Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Seinerseits bemerkte er, nachdem er sich hingesetzt und um sich geblickt hatte, sofort, daß diese ganze Gesellschaft durchaus nicht den Schreckgespenstern glich, mit denen ihm Aglaja gestern hatte Angst machen wollen, oder den Traumgestalten, die er in der Nacht im Schlaf gesehen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein Stückchen von dem, was man mit dem furchtbaren Namen »die vornehme Welt« bezeichnet. Er hatte infolge gewisser besonderer Absichten, Pläne und Neigungen sich schon längst danach gesehnt, in diesen Zauberkreis einzudringen, und war daher sehr gespannt auf den ersten Eindruck, den dies alles auf ihn machen werde. Dieser erste Eindruck war geradezu entzückend. Es kam ihm so vor, als seien alle diese Menschen geradezu dazu geboren, miteinander zusammen zu sein; als sei bei Jepantschins an diesem Abend keine »Gesellschaft« und keine geladenen Gäste, sondern Leute aus dem engsten Bekanntenkreis, und als sei er selbst schon lange ihr ergebener Freund und Gesinnungsgenosse und jetzt nach kurzer Abwesenheit zu ihnen zurückgekehrt. Die eleganten Manieren, die Schlichtheit und anscheinende Herzlichkeit übten auf ihn eine faszinierende Wirkung aus. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß alle diese Treuherzigkeit und Vornehmheit, diese geistreiche Redeweise und dieses würdevolle Wesen vielleicht nur ein prächtiges Kunstprodukt seien. Die Mehrzahl der Gäste bestand sogar trotz ihres blendenden Äußern aus ziemlich hohlen Menschen, die übrigens in ihrer Selbstzufriedenheit selbst nicht einmal wußten, daß manches, was sie gutes an sich hatten, nur ein Kunstprodukt war, das ihnen zudem gar nicht als Verdienst angerechnet werden konnte, da es ihnen unbewußt und durch Erbschaft zugefallen war. Dem Fürsten, der ganz im Banne des entzückenden ersten Eindrucks stand, lag es fern, so etwas zu vermuten. Er sah zum Beispiel, daß dieser alte Herr, dieser hohe Würdenträger, der dem Lebensalter nach sein Großvater hätte sein können, sogar sein eigenes Gespräch abbrach, um ihm, einem so jungen, unerfahrenen Menschen, zuzuhören, und daß er ihm nicht nur zuhörte, sondern auch offenbar auf seine Meinung Wert legte und ihn mit solcher Freundlichkeit, mit solcher aufrichtigen Herzlichkeit behandelte, obwohl sie doch einander fremd waren und sich zum erstenmal sahen. Vielleicht wirkte gerade das Raffinement dieser Höflichkeit auf die warme Empfänglichkeit des Fürsten am allermeisten. Vielleicht hatte auch von vornherein seine persönliche Stimmung die Wirkung, ihn für einen günstigen Eindruck zu disponieren und ihn gewissermaßen zu bestechen.

Und dabei waren alle diese Menschen, wenn sie auch natürlich »Freunde des Hauses« und untereinander befreundet waren, doch keineswegs mit der Familie und unter sich in der Weise befreundet, wie es der Fürst annahm, nachdem er ihnen soeben vorgestellt war und ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Es waren Leute darunter, die nie und um keinen Preis zugestanden hätten, daß die Jepantschins mit ihnen auch nur annähernd auf gleicher Stufe ständen. Es waren auch Leute anwesend, die einander entschieden haßten; die alte Bjelokonskaja empfand lebenslänglich eine starke Geringschätzung gegen die Gemahlin des alten Würdenträgers, und diese war ihrerseits weit davon entfernt, Lisaweta Prokofjewna zu lieben. Dieser Würdenträger, ihr Mann, der das Jepantschinsche Ehepaar seit dessen jungen Jahren aus irgendeinem Grund protegiert hatte und jetzt bei der Abendgesellschaft als der vornehmste Gast galt, war in Iwan Fjodorowitschs Augen eine so hohe Person, daß er in Gegenwart desselben kein anderes Gefühl als Ehrerbietung und Furcht empfinden konnte, und sich sogar aufrichtig verachtet hätte, wenn er sich auch nur einen Augenblick lang ihm gleichgestellt und ihn nicht für einen olympischen Jupiter gehalten hätte. Es waren Leute da, die einander jahrelang nicht gesehen hatten und gegeneinander nichts als Gleichgültigkeit, wenn nicht Abneigung, empfanden, aber sich jetzt begrüßten, als ob sie sich erst gestern in einer angenehmen Gesellschaft von Freunden gesehen hätten. Übrigens war diese Abendgesellschaft nicht zahlreich. Außer der alten Bjelokonskaja und dem alten Würdenträger, der wirklich eine wichtige Persönlichkeit war, und seiner Gattin war erstens noch ein sehr bejahrter General da, ein Baron oder Graf mit einem deutschen Namen, ein außerordentlich schweigsamer Mensch, der in dem Ruf stand, eine erstaunliche Kenntnis der Regierungsangelegenheiten zu besitzen und sogar beinah ein Gelehrter zu sein, einer jener olympischen Verwaltungsbeamten, die alles kennen, vielleicht mit einziger Ausnahme von Rußland selbst, ein Mann, der alle fünf Jahre einen »durch seine Tiefe bemerkenswerten Ausspruch« tat, einen Ausspruch, der dann unfehlbar ein geflügeltes Wort und sogar in den allerhöchsten Regionen bekannt wurde; einer jener regierenden Beamten, die gewöhnlich nach einer sehr langen (sogar manchmal erstaunlich langen) Dienstzeit in hohem Rang und in vorzüglichen Stellen und im Besitz großer Geldmittel sterben, obwohl sie keine großen Taten vollbracht und sogar gegen große Taten eine gewisse Feindschaft an den Tag gelegt haben. Dieser General war Iwan Fjodorowitschs unmittelbarer Vorgesetzter im Dienst, und Iwan Fjodorowitsch erachtete ihn vermöge der warmen Dankbarkeit seines Herzens und sogar aus besonderem Ehrgeiz ebenfalls für seinen Wohltäter, obwohl dieser sich ganz und gar nicht als Iwan Fjodorowitschs Wohltäter betrachtete, zwar mit Vergnügen von seinen mannigfachen Diensten Gebrauch machte, aber sich gegen ihn ganz gleichgültig verhielt und ihn sofort durch einen andern Beamten ersetzt haben würde, wenn irgendwelche Erwägungen, die gar nicht einmal »höhere Erwägungen« zu sein brauchten, dies wünschenswert gemacht hätten. Ferner war ein älterer, vornehmer Herr anwesend, von dem es sogar hieß, er sei mit Lisaweta Prokofjewna verwandt, wiewohl dies entschieden unwahr war, ein Mann, der einen hohen Rang besaß und ein hohes Amt bekleidete, reich und von guter Familie, behäbig und von sehr guter Gesundheit; er war sehr redelustig und stand sogar in dem Ruf, ein Unzufriedener zu sein (allerdings nur in durchaus erlaubtem Sinne) und Galle zu haben (aber auch diese Eigenschaft wirkte an ihm nur angenehm); er hatte sich die Manieren der englischen Aristokraten zu eigen gemacht und sich auch hinsichtlich des Geschmacks anglisiert (zum Beispiel in bezug auf blutiges Roastbeef, Anspann von Pferden, Diener usw.). Er war ein großer Freund des Würdenträgers und stets bemüht, diesen angenehm zu unterhalten; außerdem hegte Lisaweta Prokofjewna aus unklarem Grund die sonderbare Vorstellung, dieser gesetzte Herr (ein etwas leichtsinniger Mensch und großer Liebhaber des weiblichen Geschlechts) werde auf einmal auf den Gedanken kommen, ihrer Tochter Alexandra einen Heiratsantrag zu machen. Auf diese höchste, älteste Schicht der Gesellschaft folgte eine Schicht von jüngeren Gästen, die aber gleichfalls durch sehr vortreffliche Eigenschaften glänzten. Außer dem Fürsten Schtsch. und Jewgeni Pawlowitsch gehörte zu dieser Schicht auch der bekannte, bezaubernde Fürst N., ehemals ein Verführer und Bezwinger von Frauenherzen in ganz Europa, jetzt schon etwa fünfundvierzig Jahre alt, aber immer noch von schönem Äußern; er verstand es vorzüglich zu erzählen, besaß ein bedeutendes, aber etwas zerrüttetes Vermögen und lebte gewohnheitsmäßig meist im Ausland. Endlich waren auch Leute da, die eine dritte besondere Schicht bildeten und an und für sich nicht zu dem »geweihten Kreis« der Gesellschaft gehörten, denen man aber, ebenso wie der Familie Jepantschin, manchmal aus irgendeinem Grund in diesem »geweihten Kreis« begegnen konnte. Mit einem gewissen Takt, den sie sich zum Grundsatz gemacht hatten, liebten es Jepantschins, in den seltenen Fällen, wo sie geladene Gäste bei sich sahen, die höhere Gesellschaftsschicht mit Angehörigen einer tieferen Schicht zu mischen, mit ausgewählten Repräsentanten eines »Mittelschlages«. Jepantschins wurden für dieses Verfahren sogar gelobt, und man sagte von ihnen, sie kennten ihren Platz und besäßen ein richtiges Taktgefühl; und Jepantschins waren stolz auf diese Meinung, die man von ihnen hatte. Einer der Vertreter dieses Mittelschlages war an diesem Abend ein Techniker, Oberst, ein ernster Mensch, ein sehr naher Freund des Fürsten Schtsch. und von diesem bei Jepantschins eingeführt; in Gesellschaft war er übrigens schweigsam; an seinem langen Zeigefinger der rechten Hand trug er einen großen auffallenden Ring, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Geschenk von hoher Stelle. Endlich war auch noch ein Schriftsteller und Dichter anwesend, ein Deutscher, der aber russisch dichtete und überdies ein durchaus anständiger Mensch war, so daß man ihn ohne Gefahr in gute Gesellschaft hineinlassen konnte. Er hatte ein glückliches, wiewohl in gewisser Hinsicht doch auch einigermaßen abstoßendes Äußeres, war etwa achtunddreißig Jahre alt, kleidete sich tadellos, gehörte zu einer höchst bürgerlichen, aber zugleich höchst achtbaren deutschen Familie, hatte es verstanden, verschiedene Gelegenheiten gut auszunutzen, sich die Protektion hochgestellter Persönlichkeiten zu verschaffen und sich in ihrer Gunst zu behaupten. Er hatte einmal ein bedeutendes Werk eines bedeutenden deutschen Dichters in Versen aus dem Deutschen übersetzt, hatte es verstanden, seine Übersetzung einer geeigneten Person zu dedizieren, rühmte sich der Freundschaft mit einem angesehenen, aber bereits verstorbenen russischen Dichter (es gibt eine große Menge von Schriftstellern, die es außerordentlich lieben, in ihren Druckschriften von ihrer Freundschaft mit großen, aber verstorbenen Schriftstellern zu reden) und war erst ganz vor kurzem bei Jepantschins durch die Gattin des alten Würdenträgers eingeführt worden. Diese Dame galt als eine Gönnerin von Schriftstellern und Gelehrten und hatte sogar tatsächlich einem oder zwei Schriftstellern durch Vermittlung hochgestellter Personen, bei denen sie ein Ansehen besaß, eine Pension verschafft. Und ein gewisses Ansehen besaß sie in ihrer Art allerdings. Sie war eine Dame von ungefähr fünfundvierzig Jahren (also eine sehr junge Frau für einen so alten Mann wie ihr Gatte), eine ehemalige Schönheit, die zufolge einer vielen fünfundvierzigjährigen Damen eigenen Manie es liebte, sich immer noch sehr luxuriös zu kleiden; ihr Verstand war nicht bedeutend und ihre Literaturkenntnisse sehr zweifelhaft. Aber Schriftsteller zu patronisieren war bei ihr eine ebensolche Manie wie sich luxuriös zu kleiden. Es wurden ihr viele Schriften und Übersetzungen gewidmet; zwei oder drei Schriftsteller ließen mit Erlaubnis der Dame die Briefe drucken, die sie ihr über sehr wichtige Gegenstände geschrieben hatten.. Und diese ganze Gesellschaft nahm der Fürst für bare Münze, für reinstes Gold ohne Legierung. Übrigens traf es sich, daß auch all diese Leute sich an diesem Abend in der glücklichsten Stimmung befanden und mit sich selbst sehr zufrieden waren. Sie wußten sämtlich, daß sie der Familie Jepantschin durch ihr Erscheinen eine große Ehre erwiesen. Aber leider ahnte der Fürst von diesen Finessen nichts. Es kam ihm zum Beispiel nicht der Gedanke, daß die Jepantschins jetzt, wo sie einen so wichtigen Schritt wie die Entscheidung über das Lebensschicksal ihrer Tochter vorhatten, es für ihre unerläßliche Pflicht hielten, ihn, den Fürsten Ljow Nikolajewitsch, dem alten Würdenträger, dem anerkannten Protektor ihrer Familie, vorzustellen. Der alte Würdenträger würde zwar seinerseits sogar die Nachricht von dem furchtbarsten Unglück, das die Familie Jepantschin betroffen hätte, mit größter Seelenruhe hingenommen, sich aber unbedingt beleidigt gefühlt haben, wenn die Jepantschins ihre Tochter ohne seinen Rat und sozusagen ohne seine Erlaubnis verlobt hätten. Fürst N., dieser liebenswürdige, unstreitig geistreiche und von einer hohen Freimütigkeit erfüllte Mensch, war von der festen Überzeugung durchdrungen, daß er so eine Art von Sonne sei, die an diesem Abend über dem Jepantschinschen Salon aufgehe. Er war der Ansicht, daß sie unendlich weit unter ihm ständen, und gerade dieser treuherzige, edle Gedanke erzeugte bei ihm jene bewundernswerte, liebenswürdige Ungezwungenheit und Freundlichkeit eben diesen Jepantschins gegenüber. Er wußte ganz genau, daß er an diesem Abend unbedingt etwas erzählen müsse, um die Gesellschaft in Entzücken zu versetzen, und bereitete sich hierauf mit einer gewissen Begeisterung vor. Als Fürst Ljow Nikolajewitsch dann diese Erzählung mit angehört hatte, mußte er sich bekennen, daß er noch nie etwas dem Ähnliches gehört hatte: dieser glänzende Humor, diese bewunderswürdige Heiterkeit und Naivität, die im Mund eines Don Juans, wie Fürst N., beinah etwas Rührendes hatte, bezauberten ihn geradezu. Wenn er nur dabei gewußt hätte, wie alt und abgenutzt diese Erzählung schon war, und daß der Vortragende sie bereits ganz auswendig konnte, und daß sie bereits in allen Salons den Hörern langweilig geworden war und nur bei den harmlosen Jepantschins wieder als Neuigkeit erschien, als eine freimütige, geistvolle Erinnerung, die einem geistvollen, schönen Mann plötzlich eingefallen sei! Der deutsche Dichterling benahm sich zwar sehr liebenswürdig und bescheiden; aber sogar er war beinah der Ansicht, daß er diesem Haus durch seinen Besuch eine Ehre erweise. Aber der Fürst bemerkte nicht die Kehrseite der Medaille, bemerkte nicht das Unterfutter des schönen Gewandes. Dieses Resultat hatte Aglaja nicht vorhergesehen. Sie selbst war an diesem Abend erstaunlich schön. Alle drei Fräulein waren elegant, wiewohl nicht gerade luxuriös, gekleidet und trugen sogar eine besondere Frisur. Aglaja saß neben Jewgeni Pawlowitsch, mit dem sie sich sehr freundlich unterhielt und scherzte. Jewgeni Pawlowitsch betrug sich etwas gesetzter als sonst, vielleicht ebenfalls aus Respekt gegen die hohen Herren. Man kannte ihn übrigens in der vornehmen Welt schon längst, und er fühlte sich dort bereits heimisch, wiewohl er noch ein junger Mensch war. An diesem Abend war er bei Jepantschins mit einem Trauerflor am Hut erschienen, und die alte Bjelokonskaja lobte ihn deswegen: ein anderer der vornehmen Welt angehöriger Neffe hätte unter solchen Umständen um einen solchen Onkel vielleicht keinen Trauerflor angelegt. Lisaweta Prokofjewna billigte diese Handlungsweise ebenfalls, schien aber im allgemeinen recht sorgenvoll zu sein. Der Fürst bemerkte, daß Aglaja ein paarmal aufmerksam nach ihm hinblickte und, wie es schien, mit ihm zufrieden war. Allmählich fühlte er sich sehr glücklich. Die »phantastischen« Gedanken und Befürchtungen, die er kurz vorher nach dem Gespräch mit Lebedjew gehegt hatte, erschienen ihm jetzt, wenn er plötzlich an sie zurückdachte, was er häufig tat, als ein lächerlicher Traum, der unmöglich in Erfüllung gehen könne! (Und ohnehin hatte er gleich damals und dann den ganzen Tag über dringend, wenn auch unbewußt gewünscht, es dahin zu bringen, daß er an diesen Traum nicht glaubte!) Er redete wenig, und nur wenn er gefragt wurde, und verstummte schließlich ganz, saß da und hörte immer nur zu, schwelgte aber offenbar im Genuß. Allmählich wuchs in ihm selbst eine Art von Begeisterung heran, die bereit war, bei gegebener Gelegenheit zum Ausbruch zu kommen ... Da wollte es der Zufall, daß er ins Reden kam, und zwar ebenfalls durch die Beantwortung einer Frage und, wie es schien, ganz ohne besondere Absichten.

 

VII

Während er mit hohem Genuß Aglaja betrachtete, die munter mit dem Fürsten N. und Jewgeni Pawlowitsch plauderte, nannte auf einmal der bejahrte Anglomane, der in einer anderen Ecke den Würdenträger unterhielt und ihm mit großer Lebhaftigkeit etwas erzählte, den Namen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews. Der Fürst wandte sich schnell nach ihrer Seite hin und begann zuzuhören.

Es war von der neuen Ordnung der Dinge die Rede und von gewissen Tumulten auf Gütern im ...sker Gouvernement. Die Erzählungen des Anglomanen mußten wohl ein heiteres Element enthalten, da der Alte schließlich über den galligen Eifer des Erzählers zu lachen anfing. Dieser erzählte in geläufiger Rede, indem er in mürrischer Weise die Worte in die Länge zog und auf die Vokale einen leisen Nachdruck legte, wie er sich, speziell durch die jetzige Ordnung der Dinge, genötigt gesehen habe, ein ihm gehöriges prächtiges Gut im ...sker Gouvernement für den halben Preis zu verkaufen, wiewohl er sich gar nicht in Geldverlegenheit befunden habe, und gleichzeitig ein heruntergekommenes, ertragloses, mit einem Prozeß belastetes Gut zu behalten, bei dem er sogar noch zuzahlen müsse. »Um noch einem Prozeß auch wegen des Pawlischtschewschen Landes zu entgehen, habe ich Reißaus genommen. Noch eine oder zwei solche Erbschaften, und ich bin ruiniert. Ich habe dort übrigens dreitausend Dessätinen vorzüglichen Bodens hinzubekommen.«

»Siehst du wohl ... Iwan Petrowitsch ist mit dem verstorbenen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew verwandt ... du suchtest ja wohl nach Verwandten desselben«, sagte Iwan Fjodorowitsch halblaut zum Fürsten; er hatte bemerkt, mit welcher Aufmerksamkeit der Fürst das Gespräch verfolgte, und war nun schnell zu ihm getreten.

Er hatte bisher seinen Vorgesetzten, den General, unterhalten, aber schon längst die Vereinsamung Ljow Nikolajewitschs bemerkt und sich darüber beunruhigt; nun wollte er ihn bis zu einem gewissen Grad in das Gespräch hineinziehen und ihn auf diese Weise zum zweitenmal den hohen Persönlichkeiten vorführen und präsentieren. »Ljow Nikolajewitsch ist nach dem Tod seiner Eltern ein Zögling Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews gewesen«, schaltete er ein, als er Iwan Petrowitschs Blick auf sich gerichtet sah.

»Se-ehr angene-ehm«, versetzte dieser; »ich erinnere mich sehr gut. Als Iwan Fjodorowitsch uns vorhin einander vorstellte, habe ich Sie sofort wiedererkannt, sogar am Gesicht. Sie haben sich wirklich äußerlich nur wenig verändert, wiewohl Sie damals, als ich Sie sah, noch ein Kind waren; Sie mochten etwa zehn oder elf Jahre alt sein. Es ist in Ihren Gesichtszügen etwas, was bei mir eine Erinnerung wachruft ...«

»Sie haben mich gesehen, als ich noch Kind war?« fragte der Fürst sehr erstaunt.

»Oh, es ist schon recht lange her«, fuhr Iwan Petrowitsch fort, »in Slatowerchowo, wo Sie damals bei meinen Kusinen lebten. Ich kam früher ziemlich oft nach Slatowerchowo; Sie erinnern sich meiner nicht? Se-ehr leicht möglich, daß Sie sich meiner nicht erinnern ... Sie hatten damals ... Sie hatten damals irgendeine Krankheit, so daß ich einmal sogar über Sie einen Schreck bekam ...«

»Ich kann mich an nichts erinnern!« antwortete der Fürst eifrig.

Beide stellten nun noch mit ein paar Worten die Sache klar, Iwan Petrowitsch in sehr ruhiger, der Fürst in sehr aufgeregter Weise, und es ergab sich, daß die beiden alten Fräulein, die mit dem verstorbenen Pawlischtschew verwandt waren und auf seinem Gut Slatowerchowo lebten und mit der Erziehung des Fürsten von ihm betraut wurden, zugleich Iwan Petrowitschs Kusinen waren. Iwan Petrowitsch hatte ebensowenig wie alle andern Leute eine Erklärung dafür, weshalb Pawlischtschew so für den kleinen Fürsten, seinen Pflegling, gesorgt hatte. »Ich habe damals vergessen, mich danach zu erkundigen«, sagte er; aber es stellte sich doch heraus, daß er ein vorzügliches Gedächtnis hatte; denn er erinnerte sich, wie streng seine ältere Kusine, Marfa Nikititschna, gegen den kleinen Pflegling gewesen sei, »so daß ich einmal sogar mit ihr um Ihretwillen wegen des Erziehungssystems in Streit geriet; denn immer Schläge und Schläge für ein krankes Kind ... das ist doch ... das müssen Sie selbst sagen ...«; und mit welcher Zärtlichkeit ganz im Gegensatz dazu die jüngere Kusine, Natalja Nikititschna, den armen Knaben behandelt habe ... »Sie leben jetzt beide«, berichtete er weiter, »im ...sker Gouvernement (ich weiß nur nicht, ob sie zur Zeit wirklich noch leben), wo ihnen von Pawlischtschew ein sehr nettes kleines Gut durch Erbschaft zugefallen ist. Marfa Nikititschna beabsichtigte, wenn mir recht ist, in ein Kloster zu gehen; übrigens will ich es nicht behaupten; vielleicht habe ich es von jemand gehört ... ja, ich hörte es neulich von der Frau eines Arztes ...«

Die Augen des Fürsten glänzten vor Entzücken und Rührung, als er das hörte. Er erklärte seinerseits sehr eifrig, er werde es sich nie verzeihen, daß er in den sechs Monaten, während er in den inneren Gouvernements herumgereist sei, nicht die Gelegenheit benutzt habe, um seine früheren Pflegerinnen ausfindig zu machen und zu besuchen. Er habe alle Tage hinfahren wollen und sei immer durch andere Dinge daran gehindert worden ... aber jetzt nehme er es sich fest vor ... unbedingt ... wenn es auch im ...sker Gouvernement sei ... »Also Sie kennen Natalja Nikititschna? Was ist das für eine prächtige, fromme Seele! Aber auch Marfa Nikititschna ... verzeihen Sie mir, aber Sie irren sich wohl in bezug auf Marfa Nikititschna! Sie war ja streng, aber ... man mußte ja mit einem solchen Idioten, wie ich es damals war, notwendig die Geduld verlieren (hihi!). Ich war ja damals vollständig ein Idiot; Sie werden es kaum glauben können (haha!). Übrigens ... übrigens, Sie haben mich damals gesehen und ... Sagen Sie nur, wie geht es zu, daß ich mich Ihrer nicht erinnere? Also Sie ... ach, mein Gott, also Sie sind wirklich ein Verwandter Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews?«

»Ja, ich ver-si-che-re es Ihnen!« erwiderte Iwan Fjodorowitsch, indem er den Fürsten lächelnd anblickte.

»Oh, ich sagte es ja nicht in dem Sinne, als ob ich ... als ob ich daran zweifelte ... und kann man denn etwa irgendwie daran zweifeln? (hehe!) Ich meine, auch nur im geringsten? (hehe!) Sondern ich sagte es deshalb, weil der verstorbene Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew ein so vortrefflicher Mensch war! Ein hochherziger Mensch, wahrhaftig, ich versichere es Ihnen!«

Der Fürst war nicht nur außer Atem, sondern »erstickte sozusagen an seinen schönen Empfindungen«, wie sich über ihn am andern Morgen Adelaida im Gespräch mit ihrem Bräutigam, dem Fürsten Schtsch., ausdrückte.

»Ach, mein Gott!« erwiderte Iwan Petrowitsch lachend; »warum sollte ich denn nicht sogar mit einem hoch-her-zi-gen Menschen verwandt sein können?«

»Ach, mein Gott!« rief der Fürst verlegen und hastig; er wurde immer lebhafter. »Ich ... ich habe wieder eine Dummheit gesagt; aber ... es ist eben nicht anders möglich, weil ich ... weil ich ... weil ich ... indes, das gehört wieder nicht hierher! Und was liegt auch jetzt an mir, sagen Sie selbst, gegenüber so hohen Bestrebungen ... gegenüber so erhabenen Bestrebungen! Und im Vergleich mit einem so hochherzigen Menschen ... denn, weiß Gott, er war ein hochherziger Mensch, nicht wahr? Nicht wahr?«

Der Fürst zitterte am ganzen Leib. Warum er sich auf einmal so aufregte, warum er ohne äußeren Anlaß in eine solche Rührung und in ein solches Entzücken hineingeriet, die anscheinend gar nicht im richtigen Verhältnis zu dem Gegenstand des Gesprächs standen, das wäre schwer zu sagen. Er war nun einmal in solcher Stimmung und empfand sogar in diesem Augenblick beinah gegen irgend jemand und für irgend etwas die heißeste, innigste Dankbarkeit, vielleicht sogar gegen Iwan Petrowitsch und beinah auch gegen alle Gäste zusammengenommen. Er war nun einmal gar zu glücklich. Iwan Petrowitsch begann ihn schließlich weit genauer zu betrachten als vorher; auch der Würdenträger musterte ihn sehr genau. Die alte Bjelokonskaja richtete einen zornigen Blick auf den Fürsten und preßte die Lippen aufeinander. Fürst N., Jewgeni Pawlowitsch, Fürst Schtsch. und die jungen Mädchen unterbrachen sämtlich ihre Gespräche und hörten zu. Aglaja schien erschrocken zu sein, Lisaweta Prokofjewna es geradezu mit der Angst zu bekommen. Das Verhalten der Jepantschinschen Damen, der Mutter und der Töchter, war recht sonderbar: sie waren selbst der Ansicht gewesen, es sei am besten, wenn der Fürst den Abend über schweigend dasitze, und hatten ihm dies auch anempfohlen; aber sowie sie gesehen hatten, daß er völlig vereinsamt und mit seinem Schicksal ganz zufrieden in einer Ecke saß, waren sie auch sofort in Aufregung geraten. Alexandra hatte vorgehabt, zu ihm hinzugehen und ihn vorsichtig, quer durch das ganze Zimmer zur Gesellschaft heranzuholen, das heißt genauer zum Fürsten N., der neben der alten Bjelokonskaja saß. Und kaum hatte der Fürst von selbst zu reden angefangen, als sie sich noch mehr beunruhigten.

 

»Daß er ein vortrefflicher Mensch war, darin haben Sie recht«, sagte Iwan Petrowitsch mit Nachdruck und nunmehr ohne zu lächeln; »ja, ja, er war ein prächtiger Mensch! Ein prächtiger, wertvoller Mensch!« fügte er nach einem kurzen Stillschweigen hinzu. »Man kann sagen, ein höchst achtungswerter Mensch«, fuhr er nach einer neuen Pause mit noch größerem Nachdruck fort, »und ... und es ist eine Freude, zu sehen, daß Sie Ihrerseits ...«

»Hatte dieser Pawlischtschew nicht so eine Affäre ... eine sonderbare Affäre ... mit einem Abbé ... mit einem Abbé ... ich habe vergessen, mit was für einem Abbé; aber es sprachen damals alle davon«, sagte der Würdenträger, indem er in seinem Gedächtnis nachsuchte.

»Mit dem Abbé Gouraud, einem Jesuiten«, kam ihm Iwan Petrowitsch zu Hilfe. »Ja, so geht es mit unsern vortrefflichsten, würdigsten Männern! Denn er war doch von guter Familie, besaß Vermögen, hatte den Rang eines Kammerherrn, und wenn er ... im Dienst geblieben wäre ... Und da ließ er nun Dienst und alles im Stich, um zum Katholizismus überzutreten und Jesuit zu werden, und noch dazu beinah ganz offen, mit einer Art von Begeisterung. Wirklich, er ist gerade zur rechten Zeit gestorben ... ja; das wurde damals allgemein gesagt.«

Der Fürst war außer sich.

»Pawlischtschew ... Pawlischtschew wäre zum Katholizismus übergetreten? Das ist unmöglich!« rief er erschrocken.

»Nun, nun, ›unmöglich‹!« lispelte Iwan Petrowitsch gelassen. »Das ist denn doch zu viel gesagt, mein lieber Fürst, das müssen Sie selbst zugeben ... Übrigens, Sie schätzen den Verstorbenen so außerordentlich hoch ... und er war auch wirklich der beste Mensch, und gerade diesem Umstand schreibe ich es in der Hauptsache zu, daß dieser Gauner Gouraud mit seinen Bemühungen Erfolg hatte. Aber ich könnte Ihnen ein Lied davon singen, wieviel Mühe und Schererei ich damals von dieser Geschichte gehabt habe ... und besonders mit eben diesem Gouraud! Stellen Sie sich vor«, wandte er sich plötzlich zu dem Würdenträger, »sie wollten sogar Ansprüche auf die Hinterlassenschaft erheben, und ich mußte damals sogar zu den allerenergischsten Maßregeln greifen ... um sie zur Räson zu bringen ... denn auf solche Dinge verstehen sie sich meisterhaft! Geradezu mei-ster-haft! Aber die Geschichte spielte, Gott sei Dank, in Moskau, so daß ich mich gleich an den Grafen wenden konnte, und da haben wir sie ... zur Räson gebracht ...«

»Sie glauben nicht, was Sie mir für eine schmerzliche Überraschung bereitet haben!« rief der Fürst wieder.

»Das tut mir leid; aber im Grund sind das alles, strenggenommen, harmlose Dinge, die auch einen harmlosen Ausgang genommen hätten, wie immer; davon bin ich überzeugt. Im vorigen Sommer«, wandte er sich wieder an den Würdenträger, »ist die Gräfin K., wie man sagt, ebenfalls im Ausland in ein katholisches Kloster getreten; unsere Landsleute haben eben keine Widerstandskraft, wenn sie sich einmal mit diesen ... geriebenen Kunden einlassen ... namentlich im Ausland.«

»Ich meine, das ist alles eine Folge unserer ... Schlaffheit«, murmelte unter Kaubewegungen der Alte im Ton der Überlegenheit. »Na ja, sie haben so eine eigene Manier zu predigen ..., eine elegante Manier ..., und verstehen, die Leute einzuschüchtern. Auch mich haben sie, als ich einunddreißig Jahre alt war, in Wien eingeschüchtert, kann ich Ihnen versichern; nur ergab ich mich ihnen nicht, sondern lief vor ihnen davon, haha! Ich bin wirklich vor ihnen davongelaufen.«

»Ich habe gehört, Väterchen, daß Sie damals mit der schönen Gräfin Lewizkaja von Wien nach Paris durchgingen und Ihren Posten verließen, und nicht vor einem Jesuiten flohen«, bemerkte die alte Bjelokonskaja.

»Na, eigentlich doch vor einem Jesuiten; es kommt doch so heraus, daß ich vor einem Jesuiten floh!« erwiderte der Alte, bei der angenehmen Erinnerung lächelnd. »Sie sind, wie es scheint, sehr religiös, was man jetzt bei einem jungen Menschen so selten an trifft«, wandte er sich freundlich an den Fürsten Ljow Nikolajewitsch, der mit offenem Mund zuhörte und immer noch ganz überrascht war; der Alte wünschte offenbar, den Fürsten näher kennenzulernen; dieser begann ihn aus gewissen Gründen sehr zu interessieren.

»Pawlischtschew war ein heller Geist und ein Christ, ein wahrer Christ«, sagte der Fürst plötzlich; »wie konnte er nur einen unchristlichen Glauben annehmen? Der Katholizismus ist geradezu ein unchristlicher Glaube!« fügte er mit blitzenden Augen hinzu, indem er vor sich hinschaute und alle Anwesenden gleichsam mit einem Blick zusammenfaßte.

»Na, das ist denn doch zuviel gesagt«, murmelte der Alte und blickte Iwan Fjodorowitsch erstaunt an.

»Wieso soll denn der Katholizismus ein unchristlicher Glaube sein?« fragte Iwan Petrowitsch, sich auf seinem Stuhl umwendend. »Und was für ein Glaube ist er denn?«

»Erstens ist er ein unchristlicher Glaube!« erwiderte der Fürst in großer Erregung und mit übermäßiger Schärfe. »Das ist das erste; und zweitens ist der römische Katholizismus sogar schlimmer als der Atheismus selbst; das ist meine Meinung! Ja, das ist meine Meinung! Der Atheismus predigt nur das Nichts; aber der Katholizismus geht weiter: er predigt einen entstellten Christus, einen durch Verleumdung und Beschimpfung karikierten Christus, das reine Gegenteil von Christus! Er predigt den Antichrist, das schwöre ich Ihnen, das versichere ich Ihnen! Das ist meine persönliche, langgehegte Überzeugung, die mir schon viel Pein bereitet hat ... Der römische Katholizismus glaubt, daß ohne eine universale Herrschgewalt die Kirche auf Erden nicht bestehen kann, und ruft: ›Non possumus!‹ Meiner Ansicht nach ist der römische Katholizismus überhaupt kein Glaube, sondern einfach eine Fortsetzung des weströmischen Kaisertums, und es ist bei ihm alles, vom Glauben angefangen, dieser Idee untergeordnet. Der Papst hat ein Land in Besitz genommen, einen irdischen Thron bestiegen und das Schwert ergriffen; seitdem geht alles in dieser Art weiter; nur haben sie zum Schwert noch die Lüge, die Intrige, den Betrug, den Fanatismus, den Aberglauben und das Verbrechen hinzugefügt; sie haben mit den heiligsten, aufrichtigsten, schlichtesten, wärmsten Empfindungen des Volkes gespielt; alles, alles haben sie für Geld, für gemeine weltliche Macht hingegeben. Und das wäre nicht die Lehre des Antichrists?! Wie hätte da nicht der Atheismus von ihnen ausgehen sollen? Der Atheismus ist von ihnen ausgegangen, geradezu aus dem römischen Katholizismus! Der Atheismus hat zuallererst mit ihnen selbst angefangen: konnten sie denn auch sich selbst Glauben schenken? Er gewann dann aus dem gegen sie bestehenden Widerwillen Stärke; er ist ein Produkt ihrer Lüge und geistigen Kraftlosigkeit! Der Atheismus! Bei uns sind es bisher nur die höheren Schichten, die ihre Wurzel verloren haben und nicht mehr glauben, wie Jewgeni Pawlowitsch neulich sehr schön gesagt hat; aber dort, in Westeuropa, hören schon gewaltige Massen des eigentlichen Volkes auf zu glauben, früher aus Unwissenheit und Unwahrhaftigkeit, aber jetzt schon aus Fanatismus und aus Haß gegen die Kirche und gegen das Christentum.«