Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Ja, das ist richtig«, beeilte sich Ganja einzuschieben.

»Ich muß zugeben, es ist zuviel Persönliches dabei, das heißt Dinge, die eigentlich nur auf mich Bezug haben ...«

Als Ippolit das sagte, sah er müde und erschöpft aus und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Ja, Sie interessieren sich zu sehr für sich selbst«, zischte Lebedjew.

»Meine Herren, noch einmal: ich nötige niemand; wer nicht zuhören will, kann sich entfernen.«

»Er jagt uns weg ... aus einem fremden Haus«, brummte Rogoschin kaum vernehmbar.

»Aber wie können wir denn alle auf einmal aufstehen und uns entfernen?« sagte plötzlich Ferdyschtschenko, der bis dahin nicht gewagt hatte, laut zu reden.

Ippolit schlug die Augen nieder und griff nach seinem Manuskript; aber in derselben Sekunde hob er den Kopf wieder in die Höhe und sagte mit funkelnden Augen und zwei roten Flecken auf den Backen, indem er Ferdyschtschenko gerade ins Gesicht blickte:

»Sie können mich gar nicht leiden!«

Man hörte Lachen; indes war es nicht die Mehrzahl, die lachte. Ippolit wurde dunkelrot.

»Ippolit«, sagte der Fürst, »machen Sie Ihr Manuskript zu, und geben Sie es mir, und legen Sie sich selbst hier in meinem Zimmer schlafen. Wir wollen, bevor Sie einschlafen, noch ein bißchen mit Ihnen reden und das Gespräch dann morgen fortsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Blätter nie wieder aufschlagen. Wollen Sie das tun?«

»Ist das denn möglich?« rief Ippolit, indem er ihn mit wirklicher Verwunderung anblickte. »Meine Herren«, fuhr er, wieder in fieberhafter Lebhaftigkeit, fort, »das war ein dummer Zwischenakt, in dem ich mich nicht richtig zu benehmen verstanden habe. Ich werde in der Vorlesung nicht wieder eine Unterbrechung eintreten lassen. Wer zuhören will, mag zuhören ...«

Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem dastehenden Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber ...

»Der Gedanke«, fuhr er fort zu lesen, »daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte; aber völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke meiner erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskis, ›meines Nächsten‹, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese Überzeugung habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen, warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich ›angefangen‹ zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.«

Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.

Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben anderer Menschen zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja zu Zeiten, wo ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu eine Klatschschwester geworden zu sein schien. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). Ich kannte einen armen Kerl, von dem man mir später erzählte, er sei Hungers gestorben, und ich erinnere mich, daß mich dies ganz außer mir brachte: hätte man diesen armen Menschen ins Leben zurückrufen können, so hätte ich ihn, glaube ich, hinrichten lassen. Es ging mir manchmal ganze Wochen lang besser, und ich konnte auf die Straße gehen; aber was ich auf der Straße sah, versetzte mich in eine so ärgerliche Stimmung, daß ich ganze Tage lang absichtlich im verschlossenen Zimmer saß, obgleich ich wie alle Leute hätte ausgehen können. Ich konnte dieses hin und her rennende, hastende, immer sorgenvolle, mürrische, aufgeregte Volk nicht vertragen, das auf dem Trottoir um mich herumwimmelte. Wozu ihre lebenslängliche Traurigkeit, ihre lebenslängliche Unruhe und Geschäftigkeit, ihre lebenslängliche mürrische Bosheit (denn sie sind boshaft, boshaft, boshaft). Wer ist schuld daran, daß sie unglücklich sind und nicht zu leben verstehen, obwohl jeder von ihnen sechzig Lebensjahre vor sich hat? Warum hat Sarnizyn es dahin kommen lassen, daß er Hungers starb, obgleich er sechzig Jahre vor sich hatte? Und jeder weist auf seine abgetragene Kleidung hin und auf seine zerarbeiteten Hände und erbost sich und schreit: ›Wir arbeiten wie die Ochsen und quälen uns ab; aber wir sind hungrig wie die Hunde und sind arm! Andere arbeiten nicht und quälen sich nicht ab und sind reich!‹ (Das ist der ewige Refrain!) Und mit ihnen zugleich läuft so ein unglücklicher Jammermensch ›aus besserer Familie‹ herum und rackert sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend ab; ich denke an Iwan Fomitsch Surikow, der in unserm Haus über uns wohnt; er hat immer zerrissene Ellbogen und durchgeriebene Knöpfe und macht für allerlei Leute Gänge und übernimmt Aufträge, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Läßt man sich mit ihm in ein Gespräch ein, dann bekommt man zu hören: ›Ich bin arm, geradezu ein Bettler; meine Frau ist mir gestorben; ich hatte kein Geld, um ihr Medizin zu kaufen; und im Winter ist mir ein kleines Kind erfroren; meine älteste Tochter lebt als Mätresse ...‹ So jammert und weint er fortwährend! Oh, ich habe kein Mitleid, nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen; ich habe jetzt keines und habe es auch früher nicht gehabt; das sage ich mit Stolz! Warum ist er denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperials und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift?

Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig; jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern; aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und habe tatsächlich nachts vor Wut an meinem Kopfkissen genagt und meine Bettdecke zerrissen. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich zeigen wollen ...

Was hätte ich zeigen wollen?

Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin, und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.

Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem soll ich sie wiedererzählen? Ich habe mich damals an ihnen belustigt, als ich klar sah, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; es fiel mir zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax werde gelangt sein, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe unserer Magd Matrona verboten, es aufzuheben.

Mag immerhin, wer meine ›Erklärung‹ in die Hände bekommt und die Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten, oder auch für einen Gymnasiasten, oder am wahrscheinlichsten für einen zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zu wenig zu schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag man das denken; was tut's? Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt, und daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig ist. Man frage doch nur die Menschen, worein sie alle, vom ersten bis zum letzten, das Glück setzen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus nicht glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern zu der Zeit, als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa zurückzuwenden! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich entdeckt wurde; die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, lebenslänglich damit beschäftigt ist, zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat mit den landläufigsten Redensarten eine solche Ähnlichkeit, daß man mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird, der einen Aufsatz über den Sonnenuntergang schreibt, oder sagen wird, ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht verstanden, mich auszudrücken. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei jedem genialen oder neuen Menschengedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten Menschengedanken, der in jemandes Kopf entsteht, immer ein Rest übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und lebenslänglich darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben.

 

Indessen, ich fahre fort.

VI

Ich will nicht lügen: das tätige Leben hat in diesen sechs Monaten auch nach mir seinen Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige äußere Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohne das vergessen. Auch zu Hause, das heißt in der Familie, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie nicht Lärm machten und mich dadurch störten; denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie lieb sie mich jetzt haben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt habe, werde ich wohl auch gehörig gequält haben. In der letzten Zeit hat auch er mich gepeinigt: das alles war ganz natürlich; die Menschen sind eben dazu geschaffen, einander zu peinigen. Aber ich merkte, daß er mein reizbares Wesen so ertrug, als hätte er sich von vornherein vorgenommen, mit mir als einem Kranken schonend umzugehen. Natürlich reizte mich das noch mehr; aber wie es schien, beabsichtigte er, dem Fürsten in christlicher Sanftmut nachzueifern, was ziemlich lächerlich herauskam. Er ist ein junger, heißblütiger Mensch und macht natürlich alles mögliche nach; aber es wollte mir manchmal scheinen, daß es für ihn an der Zeit sei, seinen eigenen Verstand zur Richtschnur zu nehmen. Ich habe ihn sehr gern. Ich habe auch Surikow gequält, der über uns wohnt und vom Morgen bis zum Abend herumläuft, um allerlei Aufträge auszuführen; ich suchte ihm fortwährend zu beweisen, daß er an seiner Armut selbst schuld sei, so daß er endlich ängstlich wurde und aufhörte, zu mir zu kommen. Er ist ein sehr sanftmütiger Mensch, das sanftmütigste Wesen, das man sich nur denken kann. (Notabene! Ich habe die Behauptung gehört, die Sanftmut sei eine gewaltige Kraft; ich muß den Fürsten danach fragen; es ist das sein eigener Ausdruck.) Aber als ich im März zu ihm nach oben gegangen war, um zu sehen, wie sie dort das kleine Kind nach seinem Ausdruck ›hatten erfrieren lassen‹, und, neben der Leiche des Kindes stehend, lächelte, weil ich diesem Surikow wieder zu beweisen anfing, daß er ›selbst daran schuld‹ sei, da begannen diesem Jammermenschen auf einmal die Lippen zu beben; er faßte mich mit der einen Hand an der Schulter, wies mit der andern nach der Tür und sagte leise, beinah flüsternd, zu mir: ›Gehen Sie weg!‹ Ich ging hinaus, und sein Benehmen gefiel mir sehr, gefiel mir gleich damals, gleich in dem Augenblick, als er mich hinauswies; aber seine Worte riefen nachher, wenn ich mich an sie erinnerte, lange Zeit bei mir das peinliche Gefühl eines seltsamen, geringschätzigen Mitleids mit ihm hervor, das ich eigentlich gar nicht empfinden wollte. Sogar im Augenblick einer solchen Kränkung (ich fühle ja, daß ich ihn gekränkt habe, obgleich das nicht in meiner Absicht lag), sogar in einem solchen Augenblick brachte dieser Mensch es nicht fertig, böse zu werden! Ich kann beschwören, daß seine Lippen damals nicht vor Zorn bebten, und als er mich am Arm faßte und sein prächtiges ›Gehen Sie weg!‹ sprach, da war er entschieden nicht zornig. Eine gewisse Würde lag darin, sogar viel Würde, eine Würde, die zu seinem ganzen Wesen gar nicht recht passen wollte (so daß sie, die Wahrheit zu sagen, einen recht komischen Anstrich hatte); aber Zorn lag nicht darin. Vielleicht hatte er einfach angefangen, mich zu verachten. Seit jener Zeit begann er auf einmal, als ich ihm ein paarmal auf der Treppe begegnete, vor mir den Hut abzunehmen, was er früher nie getan hatte; aber er blieb nicht mehr stehen wie früher, sondern lief verlegen an mir vorbei. Wenn er mich auch verachtete, so machte er das doch auf seine Weise: er ›verachtete mich sanftmütig‹. Vielleicht aber nahm er seinen Hut auch einfach aus Furcht ab, weil ich der Sohn seiner Gläubigerin war; denn er war meiner Mutter beständig Geld schuldig und nie imstande, sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Und das ist sogar das wahrscheinlichste. Ich hätte mich gern mit ihm ausgesprochen und weiß sicher, daß er nach zehn Minuten mich um Verzeihung gebeten hätte; aber ich war doch der Meinung, daß es das beste sei, ihn in Ruhe zu lassen.

Zu derselben Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr; ich konnte ihn nicht genauer sehen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er bei einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er ihn mir nicht streitig, warf nur einen eiligen Blick danach hin und schlüpfte vorbei. Dieser Gegenstand war eine große, lederne, altmodische, ganz vollgestopfte Brieftasche; aber ich vermutete, ich weiß nicht woher, gleich beim ersten Blick, daß alles mögliche darin sei, nur kein Geld. Der Passant, der die Brieftasche verloren hatte, ging bereits etwa vierzig Schritte vor mir, und ich verlor ihn in der Menge bald aus dem Gesicht. Ich fing an zu laufen und ihm nachzurufen; aber da ich nichts weiter rufen konnte als ›He!‹, so drehte er sich nicht um. Auf einmal bog er nach links in den Torweg eines Hauses ein. Als ich in den Torweg hineinlief, in dem es sehr dunkel war, war niemand mehr da. Das Haus war von gewaltiger Größe, eines jener Riesenbauwerke, wie sie von Spekulanten mit lauter kleinen Wohnungen errichtet werden; in manchen derartigen Häusern gibt es bis zu hundert Wohnungen. Als ich durch den Torweg lief, kam es mir so vor, als ob in dem hinten rechts befindlichen Winkel des riesigen Hofes ein Mensch ginge, wiewohl ich es in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Ich lief nach jenem Winkel hin und sah einen Eingang mit einer Treppe. Die Treppe war eng, sehr schmutzig und ganz ohne Beleuchtung; aber ich hörte, daß oben ein Mensch noch die Stufen hinaufstieg, und begann ebenfalls hinaufzusteigen, indem ich darauf rechnete, ihn einzuholen, während ihm irgendwo eine Tür werde geöffnet werden. So ähnlich kam es denn auch. Die Treppen waren zwar sehr kurz, aber sehr zahlreich, so daß ich furchtbar außer Atem kam; im fünften Stock wurde eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, das merkte ich, als ich noch drei Treppen tiefer war. Während ich hinauflief, auf dem Treppenabsatz wieder Atem schöpfte und die Klingel suchte, waren mehrere Minuten vergangen. Endlich öffnete mir eine Frau, die in einer winzigen Küche einen Samowar anblies; sie hörte schweigend meine Fragen an, verstand natürlich nichts davon und öffnete mir schweigend die Tür zu dem anstoßenden Zimmer, einem ebenfalls kleinen, furchtbar niedrigen Raum; hier standen nur die notwendigsten Möbel, und zwar von sehr schlechter Art, und ein gewaltiges, breites, mit Vorhängen versehenes Bett, auf welchem ›Terentjitsch‹ (so rief ihn die Frau) lag, wie mir schien, in betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter; auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach einer Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das folgende Zimmer.

Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; von andern Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bett quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind mit trockenen Windeln zu versehen; aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, und dieser lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.

 

Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß sie beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stand, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung selbst ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden.

Als ich eintrat, war dieser Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebens mittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen; denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war ingrimmig, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab.

Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Dieser Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunder, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber stürzte der Herr, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, mit einer wahren Wut auf mich los; aber namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.

›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.

›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)

Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹

Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trockenerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.

›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet; ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente; hier ist alles ..., oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹

Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen; aber ich selbst hatte keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr nach allen Seiten umherstürzte, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl reichte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt.

›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, in dem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendwelchem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, wie wenn er gegen seine jetzige Lage protestierte. ›Ich sehe, daß Sie ...‹

›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf.

Er sprang ebenfalls auf.

›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und ... bei Anwendung geeigneter Mittel ...‹

Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand.

›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke; ›in der vorigen Woche hat mich B...n untersucht‹ (ich brachte also wieder B...n hinein), ›und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie nur ...‹

Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen; aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, höfliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb; nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält; das sah ich.

›Wenn ich ...‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen ... ich ... Sie sehen ...‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage ...‹

›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei; das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹

›Woher ... woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt.

›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich, unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹

Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm wider fahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet; aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzköpfig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn miniert und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war, seine letzten Mittel zusammennehmend, nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör gegeben, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungsschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und ... und ... ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten; und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich ... ich ...‹