Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Aber ich bitte sehr, mit Vergnügen; ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen zu reden, auch wenn es sich nicht um besondere Eröffnungen handelt; und für Ihre liebenswürdigen Worte über unsere freundschaftlichen Beziehungen danke ich Ihnen herzlich. Sie entschuldigen, daß ich heute zerstreut bin; wissen Sie, ich kann mich augenblicklich schlechterdings nicht zur Aufmerksamkeit zwingen.«

»Ich sehe, ich sehe«, murmelte Jewgeni Pawlowitsch mit einem leisen Lächeln.

Er war an diesem Abend überhaupt sehr zum Lachen aufgelegt.

»Was sehen Sie denn?« fragte der Fürst erschrocken.

»Hegen Sie denn gar keinen Verdacht, lieber Fürst«, sagte Jewgeni Pawlowitsch, immer noch lächelnd, ohne auf die direkte Frage zu antworten, »hegen Sie denn gar keinen Verdacht, daß ich einfach hergekommen bin, um Sie hinters Licht zu führen und so nebenbei etwas von Ihnen herauszubekommen, wie?«

»Daß Sie hergekommen sind, um etwas von mir herauszubekommen, daran ist kein Zweifel«, antwortete der Fürst lachend, »und vielleicht haben Sie sich auch vorgenommen, mich ein bißchen zu betrügen. Aber nur zu! Ich fürchte mich vor Ihnen nicht; und außerdem ist es mir jetzt ganz gleichgültig, sollten Sie es glauben? Und ... und ... und da ich vor allem überzeugt bin, daß Sie trotzdem ein vortrefflicher Mensch sind, so werden wir möglicherweise wirklich am Ende Freundschaft miteinander schließen. Sie haben mir sehr gefallen, Jewgeni Pawlowitsch; Sie ... sind meiner Ansicht nach ein sehr anständiger Mensch!«

»Nun, jedenfalls ist es sehr angenehm, mit Ihnen etwas zu tun zu haben, mag es sein, was es will«, schloß Jewgeni Pawlowitsch. »Kommen Sie, ich will ein Glas auf Ihre Gesundheit trinken; ich bin sehr zufrieden, daß ich mich an Sie herangemacht habe. Ah!« unterbrach er sich plötzlich. »Ist dieser Herr Ippolit vollständig zu Ihnen übergesiedelt?«

»Ja.«

»Ich meine, er wird nicht so bald sterben.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Ich denke es mir so; ich habe hier eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbracht ...«

Ippolit wartete diese ganze Zeit über auf den Fürsten und blickte ununterbrochen nach ihm und Jewgeni Pawlowitsch hin, während die beiden abseits standen und miteinander redeten. Er zeigte eine krankhafte Lebhaftigkeit, als sie an den Tisch traten. Er war unruhig und aufgeregt; der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. In seinen funkelnden Augen kam außer einer dauernden unsteten Unruhe auch eine unbestimmte Ungeduld zum Ausdruck; sein Blick irrte ziellos von einem Gegenstand zum andern, von einer Person zur andern. Er hatte sich zwar an dem gemeinsamen lärmenden Gespräch bisher stark beteiligt; aber sein Eifer hatte etwas Fieberhaftes; im Grunde wendete er dem Gespräch wenig Aufmerksamkeit zu; was er in der Debatte vorbrachte, war unzusammenhängend und klang spöttisch; mit einer gewissen Geringschätzung warf er paradoxe Bemerkungen hin; er sprach seine Gedanken nicht bis zu Ende aus und ließ ein Thema, über das er eine Minute vorher selbst mit glühendem Eifer zu sprechen begonnen hatte, schnell wieder fallen.

Der Fürst erfuhr mit Verwunderung und Bedauern, daß man ihn an diesem Abend schon zwei volle Gläser Champagner ungehindert hatte trinken lassen, und daß das vor ihm stehende angefangene Glas schon das dritte war. Aber er erfuhr dies erst nachher; augenblicklich war er nicht imstande, seine Umgebung genau zu beobachten.

»Wissen Sie, ich freue mich außerordentlich darüber, daß gerade heute Ihr Geburtstag ist!« rief Ippolit.

»Warum denn?«

»Das werden Sie bald sehen; setzen Sie sich nur schnell her! Erstens schon deswegen, weil hier alle unsere Leute zusammengekommen sind. Ich hatte darauf gerechnet, daß Leute hier sein würden; zum erstenmal in meinem Leben hat sich eine von mir angestellte Rechnung als richtig erwiesen! Aber schade, daß ich von Ihrem Geburtstag nichts gewußt habe; sonst hätte ich ein Geschenk mitgebracht ... haha! Ja, vielleicht habe ich aber wirklich eines mitgebracht! Dauert es noch lange, bis es Tag wird?«

»Bis zum Tagesanbruch dauert es nicht mehr ganz zwei Stunden«, sagte Ptizyn nach einem Blick auf die Uhr.

»Wozu braucht es jetzt erst noch Tag zu werden, wo man draußen auch ohne das lesen kann?« bemerkte jemand.

»Damit ich ein Stückchen Rand von der Sonne sehen kann. Kann man auf die Gesundheit der Sonne trinken, Fürst? Wie denken Sie darüber?«

Ippolit stellte seine Fragen in scharfem Ton und wendete sich ungeniert, wie wenn er kommandierte, an alle, schien sich aber dessen selbst nicht bewußt zu sein.

»Trinken wir darauf, meinetwegen! Nur sollten Sie sich beruhigen, Ippolit; nicht?«

»Sie reden immer von Schlafen; Sie sind meine Kinderfrau, Fürst! Sobald die Sonne erscheint und am Himmel ertönt (wer hat das doch in einem Gedicht gesagt: ›Die Sonn' ertönte schon am Himmel‹? Es ist sinnlos, aber schön!) – dann will ich mich schlafen legen. Lebedjew! Die Sonne ist ja wohl die Quelle des Lebens? Was bedeuten die ›Quellen des Lebens‹ in der Offenbarung des Johannes? Sie haben wohl von dem Wermutstern gehört, Fürst?«

»Ich habe gehört, daß Lebedjew diesen Wermutstern als das Eisenbahnnetz erklärt, das Europa überzieht.«

»Nein, erlauben Sie; das ist nicht gestattet!« schrie Lebedjew, indem er aufsprang und lebhaft mit den Armen gestikulierte, wie wenn er das allgemeine Gelächter, das sich erhob, hemmen wollte. »Erlauben Sie! Mit diesen Herren ... all diese Herren ...«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »das ist in mehreren Punkten gegen die Verabredung; hören Sie nur ...«

Und er schlug sehr ungezwungen zweimal auf den Tisch, wodurch das Gelächter noch ärger wurde.

Lebedjew befand sich nicht nur in seinem gewöhnlichen »Abendzustand«, sondern es kam diesmal auch noch hinzu, daß er durch die vorhergehende lange »gelehrte« Debatte besonders aufgeregt und gereizt war; in solchen Fällen benahm er sich gegen seine Opponenten mit grenzenloser und im höchsten Grade offenherziger Geringschätzung. »Das ist nicht gestattet! Fürst, vor einer halben Stunde haben wir eine Verabredung getroffen: es darf niemand unterbrochen werden; es darf nicht gelacht werden, solange jemand spricht; es soll jeder alles frei heraus sagen dürfen. Nachher können ja auch die Atheisten, wenn sie wollen, ihre Erwiderungen vorbringen. Wir haben den General als Vorsitzenden eingesetzt; jawohl! Denn wie würde es sonst zugehen? Man könnte jeden, der eine hohe Idee, eine tiefsinnige Idee vorbringt, konfus machen ...«

»Reden Sie doch, reden Sie doch! Niemand wird Sie stören!« riefen mehrere.

»Reden Sie; aber reden Sie nicht zu viel Unsinn!«

»Was ist das für ein Wermutstern?« erkundigte sich jemand.

»Ich habe keine Ahnung!« antwortete General Iwolgin und nahm mit wichtiger Miene den ihm vorhin zuerkannten Platz als Vorsitzender ein.

»Ich liebe all diese gereizten Debatten außerordentlich, Fürst, natürlich nur Debatten über gelehrte Themata«, murmelte unterdessen Keller, der in höchster Begeisterung und Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her rückte, »über gelehrte und politische Themata«, wandte er sich plötzlich und unerwartet an Jewgeni Pawlowitsch, der in seiner Nähe saß. »Wissen Sie, ich lese furchtbar gern in den Zeitungen die Berichte über die Sitzungen des englischen Parlaments, das heißt, mich interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie untereinander reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›Der sehr ehrenwerte Vicomte, der mir gegenüber sitzt‹, ›der sehr ehrenwerte Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes – das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich, Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das schwöre ich Ihnen, Jewgeni Pawlowitsch.«

»Und was ist nun das Resultat aus alledem?« ereiferte sich Ganja an einer andern Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?«

Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah triumphierenden Stimmung.

Mit Lebedjew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte; aber er wurde dabei bald selbst hitzig.

»Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedjew, der zu gleicher Zeit außer sich geriet und einen maßlosen Genuß empfand. »Was die Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen; sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze Richtung der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.«

»Tatsächlich verflucht, oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgeni Pawlowitsch.

»Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedjew hitzig.

»Übereilen Sie sich nicht, Lebedjew; Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd.

»Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedjew, sich mit Lebhaftigkeit zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer; und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft und der Industrie, die ihr immer von Verbänden und Arbeitslöhnen und solchen Dingen redet? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?«

 

»Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgeni Pawlowitsch.

»Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!«

»Aber der Kredit hat doch die Wirkung, die Interessen solidarisch zu machen und ins Gleichgewicht zu setzen«, bemerkte Ptizyn.

»Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendeiner sittlichen Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der allgemeine Friede, das allgemeine Glück soll durch die Befriedigung des Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?«

»Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung, daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und ›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt im Ernst hitzig geworden war.

»Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb ...«

»Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit ...«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgeni Pawlowitsch. »Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig; aber fundamental ist dieses Gesetz nicht in höherem Grade als das Gesetz des Zerstörungstriebes und vielleicht auch als das vom Trieb der Selbstzerstörung. Besteht denn etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein im Selbsterhaltungstrieb?«

»Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgeni Pawlowitsch hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja an und fragte ihn wieder, was die Uhr sei; ja, er zog sogar Koljas silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den Zeigern.

Dann streckte er sich, wie wenn er alles vergessen hätte, auf dem Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke; aber eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und hörte das Geschwätz Lebedjews mit an, der im höchsten Grade hitzig geworden war.

»Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedjew eifrig auf Jewgeni Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (wiewohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie wie Voltaire über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben; denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

»Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.

»Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedjew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht ›die Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Wachstums ...«

»Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.

»Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und industriös in der Menschheit; es gibt zu wenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein; aber das Rasseln der Lastwagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer der überall geschäftig umherreist, und geht eitel und selbstgefällig von ihm weg. Aber ich, der schändliche Lebedjew, glaube nicht an die Lastwagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Lastwagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an einer sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist ...«

»Die Lastwagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.

»Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedjew, ohne die Frage irgendwelcher Beachtung zu würdigen. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden – übrigens, um gerechterweise die Wahrheit zu sagen, genau so wie jeder von uns und wie auch ich, der Schändlichste von allen; denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz dazuträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«

»Aber um was handelt es sich denn schließlich?«

»Langweiliges Gerede!«

»Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten; denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben, wie ich es tue (denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut für dasselbe zu vergießen) ...«

»Weiter! Weiter!«

»In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Vierteljahrhundert, mit andern Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen; aber es kommt vergleichsweise selten vor.«

»Im Vergleich womit?«

»Im Vergleich mit dem zwölften Jahrhundert und den vorhergehenden und nachfolgenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«

»Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themata; aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«

»General! Denke an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.«

»Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.

»Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich ...«

»Und natürlich?«

»Und natürlich!« wiederholte Lebedjew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt – aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.«

»Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst. Bisher hatte er den Streitenden stillschweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt; oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend herging, und auch darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt; aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.

»Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Weltgeschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer vertikalen Höhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Aufstieg auf den hinaufführenden Pfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es waren ihrer damals nur wenige; wahrscheinlich starben sie in Menge Hungers, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiter bestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser gab, und vielleicht sehr viele, darin hat Lebedjew ohne Zweifel recht; nur weiß ich nicht, warum er dabei gerade von Mönchen sprach, und was er damit sagen will.«

»Er meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch.

»Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedjew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche; das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wort für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf; denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit ...«

»Übertreibung, Übertreibung, Lebedjew!« rief man um ihn her lachend.

»Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist; aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott über Lebedjew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen auch über ihn zu lachen; aber er bemerkte das nicht.)

 

»Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgeni Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zweck ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.«

»Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedjew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen Zustand und die juristische Anschauungsweise des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male im Laufe seines merkwürdigen Lebensganges den Wunsch zu bereuen bekundet und sich von der Geistlichkeit abwendet. Wir ersehen dies deutlich aus den Tatsachen: es wird erwähnt, daß er fünf oder sechs Kinder verspeist hat, eine vergleichsweise niedrige Zahl, die aber dafür in anderer Hinsicht interessant ist. Es ist klar, daß er, von furchtbaren Gewissensbissen gequält (denn mein Klient ist ein religiöser Mensch, der ein Gewissen besitzt, was ich beweisen werde), und um nach Möglichkeit seine Sünde zu verringern, versuchsweise sechsmal die mönchische Nahrung mit Laiennahrung vertauschte. Daß dies versuchsweise geschah, ist wiederum unzweifelhaft; denn wäre es nur zum Zweck gastronomischer Abwechslung geschehen, so wäre die Zahl sechs sehr gering gewesen: warum nur sechs Stück und nicht dreißig? (Ich nehme die Hälfte von der Zahl der verzehrten Mönche.) Aber wenn dies nur ein Versuch war, hervorgegangen aus angstvoller Verzweiflung über das Verbrechen der Religionsspötterei und Kirchenschändung, dann wird diese Zahl sechs sehr verständlich; denn sechs Versuche waren zur Beruhigung der Gewissensbisse ganz ausreichend, da diese Versuche unmöglich erfolgreich sein konnten. Erstens ist meiner Ansicht nach ein Kind gar zu klein, das heißt zu gering an Masse, so daß in einem bestimmten Zeitraum drei- bis fünfmal soviel Laienkinder erforderlich sein würden als Geistliche, und die Sünde, wenn sie sich auch auf der einen Seite verringerte, doch schließlich auf der andern Seite wüchse, nicht qualitativ, aber quantitativ. Bei diesen Erwägungen, meine Herren, versetze ich mich natürlich in die Seele eines Verbrechers aus dem zwölften Jahrhundert. Was mich selbst, einen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, anlangt, so würde ich darüber vielleicht anders urteilen, was ich hiermit zu Ihrer Kenntnis bringe, meine Herren, so daß Sie keinen Anlaß haben, über mich zu grinsen, und für Sie, General, schickt sich das nun schon ganz und gar nicht. Zweitens ist ein Kind meiner Ansicht nach nicht nahrhaft, vielleicht sogar von zu süßlichem, fadem Geschmack, so daß sein Genuß, ohne die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen, nur Gewissensbisse hinterläßt. Jetzt kommt nun die Schlußfolgerung, das Finale, meine Herren, das Finale, in welchem die Antwort auf eine der wichtigsten Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin, denunziert sich bei der Geistlichkeit und übergibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, die stärker war als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, die den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen ... das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen; aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen; denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt; alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, wir alle, wir alle sind ausgekocht ...! Aber genug davon; darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«

Lebedjew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner wieder mit sich. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen geschickten Advokatenkniff. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter; die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedjews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung.

»Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt.

»Ich habe einen echten Erklärer der Offenbarung des Johannes gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einen Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigori Semjonowitsch Burmistrow; der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf; na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene; selbst Generäle verbeugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß! Ein ganz tolles Benehmen!«

Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen, oder er vergaß sein Vorhaben beständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoschin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoschin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges warte und vorher nicht weggehen wolle.