Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

»Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig; »angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?«

»Ja, er hat es mir gesagt ...«, murmelte der Fürst, beinah halbtot vor Aufregung.

»Nun, dann kommen Sie; Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten müssen. Ich meine, Sie sind doch wohl soweit bei Kräften, daß Sie ausgehen können?«

»Ja, das bin ich; aber ... ist es denn möglich?«

Er stockte sofort wieder und vermochte kein Wort mehr herauszubringen. Dies war sein einziger Versuch, die Wahnsinnige zurückzuhalten; dann folgte er ihr wie ein Sklave. Wie unklar auch seine Gedanken waren, so begriff er doch, daß sie auch ohne ihn dorthin gehen würde und er ihr daher unter allen Umständen folgen müsse. Er ahnte, wie stark ihre Entschlossenheit war; er war außerstande, diesen wilden Drang zu hemmen. Sie gingen schweigsam und redeten auf dem ganzen Weg kaum ein Wort. Es fiel ihm nur auf, daß sie den Weg genau kannte; und als er einen Umweg einschlagen wollte, weil da nicht so viele Menschen gingen, und ihr dies vorschlug, hörte sie, sich anscheinend zur Aufmerksamkeit zwingend, zu und antwortete kurz: »Es ist ja ganz gleich!« Als sie schon ganz nahe bei Darja Alexejewnas Haus waren, einem großen, alten Holzhaus, kam eine luxuriös gekleidete Dame in Begleitung eines jungen Mädchens aus der Haustür; beide stiegen in eine dort wartende elegante Equipage; sie lachten und redeten laut und warfen den beiden Herankommenden keinen Blick zu, wie wenn sie sie gar nicht bemerkten. Kaum war die Equipage weggefahren, als die Haustür sich sofort zum zweiten Mal öffnete und Rogoschin, der schon gewartet hatte, den Fürsten und Aglaja hereinließ und hinter ihnen die Tür zuriegelte.

»Im ganzen Haus ist jetzt niemand außer uns vieren«, bemerkte er laut und sah den Fürsten seltsam an.

Im ersten Zimmer erwartete sie Nastasja Filippowna, gleichfalls sehr einfach und ganz in Schwarz gekleidet; sie stand auf und kam ihnen einige Schritte entgegen; aber sie lächelte nicht und reichte dem Fürsten nicht einmal die Hand.

Ungeduldig hielt sie ihren unruhigen Blick auf Aglaja gerichtet. Beide setzten sich hin, in einiger Entfernung voneinander, Aglaja in einer Ecke des Zimmers auf das Sofa, Nastasja Filippowna am Fenster. Der Fürst und Rogoschin setzten sich nicht und wurden auch gar nicht aufgefordert, sich zu setzen. Der Fürst blickte wieder erstaunt und, wie es schien, mit tiefem Schmerz Rogoschin an; aber dieser lächelte immer noch ganz in seiner alten Art. Das Schweigen dauerte noch einige Augenblicke.

Dann trat endlich ein unheilverkündender Ausdruck auf Nastasja Filippownas Gesicht hervor; ihr Blick wurde starr, fest und haßerfüllt; sie wandte ihn nicht einen Augenblick von ihrer Besucherin ab. Aglaja war offenbar verwirrt, aber nicht etwa schüchtern. Beim Eintritt hatte sie ihrer Nebenbuhlerin kaum einen Blick zugeworfen und dann die ganze Zeit mit niedergeschlagenen Augen dagesessen, wie wenn sie in Gedanken versunken wäre. Ein paarmal ließ sie wie von ungefähr ihren Blick durch das Zimmer gleiten; auf ihrem Gesicht malte sich deutlich der Widerwille, den sie empfand, als ob sie sich hier zu beschmutzen fürchtete. Mechanisch brachte sie ihren Anzug in Ordnung und änderte sogar einmal unruhig ihren Platz, indem sie in die Sofaecke rückte. Sie war sich kaum selbst aller ihrer Bewegungen bewußt; aber gerade durch diese Unbewußtheit wurde das Beleidigende, das in ihnen lag, noch gesteigert. Endlich blickte sie ihrer Gegnerin fest und gerade in die Augen und las sogleich klar alles, was in deren nichts Gutes verheißendem Blick funkelte. Das Weib hatte das Weib verstanden; Aglaja fuhr zusammen.

»Sie wissen gewiß, warum ich Sie zu einer Zusammenkunft eingeladen habe«, sagte sie endlich, aber sehr leise; ja, sie stockte sogar ein paarmal in diesem kurzen Satz.

»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Nastasja Filippowna trocken und kurz.

Aglaja errötete. Vielleicht kam es ihr auf einmal sehr seltsam und wunderlich vor, daß sie jetzt bei dieser Frau, im Haus »dieses Weibes« saß und auf deren Antwort wartete. Beim ersten Ton von Nastasja Filippownas Stimme ging es wie ein Zittern durch ihren Körper. Das alles bemerkte »dieses Weib« natürlich sehr genau.

»Sie verstehen alles ... aber Sie stellen sich absichtlich, als verständen Sie es nicht«, sagte Aglaja so leise, daß es beinahe nur ein Flüstern war, und blickte mit finsterer Miene auf den Boden.

»Was könnte ich für Grund haben, das zu tun?« erwiderte Nastasja Filippowna leise lächelnd.

»Sie wollen aus meiner Lage Vorteil ziehen ... daß ich in Ihrem Haus bin«, fuhr Aglaja mit komischer Ungeschicklichkeit fort.

»An dieser Lage sind Sie schuld und nicht ich!« fuhr Nastasja Filippowna auf einmal auf. »Nicht ich habe Sie eingeladen, sondern Sie mich, und ich weiß bis auf diesen Augenblick noch nicht, warum.«

Aglaja hob den Kopf hochmütig in die Höhe.

»Halten Sie Ihre Zunge im Zaum; ich bin nicht hergekommen, um mit dieser Ihrer Waffe mit Ihnen zu kämpfen ...«

»Ah! Also sind Sie doch hergekommen, um zu kämpfen? Denken Sie sich, ich hatte geglaubt, Sie seien ... geistreicher ...«

Beide blickten einander schon mit unverhohlenem Zorn an. Die eine dieser Frauen war ebendieselbe, die noch kurz vorher solche Briefe an die andere geschrieben hatte. Und das alles war bei der ersten Begegnung und bei den ersten Worten wie vom Wind weggeblasen. Ja, es schien, daß niemand von all den vier Menschen, die sich in diesem Augenblick im Zimmer befanden, dies seltsam fand. Der Fürst, der noch gestern es nicht für möglich gehalten hätte, so etwas auch nur zu träumen, stand jetzt da, sah und hörte, wie wenn er das alles schon längst vorhergesehen hätte. Der phantastischste Traum hatte sich auf einmal in grelle, aufdringliche Wirklichkeit verwandelt. Die eine dieser Frauen empfand in diesem Augenblick gegen die andere bereits eine solche Verachtung und wünschte so lebhaft, ihr das zu zeigen (vielleicht war sie auch nur zu diesem Zweck gekommen, wie Rogoschin am andern Tag äußerte), daß, mochte auch diese andere mit ihrem zerrütteten Geist und ihrem kranken Herzen noch so sehr zur Phantasterei neigen, doch keine vorher gebildete Meinung sich gegenüber der giftigen, echt weiblichen Verachtung von seiten ihrer Rivalin behaupten zu können schien. Der Fürst war davon überzeugt, daß Nastasja Filippowna nicht selbst anfangen werde von den Briefen zu reden; aus ihren funkelnden Blicken konnte er entnehmen, wie sehr sie es jetzt bereuen mochte, diese Briefe geschrieben zu haben; aber er hätte die Hälfte seines Lebens dafür hingegeben, daß Aglaja jetzt nicht von ihnen zu sprechen begänne.

Aber Aglaja schien sich plötzlich zusammenzunehmen und sich mit einem Mal wieder in ihre Gewalt zu bekommen.

»Sie haben mich mißverstanden«, sagte sie; »ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen zu streiten, obgleich ich Sie nicht liebe. Ich ... ich bin zu Ihnen gekommen, um mich mit Ihnen ruhig und verständig auseinanderzusetzen. Als ich Sie hierher rief, hatte ich schon meinen Entschluß gefaßt, worüber ich mit Ihnen reden wollte, und werde von meinem Entschluß nicht abgehen, auch wenn Sie mich gar nicht verstehen sollten. Das würde Ihr Schade sein, nicht der meinige. Ich wollte Ihnen auf das antworten, was Sie mir geschrieben haben, und zwar persönlich, weil mir das zweckmäßiger schien. Hören Sie also meine Antwort auf alle Ihre Briefe! Mir hat der Fürst Ljow Nikolajewitsch leid getan, zum erstenmal gleich an dem Tag, an dem ich ihn kennenlernte, und dann, als ich alles erfuhr, was auf Ihrer Abendgesellschaft vorgegangen war. Er hat mir deswegen leid getan, weil er ein so gutherziger Mensch ist und in seiner Naivität glaubte, er könne mit einer Frau ... die einen solchen Charakter hat ... glücklich sein. Was ich für ihn befürchtet hatte, das traf dann auch ein: Sie konnten ihn nicht lieben; Sie quälten ihn und verließen ihn dann. Sie konnten ihn deswegen nicht lieben, weil Sie zu stolz sind ... nein, nicht stolz, ich habe einen falschen Ausdruck gebraucht, sondern weil Sie eitel sind ... auch das ist nicht das Richtige: Sie sind selbstsüchtig bis ... bis zum Wahnsinn, und zum Beweis dafür dienen auch Ihre Briefe an mich. Sie konnten ihn, einen so schlichten Menschen, nicht lieben und haben ihn vielleicht sogar im stillen verachtet und sich über ihn lustig gemacht; Sie konnten weiter nichts lieben als Ihre Schande und den steten Gedanken daran, daß Sie entehrt und beleidigt seien. Wäre Ihre Schande geringer oder wäre sie gar nicht vorhanden, so würden Sie unglücklicher sein ...« (Es war für Aglaja ein Genuß, diese Worte zu sprechen, die ihr jetzt eilig aus dem Mund stürzten, die sie aber schon längst überdacht und sich zurechtgelegt hatte, schon damals, als sie an die jetzige Zusammenkunft noch nicht einmal im Traum gedacht hatte; mit bösem Blick beobachtete sie auf Nastasja Filippownas schmerzverzerrtem Gesicht die Wirkung dieser Worte.) »Sie erinnern sich«, fuhr sie fort, »er schrieb mir damals einen Brief; er sagt, Sie hätten von diesem Brief gewußt und ihn sogar gelesen. Durch diesen Brief habe ich alles verstanden, mit Sicherheit verstanden; und der Fürst selbst hat es mir neulich bestätigt, das heißt alles, was ich Ihnen jetzt sage, sogar Wort für Wort. Nach Empfang des Briefes begann ich zu warten. Ich sagte mir richtig, daß Sie hierher kommen müßten, weil Sie ohne Petersburg nicht existieren können: Sie sind noch zu jung und zu schön, um sich in der Provinz zu vergraben ... Übrigens sind auch das nicht meine Worte«, fügte sie, stark errötend, hinzu, und von diesem Augenblick an wich die Röte bis zum Schluß ihrer Rede nicht mehr von ihrem Gesicht. »Als ich den Fürsten wiedersah, ging mir sein Schicksal tief zu Herzen. Lachen Sie nicht; wenn Sie darüber lachen, sind Sie nicht wert, es anzuhören ...«

 

»Sie sehen, daß ich nicht lache«, versetzte Nastasja Filippowna traurig und finster.

»Übrigens ist es mir ganz gleich; lachen Sie, soviel Sie wollen! Als ich selbst eine Frage über Sie an ihn richtete, sagte er mir, er liebe Sie schon längst nicht mehr; schon die bloße Erinnerung an Sie sei ihm eine Qual; aber Sie täten ihm leid, und so oft er an Sie denke, sei es ihm, als habe er einen Stich ins Herz bekommen, der lebenslänglich blute. Ich muß Ihnen noch sagen, daß ich noch nie in meinem Leben einem Menschen begegnet bin, der ihm an edler Schlichtheit und grenzenlosem Vertrauen gleichkäme. Aus allem, was er sagte, konnte ich entnehmen, daß ihn jeder, der es wollte, betrügen könne, und daß er jedem, der ihn betrogen, nachher verzeihen werde, und das war der Grund, weshalb ich ihn liebgewann ...«

Aglaja hielt einen Augenblick inne; sie schien erschrocken zu sein und ihren eigenen Ohren nicht zu glauben, daß sie ein solches Wort habe aussprechen können; aber zu gleicher Zeit funkelte ein grenzenloser Stolz in ihrem Blick auf; es machte den Eindruck, als sei ihr jetzt alles gleich; mochte selbst »dieses Weib« über das ihr soeben entschlüpfte Bekenntnis lachen.

»Ich habe Ihnen alles gesagt, und jetzt haben Sie gewiß verstanden, was ich von Ihnen will?«

»Vielleicht habe ich es verstanden; aber sprechen Sie es selbst aus!« antwortete Nastasja Filippowna leise.

Der helle Zorn flammte in Aglajas Gesicht auf.

»Ich wollte von Ihnen erfahren«, sagte sie fest und deutlich, »mit welchem Recht Sie sich in seine Gefühle gegen mich einmischen. Mit welchem Recht haben Sie es gewagt, an mich Briefe zu schreiben? Mit welchem Recht erklären Sie alle Augenblicke ihm und mir, daß Sie ihn lieben, und das, nachdem Sie ihn selbst verlassen haben und von ihm in so beleidigender und ... schmachvoller Weise weggelaufen sind?«

»Ich habe weder ihm noch Ihnen erklärt, daß ich ihn liebe«, sagte Nastasja Filippowna mit sichtlicher Anstrengung. »Und ... Sie haben recht darin, daß ich von ihm weggelaufen bin ...«, fügte sie kaum hörbar hinzu.

»Wie können Sie sagen, Sie hätten es weder ihm noch mir erklärt?« rief Aglaja. »Und Ihre Briefe? Wer hat Sie gebeten, bei uns die Rolle der Heiratsvermittlerin zu übernehmen und mir zuzureden, daß ich ihn nehmen möchte? Ist das nicht eine deutliche Erklärung Ihrer eigenen Empfindungen? Warum drängen Sie sich uns auf? Ich dachte zuerst schon, Sie wollten im Gegenteil dadurch, daß Sie sich in unsere Angelegenheiten einmischten, bei mir eine Abneigung gegen ihn erwecken, damit ich ihn verließe; und erst nachher habe ich verstanden, was dahintersteckte: Sie bildeten sich einfach ein, daß Sie mit all diesen Narrenpossen eine große Heldentat vollführten ... Aber konnten Sie ihn denn überhaupt lieben, wenn Sie in Ihre eigene Eitelkeit so sehr verliebt sind? Warum sind Sie nicht einfach von hier fortgereist, statt mir lächerliche Briefe zu schreiben? Warum heiraten Sie jetzt nicht den edlen Mann, der Sie so liebt und Ihnen die Ehre erwiesen hat, Ihnen seine Hand anzubieten? Der Grund ist nur zu klar: wenn Sie Rogoschin heiraten, wo bleibt dann die Ihnen angetane Schmach? Man erweist Ihnen sogar zu viel Ehre! Jewgeni Pawlowitsch hat von Ihnen gesagt, Sie hätten zuviel Gedichte gelesen und seien zu gebildet für Ihre ... Stellung; Sie seien ein gelehrtes Frauenzimmer und eine Müßiggängerin; nehmen Sie noch Ihre Eitelkeit hinzu, da haben Sie all Ihre Motive ...«

»Und Sie sind keine Müßiggängerin?«

Gar zu rasch und gar zu offen war das Gespräch zu dieser unerwarteten Tonart gelangt, unerwartet insofern, als Nastasja Filippowna noch auf der Fahrt nach Pawlowsk von einem glücklichen Ausgang geträumt hatte, wiewohl sie natürlich eher Schlechtes als Gutes vermutete. Aglaja aber hatte sich in einem Augenblick von ihrem Affekt völlig hinreißen lassen, wie wenn sie von einem steilen Berg hinabführe, und konnte der süßen Lockung, sich zu rächen, nicht widerstehen. Für Nastasja Filippowna war es eine seltsame Überraschung, Aglaja in einem solchen Zustand zu sehen; sie betrachtete sie, als wenn sie ihren Augen nicht traute, und wußte sich im ersten Augenblick schlechterdings nicht zurechtzufinden. Mochte ihr nun, wie Jewgeni Pawlowitsch meinte, die Lektüre von Gedichten den Kopf ein bißchen verdreht haben, oder mochte sie, wovon der Fürst überzeugt war, einfach eine Irrsinnige sein: jedenfalls war diese Frau, obwohl sie manchmal so zynische, dreiste Manieren herauskehrte, in Wirklichkeit weit schamhafter, zartfühlender und vertrauensvoller, als man es von ihr hätte denken sollen. Allerdings waren Bücherwissen, ein Hang zur Träumerei, eine große Verschlossenheit und eine zügellose Phantasie hervorstechende Eigenschaften an ihr; aber dafür besaß sie auch eine bedeutende seelische Kraft und Tiefe ...

Der Fürst hatte dafür Verständnis; sein Leid prägte sich auf seinem Gesicht aus. Aglaja bemerkte dies und zitterte vor Haß.

»Wie können Sie sich erdreisten, so zu mir zu reden?« rief sie, in Erwiderung auf Nastasja Filippownas Bemerkung, in unbeschreiblich hochmütigem Ton.

»Sie haben sich gewiß verhört«, versetzte Nastasja Filippowna erstaunt. »Wie soll ich denn zu Ihnen geredet haben?«

»Wenn Sie eine ehrliche Frau sein wollten, warum haben Sie sich dann von Ihrem Verführer Tozki nicht einfach losgesagt ... ohne alles Komödienspielen?« sagte Aglaja auf einmal ohne äußeren Anlaß.

»Was wissen Sie von meiner Lage, daß Sie über mich zu Gericht zu sitzen wagen?« rief Nastasja Filippowna zusammenfahrend; sie war erschreckend blaß geworden.

»Ich weiß soviel davon, daß Sie nicht arbeiten gegangen, sondern mit dem reichen Rogoschin davongefahren sind, um den gefallenen Engel zu spielen. Ich wundere mich nicht, daß Tozki sich um des gefallenen Engels willen erschießen wollte!«

»Hören Sie auf damit!« erwiderte Nastasja Filippowna voll schmerzlichen Ekels. »Sie haben für mich ebensoviel Verständnis wie ... Darja Alexejewnas Stubenmädchen, das neulich mit seinem Bräutigam vor dem Friedensrichter prozessierte. Und die hätte noch eher Verständnis gehabt ...«

»Wahrscheinlich ist sie ein ehrbares Mädchen, das von seiner Arbeit lebt. Warum reden Sie von einem Stubenmädchen mit solcher Geringschätzung?«

»Meine Geringschätzung gilt nicht der Arbeit, sondern Ihnen, wenn Sie von der Arbeit reden.«

»Wenn Sie hätten ehrbar leben wollen, dann wären Sie Wäscherin geworden.«

Beide standen auf und blickten einander mit bleichen Gesichtern an.

»Aglaja, halten Sie ein! Sie sind ungerecht!« rief der Fürst fassungslos.

Rogoschin lächelte nicht mehr, sondern hörte mit zusammengepreßten Lippen und verschränkten Armen zu. »Da, seht sie an!« sagte Nastasja Filippowna, zitternd vor zorniger Erregung. »Seht dieses Fräulein an! Und ich hatte sie für einen Engel gehalten! Sind Sie denn ohne Gouvernante zu mir gekommen, Aglaja Iwanowna ...? Aber wenn Sie wollen ... wenn Sie wollen, so werde ich Ihnen sofort geradeheraus ungeschminkt sagen, warum Sie zu mir gekommen sind. Sie haben Angst gehabt; darum sind Sie gekommen!«

»Angst vor Ihnen?« fragte Aglaja, ganz außer sich vor verständnislosem, empörtem Erstaunen darüber, daß die andere so mit ihr zu reden wagte.

»Allerdings, vor mir! Wenn Sie sich entschlossen, zu mir zu kommen, so geschah das aus Furcht. Und wen man fürchtet, den schätzt man nicht gering. Nein, wenn ich jetzt daran denke, daß ich Sie hochgeschätzt habe, sogar noch bis zu diesem Augenblick! Und wollen Sie wissen, warum Sie vor mir Angst haben, und welches jetzt Ihre Hauptabsicht ist? Sie wollten selbst persönlich feststellen, wen von uns beiden er mehr liebt, mich oder Sie; denn Sie sind schrecklich eifersüchtig ...«

»Er hat mir bereits gesagt, daß er Sie haßt ...«, flüsterte Aglaja kaum vernehmbar.

»Vielleicht; ich bin seiner vielleicht nicht wert; aber ... aber ich glaube, Sie haben gelogen! Er kann mich nicht hassen, und er hat das nicht sagen können! Ich bin übrigens bereit, Ihnen in Anbetracht Ihrer Lage zu verzeihen ... aber ich habe doch eine bessere; Meinung von Ihnen gehabt; ich glaubte, Sie seien klüger ... und auch schöner, wahrhaftig ...! Nun, dann nehmen Sie Ihren Schatz hin ... da ist er, er blickt nach Ihnen hin und kann sich gar nicht fassen; nehmen Sie ihn für sich, aber unter einer Bedingung: gehen Sie augenblicklich weg! Augenblicklich!«

Sie sank auf einen Sessel und brach in Tränen aus. Aber auf einmal leuchtete ein neuer Gedanke in ihren Augen auf; sie blickte Aglaja fest und unverwandt an und stand von ihrem Sitz auf.

»Aber wenn Sie wollen, so werde ich ihm jetzt gleich be-feh-len, hören Sie wohl? ich werde ihm be-feh-len, und er wird sich sofort von Ihnen lossagen und für immer bei mir bleiben und mich heiraten, und Sie werden allein wieder nach Hause laufen. Wollen Sie, wollen Sie?« rief sie wie eine Wahnsinnige, vielleicht auch ohne selbst daran zu glauben, daß sie solche Worte sprechen konnte. Aglaja stürzte erschrocken zur Tür hin; aber in der Tür blieb sie wie angenagelt stehen und hörte weiter zu.

»Wenn Sie wollen, werde ich Rogoschin fortjagen. Sie hatten wohl gedacht, ich würde mich Ihnen zuliebe schon mit Rogoschin trauen lassen? Gleich diesen Augenblick werde ich in Ihrer Gegenwart rufen: ›Mach, daß du wegkommst, Rogoschin!‹, und zum Fürsten werde ich sagen: ›Denkst du noch an das, was du mir versprochen hast?‹ O Gott, warum habe ich mich nur so vor ihnen allen erniedrigt? Und du, Fürst, hast du mir nicht beteuert, du würdest an meiner Seite bleiben, was auch immer mit mir geschehen möge, und mich niemals verlassen, und du hättest mich lieb und verziehest mir alles und ... und achtetest mich? Ja, auch das hast du gesagt! Und ich bin damals von dir weggelaufen, nur um dir deine Freiheit wiederzugeben; aber jetzt will ich nicht mehr! Warum hat sie mich auch wie eine Dirne behandelt? Frage Rogoschin, ob ich eine Dirne bin; der wird es dir sagen! Was wirst du jetzt tun, wo sie mich beschimpft hat, und noch dazu in deiner Gegenwart? Wirst auch du dich von mir abwenden, ihr deinen Arm bieten und sie mit dir fortnehmen? Dann mögest du verflucht sein; denn du bist der einzige Mensch gewesen, an den ich geglaubt habe. Geh weg, Rogoschin, dich kann ich nicht brauchen!« schrie sie fast besinnungslos; sie holte die Worte mit Anstrengung aus der Brust hervor; ihr Gesicht war verzerrt, ihre Lippen trocken. Offenbar glaubte sie selbst nicht im geringsten an einen Erfolg ihrer prahlerischen Rede, wünschte aber doch, diese Situation noch um einen Augenblick zu verlängern und sich selbst zu täuschen. Ihre Erregung war so stark, daß sie vielleicht den Tod zur Folge haben konnte; wenigstens glaubte das der Fürst. »Da steht er! Sehen Sie hin!« rief sie endlich Aglaja zu und wies mit der Hand auf den Fürsten. »Wenn er nicht sofort zu mir herantritt und mich nimmt und Sie verläßt, dann mögen Sie ihn für sich behalten; ich trete ihn Ihnen ab; ich kann ihn nicht brauchen ...«

Sie sowohl wie Aglaja standen nun schweigend da, wie wenn sie auf etwas warteten, und blickten beide wie geistesgestört nach dem Fürsten hin. Aber der verstand die ganze Bedeutung dieser Herausforderung vielleicht nicht; ja man kann sogar sagen: er verstand sie gewiß nicht. Er sah nur das verzweifelte, irrsinnige Gesicht vor sich, das, wie er sich einmal Aglaja gegenüber ausgedrückt hatte, bei ihm immer die Empfindung hervorrief, als ob ihm das Herz von einem Stich blute. Er konnte diesen Anblick nicht länger ertragen, wandte sich an Aglaja und sagte, auf Nastasja Filippowna weisend, im Ton vorwurfsvoller Bitte:

»Wie ist es nur möglich! Sie ist ja doch so unglücklich!«

Aber kaum hatte er das gesagt, als er unter Aglajas furchtbarem Blick verstummte. In diesem Blick lag so viel Schmerz und gleichzeitig ein so grenzenloser Haß, daß er die Hände zusammenschlug, aufschrie und zu ihr hinstürzte; aber es war bereits zu spät. Sie hatte auch den kurzen Augenblick seines Schwankens nicht ertragen können, schlug die Hände vor das Gesicht, rief: »Ach, mein Gott!« und stürzte aus dem Zimmer. Rogoschin eilte ihr nach, um ihr die Haustür aufzuriegeln.

Auch der Fürst lief ihr nach; aber als er zur Schwelle gelangt war, umfingen ihn zwei Arme. Nastasja Filippownas gramvolles, entstelltes Gesicht blickte ihn starr an; die bläulichen Lippen bewegten sich und fragten:

»Willst du ihr nach? Willst du ihr nach?«

Sie fiel ihm bewußtlos in die Arme. Er hob sie auf, trug sie ins Zimmer, legte sie auf einen Lehnsessel und stand über sie gebeugt in stumpfer Erwartung da. Auf einem Tischchen stand ein Glas mit Wasser; der zurückkehrende Rogoschin ergriff es und spritzte ihr Wasser ins Gesicht; sie schlug die Augen auf und war eine Weile noch völlig verständnislos; aber auf einmal blickte sie um sich, zuckte zusammen, schrie auf und stürzte zum Fürsten hin.

 

»Mein! Mein!« rief sie. »Ist das stolze Fräulein weg? Hahaha!« lachte sie krampfhaft. »Hahaha! Ich hatte ihn diesem Fräulein abtreten wollen! Aber warum? Wozu? Ich Wahnsinnige ...! Geh weg, Rogoschin! Hahaha!«

Rogoschin blickte die beiden starr an, ohne ein Wort zu sagen; dann nahm er seinen Hut und ging hinaus. Zehn Minuten darauf saß der Fürst neben Nastasja Filippowna, blickte sie unverwandt an und streichelte ihr mit beiden Händen Kopf und Gesicht wie einem kleinen Kind. Er lachte in Erwiderung auf ihr Lachen und war bereit, in Erwiderung auf ihre Tränen zu weinen. Er sprach nicht, sondern hörte geduldig ihr leidenschaftliches, glückseliges, unzusammenhängendes Gestammel an, verstand kaum etwas davon, lächelte aber leise, und sobald es ihm schien, als wolle sie wieder anfangen, sich zu grämen oder zu weinen, Vorwürfe zu erheben oder sich zu beklagen, begann er sogleich wieder, ihr den Kopf zu streicheln und zärtlich die Hände über ihre Wangen zu führen, indem er ihr wie einem Kind tröstend zuredete.