Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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X

Endlich hatte der Fürst verstanden, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte, und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte dazu entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einem schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, in deren langen Wimpern Tränen funkelten, und rief ihn wieder zu sich, und als er erwachte, erinnerte er sich wieder wie bei jenem früheren Traum an ihr Gesicht. Er wollte schon sofort zu ihr gehen; aber er vermochte es nicht; endlich, fast in Verzweiflung, entfaltete er die Briefe und begann sie zu lesen. Diese Briefe hatten ebenfalls Ähnlichkeit mit einem Traum. Manchmal träumen wir seltsame Dinge, unmögliche, unnatürliche Dinge; wenn wir aufgewacht sind, erinnern wir uns deutlich an das Geträumte und wundern uns über diese merkwürdige Tatsache. Wir erinnern uns vor allem daran, daß der Verstand während der ganzen Dauer des Traums seine Tätigkeit nicht eingestellt hat; wir erinnern uns sogar, daß wir außerordentlich listig und klug in der langen, langen Zeit verfahren sind, als uns die Mörder umringten, als sie uns zu überlisten suchten, ihre Absicht verbargen, sich gegen uns freundschaftlich benahmen, während sie doch schon die Waffe bereit hielten und nur auf ein Zeichen warteten; wir erinnern uns, wie listig wir sie endlich täuschten und uns vor ihnen versteckten; wie wir aber dann merkten, daß sie diese ganze Täuschung durchschauten und sich nur stellten, als ob sie nicht wüßten, wo wir uns versteckt hätten; wie wir sie aber von neuem listig betrogen; an all das erinnern wir uns deutlich. Aber warum konnte denn unser Verstand sich gleichzeitig mit all den augenscheinlichen Absurditäten und Unmöglichkeiten abfinden, mit denen neben andern Dingen der Traum angefüllt war? Einer der Mörder verwandelte sich vor unseren Augen in eine Frau und aus der Frau in einen kleinen, listigen, häßlichen Zwerg, und wir nahmen all dies ohne weiteres als vollendete Tatsache hin, fast ohne die geringste Verwunderung, und zwar gerade zu der Zeit, wo auf der andern Seite unser Verstand auf das angestrengteste arbeitete und eine außerordentliche Stärke, Schlauheit, Fassungskraft und Logik bewies. Und ferner, warum fühlen wir, wenn wir von einem Traum aufwachen und schon wieder ganz in die Wirklichkeit zurückkehren, fast jedesmal und manchmal mit außerordentlicher Stärke dieser Empfindung, daß wir zu gleich mit dem Traum etwas hinter uns lassen, was uns rätselhaft ist? Wir lächeln über die Absurdität unseres Traumes und fühlen gleichzeitig, daß in dem Geflecht dieser Absurditäten ein Gedanke enthalten ist, aber ein wirklicher Gedanke, etwas, was zu unserem wirklichen Leben gehört, etwas, was in unserem Herzen existiert und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der davon empfangene Eindruck ist ein starker, je nachdem ein freudiger oder peinlicher; aber worin er besteht, und was uns eigentlich gesagt worden ist, das können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern.

Fast dasselbe fand nach der Lektüre dieser Briefe statt. Aber noch ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke hatte bereits Gestalt gewonnen, und das Verwunderlichste war für ihn, daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn; aber es lag darin doch auch ein wahrhaftes Leid, ein echtes Märtyrertum, wodurch der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke, verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits einmal vor langer, langer Zeit gelesen, und als sei alles, wonach er sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen enthalten.

»Wenn Sie diesen Brief öffnen«, so begann das erste Schreiben, »werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich auch nur einigermaßen Ihresgleichen, so könnten Sie sich durch eine solche Dreistigkeit beleidigt fühlen; aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst wenn ich es woll te.«

Ferner schrieb sie an einer andern Stelle:

»Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines kranken Gehirns; aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich habe Sie gesehen; ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über Sie ab; ich bin nicht durch die Urteilskraft dazu gelangt, Sie für die Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben. Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie. Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich; aber Sie brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen; ich stelle Sie nicht mit mir auf gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten ...! Wenn ich könnte, würde ich Ihre Fußspuren küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich ... Sehen Sie nach der Unterschrift; sehen Sie schnell nach der Unterschrift!«

»Ich merke aber«, schrieb sie in einem andern Brief, »daß ich Sie mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Er hat sich Ihrer wie einer Lichtgestalt erinnert; das sind seine eigenen Worte; ich habe sie von ihm gehört. Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn eine Lichtgestalt sind. Ich habe einen ganzen Monat lang neben ihm gelebt und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie und er sind für mich eins.«

»Wie ist es damit?« schrieb sie an einer andern Stelle dieses Briefes. »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und es war mir, als ob Sie erröteten. Aber das ist unmöglich; das kann mir nur so vorgekommen sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und zeigte Ihnen dort die nackte Sünde, so dürften Sie doch nicht erröten; Sie können schlechterdings nicht über eine Beleidigung entrüstet sein. Sie können alle gemeinen, unwürdigen Menschen hassen, aber nicht um ihrer Eigenschaften willen, sondern aus Teilnahme für diejenigen, denen sie Kränkungen zufügen. Ihnen aber, Ihnen kann niemand eine Kränkung zufügen. Wissen Sie, ich meine, Sie müßten mich sogar lieben. Für mich sind Sie dasselbe wie für ihn: eine hehre Lichtgestalt; ein Engel aber kann nicht hassen; er kann gar nicht anders als lieben. Kann man alle lieben, alle Menschen, all seine Nächsten? Ich habe mir diese Frage oft vorgelegt. Gewiß nicht; das ist sogar unnatürlich. In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst. Aber wenn dies auch uns unmöglich ist, so sind Sie doch ein anderes Wesen: wie könnten Sie jemand nicht lieben, da Sie sich mit niemand auf eine Stufe stellen können, und da Sie über alle Kränkungen und über alle persönliche Entrüstung erhaben sind? Sie allein können ohne Egoismus lieben; Sie allein können nicht um Ihrer selbst willen lieben, sondern um desjenigen willen, den Sie lieben. O wie schmerzlich würde es mir sein, zu erfahren, daß Sie um meinetwillen Scham oder Zorn empfänden! Das wäre Ihr Untergang: damit stellten Sie sich auf einmal mir gleich ...

Nachdem ich Ihnen gestern begegnet und nach Hause gekommen war, dachte ich mir ein Gemälde aus. Die Maler stellen Christus immer der biblischen Tradition gemäß dar; ich würde ihn anders malen: ich würde ihn allein darstellen; seine Jünger haben ihn ja auch manchmal allein gelassen. Ich würde nur ein kleines Kind bei ihm lassen. Das Kind hat neben ihm gespielt, ihm vielleicht etwas in seiner kindlichen Sprache erzählt; Christus hat ihm zugehört; aber jetzt ist er in seine Gedanken versunken; seine Hand ist unwillkürlich, in Selbstvergessenheit, auf dem blonden Köpfchen des Kindes liegengeblieben. Er blickt in die Ferne, nach dem Horizont; ein ruhiger Gedanke, groß wie die Welt, liegt in seinem Blick; sein Gesicht ist traurig. Das Kind ist verstummt; es hat seinen Ellbogen auf das Knie des Heilandes gesetzt, die eine Wange in die Hand gestützt, das Köpfchen aufgehoben und schaut ihn nun unverwandt nachdenklich an, in der Art wie Kinder manchmal nachdenklich sind ... Das ist mein Bild! Sie sind unschuldig, und in Ihrer Unschuld liegt Ihre ganze Vollkommenheit. Oh, vergessen Sie das nicht! Was geht Sie die Leidenschaft an, die ich für Sie empfinde? Sie gehören schon jetzt mir; ich werde mein ganzes Leben lang um Sie sein ... Aber ich werde bald sterben.«

 

Im letzten Brief endlich hieß es:

»Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich geflissentlich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost für mich; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, das mir selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß bei mir die Möglichkeit ausgeschlossen ist, ein Anfall von Stolz könnte mich veranlassen, mich selbst herabzusetzen. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls unfähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich.

Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinet willen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen; darin finde ich meine ganze Absolution; das habe ich mir längst gesagt ... Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt umdrehen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen; ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was an meiner Statt in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich beständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer); aber ich kenne ihr Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Haus gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit über, während ich bei ihnen in ihrem Haus wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit Schdanowscher Flüssigkeit umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer; aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden; so habe ich es mit ihm bestimmt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten ... Aber er wird mich vorher töten ... Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.«

Und dergleichen irres Gerede stand noch vieles, vieles in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats.

Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle Nacht, in der man alles erkennen konnte, schien ihm noch heller als gewöhnlich. »Ob es denn noch so früh ist?« dachte er. (Er hatte vergessen seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; »wahrscheinlich beim Bahnhof«, dachte er wieder. »Sie werden heute gewiß nicht dort sein.« Während er das überlegte, sah er, daß er gerade dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es ordentlich vorhergewußt, daß er unbedingt schließlich hierher geraten werde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen; die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. »Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen«, dachte er flüchtig; aber auch der Saal war leer; in ihm war es fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemanden dort zu treffen.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.

»Ich ... bin nur so hergekommen ...«

»Mama ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida ist dabei, sich schlafen zu legen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«

»Ich wollte ... ich wollte Ihnen jetzt ... einen Besuch machen ...«

»Wissen Sie, was die Uhr ist?«

»N-nein ...«

»Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«

»Ach, ich dachte ..., es wäre halb zehn.«

»Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«

»Ich dachte ...«, stotterte er und ging wieder fort.

»Auf Wiedersehen! Morgen werde ich sie alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«

Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum glich gewissermaßen einem Traum. Und plötzlich stand ganz wie vor kurzem, wo er zweimal bei derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. »Nein«, sagte er sich, »das ist kein Traumbild!« So stand sie denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung Gesicht gegen Gesicht vor ihm; sie sagte etwas zu ihm; aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück; aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.

»Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie aufzuheben. »Steh schnell auf!«

»Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«

Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, wie wenn Verfolger hinter ihr her wären.

»Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht ... Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«

»Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.

Sie faßte seine beiden Hände und sog sich mit den Augen an seinem Gesicht fest.

»Lebe wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend, von ihm. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoschin neben ihr erschien, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.

»Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoschin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«

In fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf demselben Fleck erwartet.

»Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien ordentlich vorauszuwissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir neulich geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben; sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet; dort auf der Bank haben wir gesessen.«

»Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen möchtest?«

»Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoschin, den Mund zum Lächeln verziehend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«

»Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.

»Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle mit dem Rasiermesser? Hehe!«

»Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.

»Wer weiß; vielleicht auch nicht!« sagte Rogoschin leise, wie wenn er nur mit sich selbst spräche.

Der Fürst antwortete nicht.

»Nun leb wohl!« sagte Rogoschin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«

»Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.

»Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoschin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

Vierter Teil
I

Es war ungefähr eine Woche seit dem Tag vergangen, an welchem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

Es gibt Leute, von denen man schwer etwas derartiges sagen kann, daß sie dadurch mit einemmal und vollständig uns in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen gestellt würden; das sind diejenigen, die man meist als »Leute gewöhnlicher Art«, als »die Masse« bezeichnet, und die tatsächlich in allen Gesellschaftskreisen die weit überwiegende Majorität bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und eigenartig und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolesin in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus nicht eine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolesin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolesin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden. Sie haben auch vor Gogol gewußt, daß diese ihre Freunde Leute von Podkolesins Art waren, haben aber nur noch nicht gewußt, daß sie gerade so hießen. In der Wirklichkeit sind Bräutigame, die vor der Hochzeit aus dem Fenster springen, äußerst selten, weil das, von andern Gründen abgesehen, gar zu unbequem ist; aber trotzdem: Wieviele Bräutigame, sogar achtbare, verständige Männer, haben nicht vor der Trauung in der Tiefe ihrer Seele die Empfindung gehabt, daß sie Podkolesins seien! Ebenso rufen ja auch nicht alle Männer bei jedem Schritt: »Tu l'as voulu, George Dandin!« Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist, und daß alle diese George Dandins und Podkolesins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den Leuten von ganz gewöhnlicher Art anfangen, und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist untunlich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch an den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht, oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr Leben lang unveränderte Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt.

 

Zu dieser Klasse der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit und Bestimmtheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte Herr Ptizyn und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch.

In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein, »wie alle Menschen«. Reichtum ist ja vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist ja hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solcher Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen, wie alle Menschen, in zwei Hauptklassen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen gibt es zum Beispiel nichts Leichteres als sich einzubilden, er sei ein ungewöhnlicher, origineller Mensch, und davon ohne Bedenken das Gefühl eines hohen Genusses zu haben. Einige unserer jungen Damen brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene »Überzeugungen« gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfindet wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung ist. Mancher braucht nur einen Gedanken von einem andern auf Treu und Glauben anzunehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß durchzulesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow. Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich gar keine diesbezügliche Frage vorlegt, wie denn Zweifelsfragen für ihn überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Genugtuung für das verletzte moralische Gefühl des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung einen Blätterkuchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme auseinander und verließ seine Leser in dieser Situation. Ich habe es immer bedauert, daß Gogol den großen Pirogow auf eine so niedrige Rangstufe gestellt hat; denn Pirogow ist so selbstzufrieden, daß für ihn nichts leichter wäre als sich auf Grund der mit den Jahren und den Avancements dicker gewordenen Epauletten einzubilden, daß er ein ausgezeichneter Feldherr sei, und es sich nicht bloß einzubilden, sondern überhaupt nicht daran zu zweifeln; denn er würde sich sagen, man habe ihn zum General ernannt, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Aufklärungsaposteln gegeben! Ich sage »hat es gegeben«; aber natürlich gibt es ihrer auch jetzt ...

Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zur andern Klasse; er gehörte zur Klasse der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Klasse ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben lang) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, infolge wovon der kluge Mensch schließlich manchmal völlig in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die ins Innere hineingetriebene Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt; aber bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschenklasse verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende das Lebens hat sich vielleicht ein Leberleiden mehr oder minder stark entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und fügen, manchmal eine sehr lange Zeit hindurch, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht sogar dazu bereit, sich zu einer gemeinen Handlung zu verstehen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur ehrlichen, sondern auch herzensguten Menschen ist der Beschützer und Versorger seiner Familie und unterhält und ernährt durch seine Arbeit nicht nur die Seinigen, sondern sogar Fremde; aber was ist das Resultat? Er kann trotzdem sein ganzes Leben lang nicht zur seelischen Ruhe gelangen! Für ihn ist es keineswegs ein beruhigender, tröstlicher Gedanke, daß er seine menschlichen Pflichten so gut erfüllt hat; dieser Gedanke hat sogar im Gegenteil für ihn etwas Aufreizendes: »Also das ist es«, sagt er sich, »worauf ich mein ganzes Leben verwendet habe; das ist es, was mich an Händen und Füßen gebunden hat; das ist es, was mich gehindert hat, das Pulver zu erfinden! Wäre dieses Hindernis nicht gewesen, dann hätte ich vielleicht sicher entweder das Pulver erfunden oder Amerika entdeckt; ich weiß noch nicht genau, was; aber erfunden oder entdeckt hätte ich sicherlich etwas!« Das Charakteristische bei diesen Herren ist dies, daß sie tatsächlich ihr ganzes Leben lang sich nicht recht darüber klarwerden können, was sie eigentlich so eifrig zu erfinden und zu entdecken wünschen, und was für eine Großtat sie eigentlich das ganze Leben hindurch auf dem Sprung standen auszuführen, ob die Erfindung des Pulvers oder die Entdeckung Amerikas. Aber ihre schmerzliche Sehnsucht nach einer solchen Großtat hätte wirklich für einen Kolumbus oder Galilei ausgereicht.