Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Der Fürst hielt inne, um Atem zu schöpfen. Er hatte furchtbar schnell gesprochen. Er war blaß und hatte keine Luft. Alle wechselten Blicke miteinander; aber endlich begann der Alte herzlich zu lachen. Fürst N. nahm seine Lorgnette heraus und betrachtete den Fürsten unverwandt. Der deutsche Dichter kam aus seiner Ecke hervorgekrochen und näherte sich mit einem unangenehmen Lächeln dem Tisch.

»Sie ü-ber-trei-ben sehr«, sagte Iwan Petrowitsch, dieses Wort in die Länge ziehend, in etwas gelangweiltem Ton; es klang sogar so, als ob er sich über etwas schämte; »auch in der dortigen Kirche gibt es höchst achtungswerte, tu-gend-hafte Vertreter ...«

»Ich habe nie von einzelnen Vertretern der Kirche gesprochen. Ich rede von dem, was das Wesen des römischen Katholizismus ausmacht; ich rede von Rom. Kann denn eine Kirche vollständig verschwinden? Ich habe das nie gesagt!«

»Einverstanden; aber all das ist bekannt und braucht daher nicht gesagt zu werden, und ... es gehört zur Theologie ...«

»O nein, o nein! Nicht nur zur Theologie, ich versichere es Ihnen, nein! Das geht uns weit mehr an, als Sie meinen. Gerade darin besteht unser ganzer Irrtum, daß wir noch nicht einsehen können, daß das nicht ausschließlich eine theologische Angelegenheit ist! Auch der Sozialismus ist ja ein Produkt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ebenso wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen, als Gegensatz zum Katholizismus im moralischen Sinn, um einen Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion zu bilden, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten, nicht durch Christus, sondern ebenfalls durch Gewalttätigkeit! Das ist ebenfalls eine Freiheit durch Gewalttätigkeit; das ist ebenfalls eine Vereinigung durch Schwert und Blut! ›Erdreiste dich nicht, an Gott zu glauben; erdreiste dich nicht, Eigentum zu besitzen; erdreiste dich nicht, eine eigene Persönlichkeit zu haben! Fraternité ou la mort! Zwei Millionen Köpfe!‹ ›An ihren Taten sollt ihr sie erkennen‹, heißt es in der Schrift. Und glauben Sie nicht, daß das alles so harmlos und für uns ungefährlich wäre; o nein, wir müssen Wider stand leisten, und auf das schnellste, auf das schnellste! Unser Christus muß als Schild dem Westen entgegenstrahlen, unser Christus, den wir uns bewahrt und den sie überhaupt nicht gekannt haben! Wir dürfen uns nicht sklavisch von den Jesuiten angeln lassen, sondern wir müssen ihnen jetzt entgegentreten, indem wir ihnen unsere russische Zivilisation bringen; und man darf bei uns nicht sagen, daß ihre Predigt elegant sei, wie sich soeben jemand geäußert hat ...«

»Aber erlauben Sie, erlauben Sie«, unterbrach ihn Iwan Petrowitsch, der sich unruhig rings umblickte und sogar ordentlich Angst bekam; »alle Gedanken, die Sie da vortragen, sind ja gewiß sehr löblich und patriotisch; aber es ist doch alles im höchsten Grade übertrieben, und ... es wäre das beste, wenn wir das Thema abbrächen ...«

»Nein, übertrieben ist es nicht, eher zu schwach ausgedrückt; ja, es ist zu schwach ausgedrückt, weil ich nicht imstande bin, die richtigen Worte zu finden; aber ...«

»Er-lau-ben Sie!«

Der Fürst schwieg. Er saß, gerade aufgerichtet, auf seinem Stuhl und blickte, ohne sich zu regen, Iwan Petrowitsch mit flammendem Blick an.

»Mir scheint, daß der Vorfall mit Ihrem Wohltäter Sie gar zu sehr übernommen hat«, bemerkte der Alte freundlich, und ohne seine Ruhe zu verlieren. »Sie sind etwas hitzig ... vielleicht infolge Ihres einsamen Lebens. Wenn Sie mehr unter Menschen lebten (und ich hoffe, daß man sich in der guten Gesellschaft über Sie als über einen beachtenswerten jungen Mann freuen wird), so wird sich Ihre Lebhaftigkeit gewiß mildern, und Sie werden sehen, daß das alles weit einfacher ist ... Und zudem gehen solche seltenen Fälle meiner Ansicht nach teils aus unserer Übersättigung hervor, teils aus ... einer Art von Sehnsucht.«

»Ganz richtig, ganz richtig!« rief der Fürst. »Ein vortrefflicher Gedanke! Jawohl, aus einer Art von Sehnsucht, aus einer Art von Sehnsucht! Aber nicht aus Übersättigung, sondern im Gegenteil aus Durst ... nicht aus Übersättigung, darin haben Sie sich geirrt! Aus Durst ist noch zu wenig gesagt: aus brennendem, fieberhaftem Durst! Und ... und glauben Sie nicht, das geschehe in so geringem Umfang, daß man darüber lachen dürfe; verzeihen Sie, man muß verstehen, in die Zukunft zu schauen! Wenn unsere Landsleute das Ufer erreicht haben und zu der Überzeugung gelangt sind, daß das das Ufer ist, dann freuen sie sich darüber gleich dermaßen, daß sie sofort weitergehen, so weit wie nur irgend möglich; woher kommt das? Da wundern Sie sich nun über Pawlischtschew und schreiben alles seiner Verdrehtheit oder seiner Herzensgüte zu; aber dem ist nicht so! Und nicht uns allein, sondern gar Europa setzt in solchen Fällen unsere russische Leidenschaftlichkeit in Erstaunen: wenn bei uns jemand zum Katholizismus übertritt, dann wird er auch gleich unfehlbar Jesuit und gleich einer der schlimmsten; und wenn einer Atheist wird, dann fordert er unfehlbar sofort eine gewaltsame Ausrottung des Gottesglaubens, das heißt also eine Ausrottung mit dem Schwert. Woher kommt das? Woher auf einmal ein solcher Fanatismus? Wissen Sie es wirklich nicht? Das kommt daher, daß der Betreffende ein Vaterland gefunden hat, das ihm hier fehlte, und sich darüber gefreut hat; er hat ein Ufer gefunden, Land gefunden und hat sich hingeworfen, um es zu küssen! Nicht aus bloßer Eitelkeit, nicht immer nur aus häßlichen, eitlen Motiven werden die Russen Atheisten oder Jesuiten, sondern auch aus seelischem Schmerz, aus seelischem Durst, aus Sehnsucht nach Höherem, nach einem festen Ufer, nach einer Heimat, an die sie aufgehört hatten zu glauben, weil sie sie niemals gekannt hatten! Atheist zu werden ist für einen Russen so überaus leicht, leichter als für alle übrigen Menschen in der ganzen Welt! Und unsere Landsleute werden nicht einfach Atheisten, sondern glauben unfehlbar an den Atheismus, wie an einen neuen Glauben, ohne zu bemerken, daß sie an ein Nichts glauben. So groß ist unser seelischer Durst! ›Wer keinen Boden unter sich hat, der hat auch keinen Gott!‹ Dieser Ausdruck rührt nicht von mir her, sondern von einem altgläubigen Kaufmann, mit dem ich auf einer Reise zusammentraf. Er drückte sich allerdings nicht ganz so aus, sondern sagte: ›Wer sich von seiner Heimat losgesagt hat, der hat sich auch von seinem Gott losgesagt.‹ Man braucht nur daran zu denken, daß bei uns die gebildetsten Leute sogar in die Sekte der Geißler eintraten ... Und inwiefern ist übrigens in solchem Falle das Geißlerwesen schlechter als der Nihilismus, das Jesuitentum und der Atheismus? Man kann vielleicht sogar sagen, daß es mehr innerliche Tiefe besitzt! Aber da sieht man, wie weit jene Sehnsucht gelangt ist ...! Man zeige den fieberhaft dürstenden Gefährten des Kolumbus das Gestade der Neuen Welt, man zeige dem Russen das wahre Russentum, man lasse ihn dieses Gold, diesen Schatz finden, der seinen Augen bisher in der Erde verborgen ist! Man zeige ihm, wie sich in der Zukunft die Erneuerung und Auferstehung der ganzen Menschheit vielleicht einzig und allein durch den russischen Gedanken, durch den russischen Gott und den russischen Christus vollziehen wird, und man wird sehen, welch ein starker, wahrheitsliebender, weiser, sanfter Riese vor den Augen der erstaunten Welt heranwachsen wird; erstaunt und erschrocken wird die Welt aber allerdings sein, weil sie von uns nur das Schwert erwartet, das Schwert und Gewalttätigkeit; denn da sie nach sich selbst urteilt, kann sie sich uns nicht ohne Barbarentum vorstellen. So ist das bisher gewesen, und dieses Sehnen wird, je länger es dauert, immer stärker und ...«

Aber hier trat plötzlich ein Ereignis ein, und die Rede des Fürsten wurde in einer ganz unerwarteten Weise unterbrochen.

Diese ganze wilde Tirade, dieser ganze Schwall seltsamer, aufgeregter Worte und ungeordneter, enthusiastischer Gedanken, die in wirrem Durcheinander sich drängten und wechselseitig übersprangen, alles dies ließ ahnen, daß in der Verfassung des so plötzlich und anscheinend ohne jeden Anlaß in Hitze geratenen jungen Mannes eine besondere Gefahr lauerte. Von den im Salon Anwesenden waren alle, die den Fürsten kannten, von ängstlichem (bei manchen sogar mit Scham gepaartem) Erstaunen ergriffen über seine Extravaganz, die so gar nicht zu seiner steten, geradezu schüchtern zu nennenden Zurückhaltung, zu dem besonders feinen in manchen Fällen von ihm bewiesenen Takt und zu seinem instinktiven Gefühl für die obersten Anstandsregeln stimmen wollte. Es war unbegreiflich, woher das gekommen war: die Mitteilung über Pawlischtschew konnte doch nicht die Ursache sein. Die Damen blickten aus ihrer Ecke auf ihn hin wie auf einen Irrsinnigen, und die alte Bjelokonskaja gestand später, wenn die Sache noch eine Minute länger gedauert hätte, so würde sie sich durch die Flucht gerettet haben. Die alten Herren waren zuerst vor Staunen ganz fassungslos; Iwan Fjodorowitschs Vorgesetzter, der General, sah den Fürsten von seinem Stuhl aus mit unzufriedener, strenger Miene an. Der Oberst und Techniker saß völlig regungslos da. Der Deutsche war ganz blaß geworden, behielt aber immer noch sein gekünsteltes Lächeln bei und betrachtete die andern, wie diese wohl darauf reagieren würden. Übrigens hätte die ganze Sache auch »ohne Skandal« durch ein sehr gewöhnliches, natürliches Mittel erledigt werden können, vielleicht sogar in einem Augenblick; Iwan Fjodorowitsch nämlich, der sehr erstaunt war, aber sich schneller als die übrigen gefaßt hatte, hatte schon mehrmals den Fürsten zu hemmen versucht; da seine Bemühungen keinen Erfolg gehabt hatten, so ging er jetzt mit einer bestimmten festen Absicht auf ihn zu. Noch einen Augenblick, und er hätte nötigenfalls vielleicht den Fürsten in freundschaftlicher Weise unter dem Vorwand seiner Krankheit hinausgeführt, was vielleicht sogar wirklich die Wahrheit war, wie denn auch Iwan Fjodorowitsch im stillen daran glaubte ... Aber die Sache nahm eine andere Wendung.

 

Gleich zu Anfang, als der Fürst in den Salon getreten war, hatte er sich möglichst weit entfernt von der chinesischen Vase hingesetzt, vor der ihm Aglaja eine solche Angst eingejagt hatte. Konnte man wohl glauben, daß nach Aglajas gestrigen Worten sich bei ihm eine unauslöschliche Überzeugung, eine sonderbare wunderliche Ahnung festgesetzt hatte, er werde unbedingt morgen diese Vase zerbrechen, möge er sich auch noch so sehr von ihr fernhalten und ein Malheur zu vermeiden suchen? Und doch war es so. Im Laufe des Abends hatten sich andere starke, aber lichte Empfindungen in seine Seele ergossen: wir haben davon bereits gesprochen. Er hatte seine Ahnung vergessen. Als er von Pawlischtschew reden hörte und Iwan Fjodorowitsch ihn von neuem zu Iwan Petrowitsch führte und diesen auf ihn aufmerksam machte, da hatte er sich näher an den Tisch herangesetzt, und zufällig gerade auf den Sessel neben der gewaltigen, schönen chinesischen Vase, die auf einem Sockel stand, beinah neben seinem Ellbogen, fast unmittelbar dahinter.

Bei seinen letzten Worten erhob er sich plötzlich von seinem Platz, machte eine unvorsichtige Bewegung mit dem Arm und mit der Schulter, und ... es ertönte ein allgemeiner Schrei! Die Vase schwankte, anfangs, wie wenn sie noch unschlüssig wäre, ob sie einem der alten Herren auf den Kopf fallen sollte; aber auf einmal neigte sie sich nach der entgegengesetzten Seite, nach der Seite des nur noch soeben entsetzt wegspringenden Deutschen, und fiel zu Boden. Gepolter und Aufschrei folgten; die kostbaren Scherben bedeckten zerstreut den Teppich; alle Anwesenden waren bestürzt und erschrocken – oh, und was in der Seele des Fürsten vorging, das läßt sich schwer schildern; doch ist eine solche Schilderung auch kaum nötig. Aber wir dürfen eine sonderbare Empfindung nicht unerwähnt lassen, die ihn gerade in diesem Augenblick überkam und ihm auf einmal aus der Menge aller andern, unklaren und seltsamen Empfindungen mit aller Deutlichkeit entgegentrat; weder das Gefühl der Scham, noch der Verdruß über das erregte Ärgernis, noch die Furcht vor den Folgen, noch die Plötzlichkeit des Ereignisses, nichts wirkte auf ihn so stark wie der Gedanke, daß die Prophezeiung nun doch eingetroffen sei! Was eigentlich an diesem Gedanken so Packendes war, das hätte er sich selbst nicht klarmachen können; er fühlte nur, daß er im tiefsten Herzen ergriffen war, und stand da wie von einer mystischen Angst erfaßt. Noch ein Augenblick, und es war ihm, als ob sich alles vor ihm weitete und an die Stelle der Angst Licht und Freude und Entzücken träten; die Luft begann ihm zu mangeln, und ... aber der kritische Augenblick ging vorüber. Gott sei Dank, das Befürchtete war nicht eingetreten! Er holte wieder Atem und blickte rings um sich.

Es war, als ob er das wirre Treiben, das um ihn herum entstanden war, nicht verstände; das heißt, er verstand es vollkommen und sah alles; aber er stand da, als sei er dabei ganz unbeteiligt, als gehe ihm die Sache in keiner Weise nahe, als sei er, wie der Unsichtbare im Märchen, in das Zimmer getreten und beobachtete dort Menschen, die ihm fremd, aber interessant waren. Er sah, wie die Scherben weggeräumt wurden, hörte schnelle Gespräche, sah Aglaja, die blaß war und ihn sonderbar anblickte, sehr sonderbar: in ihren Augen war gar kein Haß, gar kein Zorn sichtbar; sie schaute ihn mit einem erschrockenen, aber von freundlicher Teilnahme zeugenden Blick an, während sie den andern einen funkelnden Blick zuwarf ... sein Herz wurde plötzlich von einem wonnigen Schmerz erfüllt. Endlich sah er mit befremdetem Erstaunen, daß alle sich wieder hingesetzt hatten und sogar lachten, als ob nichts geschehen wäre! Noch ein Augenblick, und das Gelächter steigerte sich: sie lachten jetzt über seinen Anblick, wie er stumm und starr dastand; aber sie lachten wohlmeinend und heiter; viele begannen mit ihm zu reden und redeten so freundlich, vor allem Lisaweta Prokofjewna: sie sprach lachend und sagte etwas sehr, sehr Herzliches. Auf einmal fühlte er, daß Iwan Fjodorowitsch ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte; auch Iwan Petrowitsch lachte; aber noch netter, reizender und liebenswürdiger benahm sich der Alte; er faßte den Fürsten bei der Hand, drückte sie sanft und schlug mit der flachen andern Hand leise darauf, wobei er ihm zuredete, wieder zu sich zu kommen, wie man das mit einem erschrockenen kleinen Knaben macht, was dem Fürsten sehr gefiel, und endlich veranlaßte er ihn, sich unmittelbar neben ihn zu setzen. Der Fürst blickte ihm mit einem wonnigen Gefühl ins Gesicht und war immer noch nicht imstande etwas herauszubringen, da ihm der Atem fehlte; das Gesicht des Alten gefiel ihm außerordentlich.

»Wie?« murmelte er endlich; »Sie verzeihen mir wirklich? Auch ... auch Sie, Lisaweta Prokofjewna?«

Das Gelächter nahm zu; dem Fürsten kamen die Tränen in die Augen; er traute seinen Sinnen nicht; und war wie bezaubert.

»Gewiß, es war eine schöne Vase. Ich erinnere mich, sie hier schon seit ungefähr fünfzehn Jahren gesehen zu haben, ja ... seit fünfzehn Jahren ...«, begann Iwan Petrowitsch.

»Ach was! Was ist das für ein Unglück! Auch ein Mensch muß ja einmal ein Ende nehmen; wie wird man da um einen irdenen Topf viel Wesens machen!« sagte Lisaweta Prokofjewna laut. »Hast du denn wirklich einen solchen Schreck bekommen, Ljow Nikolajewitsch?« fügte sie in besorgtem Ton hinzu. »Laß es gut sein, liebster Freund, laß es gut sein! Du ängstigst mich sonst wirklich.«

»Und Sie verzeihen mir alles? Alles, auch abgesehen von der Vase?« sagte der Fürst und wollte sich von seinem Platz erheben; aber der Alte zog ihn sogleich an der Hand wieder nieder.

Er wollte ihn nicht loslassen.

»C'est très curieux et c'est très sérieux!« flüsterte er über den Tisch Iwan Petrowitsch zu, übrigens ziemlich laut.

Der Fürst hatte es vielleicht gehört.

»Ich habe also niemand von Ihnen beleidigt? Sie glauben gar nicht, wie glücklich mich dieser Gedanke macht! Aber es konnte ja auch nicht anders sein! Konnte sich denn hier jemand durch mich beleidigt fühlen? Ich beleidige Sie wieder, indem ich so etwas auch nur denke.«

»Beruhigen Sie sich, mein Freund; das ist eine Übertreibung. Sie haben auch gar keinen Grund, sich so zu bedanken, das ist ja ein schönes, aber übertriebenes Gefühl.«

»Ich danke Ihnen auch gar nicht; ich sehe Sie nur voller Freude an und fühle mich bei Ihrem Anblick so glücklich. Vielleicht rede ich dumm; aber ... ich muß reden, ich muß Ihnen alles erklären ... wenn auch nur aus Selbstachtung.«

Alles an ihm war aufgeregt, unklar und fieberhaft; gut möglich, daß die Worte, die er herausbrachte, oft nicht die waren, die er hatte sagen wollen. Er schien mit seinem Blick zu fragen, ob er reden dürfe. Sein Blick fiel auf die alte Bjelokonskaja.

»Meinetwegen, lieber Freund, fahre nur fort, fahre nur fort; nur komm nicht außer Atem!« bemerkte diese; »du hast auch vorhin schon Atemnot gehabt, und du siehst ja, wie arg es damit geworden ist. Aber fürchte dich nicht zu reden: diese Herren haben schon wunderlichere Käuze gesehen, wie du einer bist; du setzt die weiter nicht in Erstaunen. Und du bist ja auch gar nicht Gott weiß was für ein Sonderling; du hast nur eine Vase zerbrochen und uns einen Schreck eingejagt.«

Der Fürst lächelte, als er sie das sagen hörte.

»Sie waren es ja«, wandte er sich plötzlich an den Alten, »Sie waren es ja, der vor drei Monaten den Studenten Podkumow und den Beamten Schwabrin vor der Verschickung rettete?«

Der Alte errötete sogar ein wenig und murmelte, er möge sich doch beruhigen.

»Und über Sie habe ich im ...sker Gouvernement gehört«, wandte er sich sofort an Iwan Petrowitsch, »daß Sie Ihren abgebrannten Bauern, obwohl sie schon freigelassen waren und Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hatten, umsonst Holz zum Bauen gegeben haben!«

»Nun, das ist eine Ü-ber-treibung«, murmelte Iwan Petrowitsch, nahm aber, angenehm berührt, eine würdevolle Haltung an.

Diesmal jedoch hatte er vollkommen recht damit, daß das eine Übertreibung sei; es war nur ein unzutreffendes Gerücht gewesen, das dem Fürsten zu Ohren gekommen war.

»Und Sie, Fürstin«, wandte er sich auf einmal mit strahlendem Lächeln zu der alten Bjelokonskaja, »haben Sie mich nicht vor einem halben Jahr in Moskau auf Lisaweta Prokofjewnas Brief hin wie einen leiblichen Sohn aufgenommen und mir wirklich wie einem leiblichen Sohn einen Rat gegeben, den ich nie vergessen werde? Erinnern Sie sich wohl?«

»Was redest du für tolles Zeug zusammen?« erwiderte die alte Bjelokonskaja ärgerlich. »Du bist ein guter, aber komischer Mensch: wenn man dir zwei Groschen schenkt, bist du so dankbar, als ob man dir das Leben gerettet hätte. Du denkst, das ist lobenswert, aber es ist widerwärtig.«

Sie wollte schon ernstlich zornig werden, brach aber plötzlich in ein Gelächter aus, und es war diesmal ein gutmütiges Gelächter. Auch Lisaweta Prokofjewnas Gesicht glänzte; nicht minder strahlte Iwan Fjodorowitsch. »Ich habe es ja gesagt, Ljow Nikolajewitsch ist ein Mensch ... ein Mensch ... mit einem Wort, wenn er nur nicht außer Atem käme, wie die Fürstin richtig bemerkt hat ...«, murmelte der General in einer Art von Freudenrausch, indem er die Worte der alten Bjelokonskaja, die ihn beeindruckt hatten, wiederholte.

Nur Aglaja schien traurig zu sein; aber ihr Gesicht glühte immer noch, vielleicht vor Unwillen.

»Er ist wirklich sehr liebenswürdig«, murmelte der Alte wieder, zu Iwan Petrowitsch gewandt.

»Ich kam hierher mit tiefem Schmerz im Herzen«, fuhr der Fürst fort, mit immer wachsender Erregung, immer schneller und schneller, mit immer seltsamerer Begeisterung; »ich ... fürchtete mich vor Ihnen, fürchtete mich vor mir selbst. Am meisten vor mir selbst. Als ich hierher nach Petersburg zurückkehrte, hatte ich mir vorgenommen, jedenfalls unsere ersten, ältesten Familien kennenzulernen, zu denen ich selbst gehöre, unter denen ich selbst durch meine Herkunft einer der ersten Vertreter bin. Nun sitze ich ja jetzt mit ebensolchen Fürsten zusammen, wie ich einer bin, nicht wahr? Ich wollte Sie kennenlernen, und das war notwendig, sehr, sehr notwendig ...! Ich hatte über Sie immer sehr viel Schlechtes gehört, mehr als Gutes: über die Kleinlichkeit und Exklusivität Ihrer Interessen, über Ihre Rückständigkeit, über Ihre geringe Bildung, über Ihre lächerlichen Gewohnheiten – oh, es wird ja so vieles über Sie geschrieben und geredet! Ich bin voller Neugier und Erregung heute hierhergekommen: ich wollte mich selbst persönlich davon überzeugen, ob wirklich diese ganze obere Schicht des russischen Volkes nichts mehr taugt, die ihr zugemessene Zeit bereits abgelebt hat, keine Lebenskraft mehr besitzt, zu weiter nichts mehr fähig ist als zu sterben, aber doch immer noch in kleinlichem Neid einen Kampf gegen die Männer der Zukunft führt und sich ihnen in den Weg stellt, ohne zu merken, daß sie selbst im Absterben begriffen ist. Ich habe diese Meinung auch früher nicht im vollen Umfang für richtig gehalten, weil es bei uns eine höhere Gesellschaftsklasse eigentlich nie gegeben hat, außer etwa der Hofgesellschaft, zu der mancher durch seine Uniform oder durch irgendeinen Zufall gehörte, und jetzt ist auch die ganz verschwunden, nicht wahr, nicht wahr?«

»Nun, das verhält sich ganz und gar nicht so!« bemerkte Iwan Petrowitsch spöttisch lachend.

»Na, nun ist er richtig wieder in Zug gekommen!« sagte die alte Bjelokonskaja verdrießlich.

»Laissez le dire! Er zittert ja am ganzen Leib«, sagte der Alte wieder halblaut in warnendem Ton. Der Fürst hatte sich augenscheinlich nicht mehr in der Gewalt.

»Und was fand ich? Ich sah elegante, gutherzige, verständige Menschen; ich sah einen alten Herrn, der einen jungen Menschen, wie ich, liebkost und anhört; ich sehe Menschen, die imstande sind zu verstehen und zu verzeihen, Russen, die fast ebenso gut und herzlich sind wie die, mit denen ich in andern Schichten zusammengekommen bin, fast in nicht minderem Grad. Urteilen Sie selbst, wie freudig ich erstaunt war! Oh, erlauben Sie mir, diesem Gefühl Ausdruck zu geben! Ich habe oft gehört und selbst stark geglaubt, in der vornehmen Welt sei alles nur Schein, alles nur abgelebte Form; der eigentliche Kern sei vertrocknet; aber nun sehe ich ja selbst, daß das bei uns nicht zutrifft; das mag anderswo so sein, bei uns ist es nicht so. Sind Sie denn sämtlich jetzt Jesuiten und Betrüger? Ich habe vorhin den Fürsten N. etwas erzählen hören: war das nicht gutherziger, sprudelnder Humor? War das nicht wahre Herzensgüte? Können denn solche Worte von den Lippen eines geistig erstorbenen Menschen kommen, dessen Herz eingeschrumpft, dessen Talent versiegt ist? Könnten denn erstorbene Menschen mit mir so umgehen, wie Sie mit mir umgegangen sind? Ist das nicht ein Material für die Zukunft, ein Material, auf das man seine Hoffnungen setzen darf? Können etwa solche Menschen verständnislos und rückständig sein?«

 

»Ich bitte Sie noch einmal, sich zu beruhigen, mein lieber Freund«, sagte der Würdenträger lächelnd. »Wir wollen über all das ein andermal reden, und ich werde mit dem größten Vergnügen ...«

Iwan Petrowitsch räusperte sich und drehte sich auf seinem Sessel um; Iwan Fjodorowitsch machte ungeduldige Bewegungen; sein hoher Vorgesetzter, der General, unterhielt sich mit der Gemahlin des Würdenträgers, ohne dem Fürsten auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken; aber die Gemahlin des Würdenträgers hörte häufig nach diesem hin und blickte zu ihm herüber.

»Nein, wissen Sie, es wird schon das beste sein, wenn ich rede!« fuhr der Fürst in einem neuen fieberhaften Impuls fort, indem er sich vertraulich geradezu an den Alten wandte. »Aglaja Iwanowna hat mir gestern verboten zu reden und mir sogar die Themata genannt, über die ich nicht reden dürfe; sie weiß, daß ich bei Erörterung dieser Themata lächerlich werde! Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt; aber ich weiß ja, daß ich noch wie ein Kind bin. Ich habe kein Recht, meine Gedanken auszusprechen; das habe ich schon immer gesagt; ich habe nur in Moskau, mit Rogoschin, ganz offenherzig gesprochen ... Wir beide haben zusammen Puschkin gelesen, ihn ganz durchgelesen; er kannte nichts davon, nicht einmal den Namen Puschkin ... Ich fürchte immer, durch mein komisches Wesen dem Gedanken und der Hauptidee Eintrag zu tun. Ich verstehe mich nicht auf Gestikulation. Ich mache immer Handbewegungen, die den richtigen entgegengesetzt sind, und das ruft Gelächter hervor und schadet dem Ansehen der Idee. Ich habe auch kein Gefühl für das rechte Maß, und das ist das Wichtigste; das ist sogar das allerwichtigste ... Ich weiß, daß ich am besten täte stillzusitzen und zu schweigen. Wenn ich das durchsetze und schweige, dann mache ich sogar den Eindruck eines ganz vernünftigen Menschen und denke überdies im stillen über dies und jenes nach. Aber jetzt ist es doch besser, wenn ich rede. Ich habe zu reden angefangen, weil Sie mich so nett ansehen; Sie haben ein so nettes Gesicht! Ich habe gestern Aglaja Iwanowna mein Wort darauf gegeben, heute den ganzen Abend zu schweigen.«

»Vraiment?« fragte der Alte lächelnd.

»Aber in manchen Augenblicken denke ich, daß ich Unrecht tue, diese Anschauung zu hegen; denn Offenherzigkeit ist doch wohl ebensoviel wert wie eine schöne Gestikulation? Nicht wahr?«

»Manchmal.«

»Ich will Ihnen alles klarlegen, alles, alles, alles! O ja! Sie denken, ich sei ein Utopist, ein schwärmerischer Idealist? O nein, weiß Gott, meine Gedanken sind immer von ganz einfacher Art ... Sie glauben es nicht? Sie lächeln? Wissen Sie, ich bin manchmal ein gemeiner Mensch, weil ich den Glauben verliere. Vorhin ging ich hierher und dachte: ›Na, wie werde ich mit ihnen reden? Womit muß ich anfangen, damit sie wenigstens etwas verstehen?‹ Was hatte ich für Furcht; aber ich hatte in der Hauptsache Furcht für Sie; es war schrecklich, ganz schrecklich! Aber doch: durfte ich denn Furcht haben? Mußte ich mich nicht schämen, Furcht zu haben? Was tut es denn, daß auf einen Vorgeschrittenen eine solche Menge von Zurückgebliebenen, Schlechten kommt? Und das ist für mich nun gerade ein Grund zur Freude, daß ich jetzt die Überzeugung gewonnen habe, daß es sich gar nicht um eine solche tote Menge handelt, sondern daß das lauter lebensvolles Material ist! Wir dürfen uns auch dadurch nicht beirren lassen, daß wir komisch sind, nicht wahr? Es ist ja freilich wirklich so: wir sind komisch, leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu sehen, verstehen nicht zu begreifen; wir sind ja alle von dieser Art, alle, Sie und ich und alle andern! Sie fühlen sich doch nicht beleidigt dadurch, daß ich Ihnen ins Gesicht sage, Sie seien komisch? Wenn dem aber so ist, sind Sie denn dann nicht lebensvolles Material? Wissen Sie, meiner Ansicht nach ist es manchmal sogar gut, komisch zu sein, sogar das Beste: man kann einander leichter verzeihen und sich leichter miteinander versöhnen; man kann doch auch nicht alles auf einmal verstehen, nicht gleich mit der Vollkommenheit anfangen! Um die Vollkommenheit zu erreichen, muß man vorher gar vieles nicht verstanden haben! Und wenn man etwas gar zu schnell versteht, so ist Gefahr, daß man es nicht ordentlich versteht. Das sage ich Ihnen, die Sie es schon fertiggebracht haben, so vieles zu verstehen und ... nicht zu verstehen. Ich habe jetzt keine Furcht für Sie; Sie sind ja doch nicht böse darüber, daß ein so junger Mensch solche Worte zu Ihnen spricht? Gewiß nicht! Oh, Sie verstehen es, zu vergessen und denen zu verzeihen, von denen Sie beleidigt sind, und denen, die Ihnen keine Beleidigung zugefügt haben; denn am allerschwersten ist es ja, denen zu verzeihen, die uns mit nichts beleidigt haben, und zwar eben deswegen, weil sie uns nicht beleidigt haben und folglich unsere Beschwerde über sie unbegründet ist: das ist es, was ich von den höchstgestellten Leuten erwartet hatte: das ist's, was ich denselben, als ich hierher kam, so schnell wie möglich sagen wollte, obgleich ich nicht wußte, wie ich es sagen sollte ... Sie lachen, Iwan Petrowitsch? Sie denken, ich hätte für die andern Schichten Furcht gehabt, sei ihr Advokat, ein Demokrat, ein Gleichheitsapostel?« Hier lachte er krampfhaft, wie er denn alle Augenblicke ein kurzes, entzücktes Lachen ausstieß. »Ich habe Furcht für Sie, für Sie alle, für Sie alle zusammen. Ich bin ja selbst ein Fürst aus einem alten Geschlecht und sitze hier unter Fürsten. Ich rede hier, um uns alle zu retten; ich rede, damit nicht unser Stand, ohne etwas bewirkt zu haben, im Dunkel verschwindet, nachdem er nichts begriffen, sich um alles herumgestritten und alles verspielt hat. Wozu sollen wir verschwinden und andern unsern Platz einräumen, wenn wir die vordersten und obersten bleiben können? Wenn wir die vordersten sein werden, dann werden wir auch die obersten sein. Wir wollen Diener sein, um die obersten zu werden.«

Er wollte sich losreißen, um von seinem Sessel aufzustehen; aber der Alte hielt ihn beständig fest, betrachtete ihn aber mit wachsender Unruhe.

»Hören Sie! Ich weiß, daß es nicht gut ist, bloß zu sprechen; besser ist es, wenn man einfach ein gutes Beispiel gibt und einfach selbst den Anfang macht ... ich habe bereits den Anfang gemacht ... und ... und ist es denn wirklich möglich, unglücklich zu sein? Oh, was will mein Kummer und mein Leid besagen, wenn ich imstande bin glücklich zu sein? Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorbeigehen kann, ohne darüber glücklich zu sein, daß man ihn sieht; wie man mit einem Menschen reden und nicht darüber glücklich sein kann, daß man ihn liebt! Oh, ich verstehe es nur nicht auszudrücken, aber wie viele schöne Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die sogar der verkommenste Mensch schön findet! Sehen Sie ein Kind an, sehen Sie die Morgen- und Abendröte an, betrachten Sie ein Gräschen, wie es wächst; schauen Sie in die Augen, die liebevoll auf Sie blicken ...«