nicht zu sagen ist! Sie besitzt die prächtigsten, glänzendsten Eigenschaften des Geistes und Herzens; gewiß, zugegeben; aber dabei ist sie launisch und spottlustig, kurz, ein reiner Kobold, und hat immer phantastische Einfälle. Über ihre Mutter hat sie sich jetzt eben lustig gemacht, ihr gerade ins Gesicht, und ebenso über ihre Schwestern und den Fürsten Schtsch. Von mir brauche ich erst gar nicht zu reden; über mich macht sie sich eigentlich fortwährend lustig; aber, weißt du, ich liebe sie doch und habe es sogar gern, daß sie sich über unsereinen lustig macht – und wie es scheint, liebt mich dieser Kobold deswegen ganz besonders, das heißt mehr, als sie alle andern liebt. Ich möchte darauf wetten, daß sie sich auch über dich schon lustig gemacht hat. Ich fand euch soeben im Gespräch begriffen, als ich von der erregten Szene, die vorher oben stattgefunden hatte, herunterkam; da saß sie mit dir zusammen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.«

Der Fürst wurde furchtbar rot und preßte seine rechte Hand zusammen; aber er schwieg.

»Mein lieber, guter Ljow Nikolajewitsch!« sagte der General auf einmal mit warmer Empfindung. »Ich ... und sogar Lisaweta Prokofjewna selbst (die übrigens wieder angefangen hat auf dich zu schimpfen und zugleich in zweiter Linie auch auf mich, ich weiß nicht weswegen eigentlich), wir lieben dich trotz alledem, wir lieben und achten dich aufrichtig, trotz aller Äußerlichkeiten. Du mußt aber selbst zugeben, lieber Freund, du mußt aber selbst zugeben: was ist das auf einmal für ein Rätsel und für ein Ärger zu hören, wie dieser kaltblütige Kobold (denn sie stand vor ihrer Mutter da mit einer Miene tiefster Verachtung für all unsere Fragen und namentlich für die meinigen, weil ich, hol's der Teufel, die Dummheit begangen hatte, Strenge herauskehren zu wollen, da ich doch das Oberhaupt der Familie bin – na, das war eben eine Dummheit), wie dieser kaltblütige Kobold auf einmal lächelnd erklärt, daß diese ›Geisteskranke‹ (so drückte sie sich aus, und es kommt mir merkwürdig vor, daß sie sich desselben Wortes bediente wie du; ›habt ihr denn das noch nicht gemerkt?‹ sagte sie), daß diese Geisteskranke ›es sich in den Kopf gesetzt hat, mich um jeden Preis mit Ljow Nikolajewitsch zu verheiraten, und zu diesem Zweck Jewgeni Pawlowitsch aus unserm Haus herausschaffen möchte‹.

Mehr sagte sie nicht; sie gab keine weiteren Erklärungen, lachte für sich, wir rissen erstaunt den Mund auf, sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Dann erzählten mir die Meinigen von der Szene, die sich vorhin zwischen ihr und dir abgespielt hat ... und ... und ... höre mal, lieber Fürst, du bist ein sehr verständiger Mensch und nicht empfindlich, das habe ich an dir wahrgenommen, aber ... werde nicht böse: sie macht sich, weiß Gott, über dich lustig. Wie ein Kind macht sie sich über andere Leute lustig, und darum sei ihr nicht böse, aber es verhält sich entschieden so. Mach dir darüber weiter keine Gedanken – sie hält dich und uns alle einfach zum Narren, aus Langeweile. Aber nun lebe wohl! Du kennst doch unsere Gesinnung? Unsere herzliche Gesinnung gegen dich? Die ist unwandelbar, für alle Zeit und in jeder Hinsicht ... aber ... ich muß jetzt hier abbiegen; auf Wiedersehen! Selten in meinem Leben habe ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt ... O weh, ist das eine Sommerfrische!«

Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße hinüber, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gesprächs mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt gehalten hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers:

»Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht.

PS Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemandem zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen erst noch eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, indem ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete.

PPSS Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.«

Der Zettel war eilig geschrieben und ohne Sorgfalt zusammengefaltet, aller Wahrscheinlichkeit nach kurz bevor Aglaja nach der Veranda herausgekommen war. In einer unsagbaren Aufregung, die mit Angst Ähnlichkeit hatte, drückte der Fürst den Zettel wieder in der Hand zusammen und sprang schnell wie ein erschreckter Dieb vom Fenster und vom Licht zurück; aber bei dieser Bewegung stieß er auf einmal heftig mit einem Herrn zusammen, der unmittelbar hinter seinen Schultern stand.

»Ich bin Ihnen gefolgt, Fürst«, sagte der Herr.

»Sie sind es, Keller?« rief der Fürst erstaunt.

»Ich möchte mit Ihnen reden, Fürst. Ich habe bei dem Jepantschinschen Landhaus auf Sie gewartet; hineingehen konnte ich natürlich nicht. Ich bin hinter Ihnen hergegangen, während Sie mit dem General gingen. Ich stehe zu Ihren Diensten, Fürst; verfügen Sie über mich nach Belieben. Ich bin bereit, für Sie jedes Opfer zu bringen und, wenn es sein muß, sogar zu sterben.«

»Aber ... weshalb denn?«

»Nun, es wird jetzt jedenfalls eine Herausforderung zum Duell erfolgen. Dieser Leutnant Molowjow ... ich kenne ihn, das heißt nicht persönlich ... er wird die Beleidigung nicht so hinnehmen. Unsereinen, das heißt mich und Rogoschin, hält er natürlich für Plebs, und vielleicht verdientermaßen; auf diese Weise fällt die Verantwortung Ihnen allein zu. Sie werden die zerbrochenen Flaschen bezahlen müssen, Fürst. Er hat sich, wie ich gehört habe, nach Ihnen erkundigt, und es wird sich gewiß morgen einer seiner Freunde bei Ihnen einstellen; vielleicht wartet er auch jetzt schon auf Sie. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich zu Ihrem Sekundanten zu erwählen, so bin ich bereit, Gut und Blut für Sie zu opfern; darum habe ich Sie aufgesucht, Fürst.«