Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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VII

Jetzt von etwas ganz anderem.

Einen Monat vorher, das heißt einen Monat vor dem 19. September, faßte ich in Moskau den Entschluß, mich von all den Meinigen loszusagen und vollständig in meiner Idee aufzugehen. Ich schreibe absichtlich hin: »in meiner Idee aufzugehen«, weil dieser Ausdruck meinen Hauptgedanken, das Ziel, für das ich auf der Welt bin, ziemlich vollständig bezeichnet. Was das für eine Idee ist, davon wird später noch sehr viel zu sprechen sein. In der Einsamkeit meines langjährigen, träumerischen Moskauer Lebens hatte sich diese Idee schon in der sechsten Gymnasialklasse in meinem Kopf gebildet und mich seitdem wohl keinen Augenblick verlassen. Sie verschlang mein ganzes Leben. Ich hatte auch vorher mich oft Träumereien hingegeben und gleich von meiner Kindheit an in jenem bewußten Traumland gelebt; aber als diese wichtigste, alles verschlingende Idee in meinem Kopf aufgetaucht war, hatten meine Träumereien an Kraft gewonnen, eine bestimmte Form angenommen und sich aus törichten zu verständigen entwickelt. Das Gymnasium war den Träumereien nicht hinderlich gewesen; es war ebensowenig der Idee hinderlich. Ich füge jedoch hinzu, daß ich im letzten Schuljahr nur ein schlechter Schüler war, während ich bis zur siebenten Klasse immer zu den ersten gehört hatte; es war dies die Folge eben jener Idee, die Folge eines vielleicht unrichtigen Schlusses, den ich aus ihr gezogen hatte. Auf diese Weise war nicht das Gymnasium der Idee hinderlich, sondern die Idee dem Gymnasium. Sie erwies sich auch für das Universitätsstudium hinderlich. Als ich das Gymnasium absolviert hatte, nahm ich mir sogleich vor, nicht nur mit allen meinen Angehörigen vollständig zu brechen, sondern nötigenfalls auch mit der ganzen Welt, obwohl ich damals erst zwanzig Jahre alt war. So schrieb ich denn durch die angemessene Mittelsperson an die angemessene Stelle in Petersburg, man möge mich künftighin völlig in Ruhe lassen, mir kein Geld mehr zu meinem Unterhalt schicken und mich möglichst ganz vergessen (das heißt, selbstverständlich falls man sich meiner überhaupt noch erinnere), und zum Schluß teilte ich mit, daß ich »um keinen Preis« die Universität beziehen würde. Ich stand vor folgendem unausweichlichem Dilemma: entweder mußte ich mir den Besuch der Universität und den weiteren Ausbau meiner Bildung versagen, oder ich mußte die sonst sofort mögliche Umsetzung der »Idee« in die Tat noch um vier Jahre hinausschieben. Ich entschied mich, ohne zu schwanken, für die Idee, von deren Richtigkeit ich wie von der eines mathematischen Lehrsatzes überzeugt war. Wersilow, mein Vater, den ich erst ein einziges Mal in meinem Leben als zehnjähriger Knabe gesehen hatte (und der in diesem einen Augenblick einen starken Eindruck auf mich gemacht hatte), Wersilow forderte mich in Beantwortung meines Briefes, der übrigens nicht an ihn gerichtet gewesen war, selbst in einem eigenhändigen Schreiben auf, nach Petersburg zu kommen, und stellte mir eine private Anstellung in Aussicht. Diese Aufforderung von seiten eines trockenen, stolzen, mir gegenüber hochmütigen und nachlässigen Mannes, der mich in die Welt gesetzt, mich zu fremden Leuten gegeben, mich gar nicht kennengelernt und dies niemals auch nur bereut hatte (wer weiß, vielleicht hatte er von meinem Dasein überhaupt nur eine unklare, dunkle Vorstellung, da sich später herausstellte, daß auch das Geld für meinen Unterhalt in Moskau nicht von ihm, sondern von anderen gezahlt worden war), die Aufforderung von Seiten dieses Mannes, sage ich, der sich so plötzlich meiner erinnerte und mich eines eigenhändigen Schreibens würdigte, diese mir schmeichelhafte Aufforderung entschied mein Schicksal. In seinem Briefchen (es war nur eine knappe Seite kleinen Formats) gefiel mir seltsamerweise unter anderem besonders, daß er des Universitätsstudiums mit keinem Wort Erwähnung tat, mich nicht bat, meinen Entschluß zu ändern, mir keine Vorwürfe machte, weil ich nicht studieren wollte, kurz, keine väterlichen Redensarten von der üblichen Art machte, und dabei war gerade dies von seiner Seite insofern häßlich, als es seine Gleichgültigkeit mir gegenüber noch stärker zutage treten ließ. Ich entschloß mich, hinzufahren, auch deshalb, weil dies meinem Hauptplan nicht hinderlich war. ›Ich will sehen, was daraus wird‹, dachte ich, ›jedenfalls binde ich mich an sie nur für eine gewisse Zeit, vielleicht nur für ganz kurze Zeit. Sowie ich aber sehen sollte, daß dieser wenn auch nur konventionelle und unbedeutende Schritt mich doch von meinem Hauptplan entfernt, werde ich sogleich mit ihnen brechen, alles im Stich lassen und mich in mein Gehäuse zurückziehen.‹ Geradeso sagte ich zu mir: in mein Gehäuse! ›Ich werde mich wie eine Schildkröte in meinem Gehäuse verbergen‹, dieser Vergleich gefiel mir sehr. ›Ich werde nicht mehr allein sein‹, fuhr ich in meinen Überlegungen fort, während ich diese ganzen letzten Tage in Moskau wie betäubt umherging, ›ich werde jetzt nie mehr allein sein wie bisher so viele schreckliche Jahre hindurch: ich werde jetzt meine Idee haben, der ich niemals werde untreu werden, nicht einmal, wenn ich an allen Menschen dort Gefallen fände und sie mich glücklich machten und ich mit ihnen sogar zehn Jahre zusammen lebte!‹ Aber, wie ich im voraus bemerke, gerade diese Empfindung, gerade diese Zwiespältigkeit meiner schon in Moskau festgelegten Pläne und Ziele, eine Zwiespältigkeit, deren ich mir in Petersburg jederzeit bewußt blieb (denn ich weiß nicht, ob es in Petersburg einen Tag gegeben hat, den ich mir nicht als den endgültigen Termin angesetzt hätte, um mit ihnen zu brechen und davonzugehen), diese Zwiespältigkeit, sage ich, war wohl eine der Hauptursachen der vielen Unvorsichtigkeiten, Schändlichkeiten, ja Gemeinheiten und natürlich auch Dummheiten, die ich in diesem Jahr begangen habe.

Hauptplan

Natürlich, ich bekam auf einmal einen Vater, den ich vorher noch nie gehabt hatte. Dieser Gedanke berauschte mich geradezu, sowohl während der Reisevorbereitungen in Moskau, als auch während ich dann im Zug saß. Daß er mein Vater war, schien mir dabei noch nicht das wichtigste, und von Zärtlichkeiten war ich kein Freund, aber wie war es möglich gewesen, daß dieser Mensch mich nicht hatte kennen wollen und mich gedemütigt hatte, während ich diese ganzen Jahre über mich gleichsam in Träumen an ihn angesaugt hatte (wenn man sich bei Träumen so ausdrücken kann)? In allen meinen Träumereien, von meiner Kindheit an, hatte ich mich mit ihm beschäftigt, meine Gedanken hatten sich um ihn gedreht, er war immer der definitive Endpunkt gewesen. Ich weiß nicht, ob ich ihn gehaßt oder geliebt habe, aber er hatte mit seiner Persönlichkeit alle meine Gedanken an die Zukunft, alle meine Spekulationen auf das Leben angefüllt – und das war ganz von selbst gekommen, zugleich mit meinem Heranwachsen.

Zu meiner Abreise von Moskau trug auch noch ein mächtiger Umstand bei, eine Verlockung, die schon drei Monate vor der Abreise (also zu einer Zeit, wo von Petersburg noch gar nicht die Rede war) mein Herz hatte höher schlagen lassen! Ich fühlte mich nach jenem unbekannten Ozean schon deshalb hingezogen, weil ich ohne weiteres als Herrscher auf ihn hinausfahren konnte, sogar als Herr über fremde Schicksale, und über die Schicksale von was für Menschen! Aber nur großmütige, nicht despotische Gefühle wallten in meinem Innern, das schicke ich voraus, damit meine Worte nicht zu falschen Auffassungen Anlaß geben. Zudem konnte Wersilow denken (falls er mich überhaupt für wert hielt, seine Gedanken auf mich zu richten), da komme so ein junger Bursche, der eben das Gymnasium durchgemacht habe, ein Jüngling, und blicke die Welt mit erstaunten Augen an. Aber dabei kannte ich bereits sein ganzes Geheimnis und hatte ein sehr wichtiges Schriftstück in Händen, für das er (jetzt weiß ich das bereits zuverlässig) mehrere Jahre seines Lebens hingegeben haben würde, wenn ich ihm damals das Geheimnis entdeckt hätte. Ich merke übrigens, daß ich Rätsel aufgegeben habe. Ohne Tatsachen kann man Gefühle nicht schildern. Überdies wird von alledem am gegebenen Ort noch genug und übergenug die Rede sein; darum habe ich ja auch zur Feder gegriffen. Aber so zu schreiben wie jetzt eben, das nimmt sich wie Phantasterei oder Wolkennebel aus.

VIII

Um nun endlich definitiv zum 19. September zu kommen, will ich nur noch in aller Kürze und sozusagen im Vorübergehen bemerken, daß ich sie alle, das heißt Wersilow, meine Mutter und meine Schwester (die letztere sah ich zum erstenmal in meinem Leben), in sehr bedrängten Verhältnissen vorfand: sie waren fast bettelarm oder standen doch unmittelbar vor völliger Armut. Ich hatte davon schon in Moskau gehört, aber doch nicht alles geahnt, was ich nun mit eigenen Augen sah. Ich war von klein auf gewöhnt gewesen, mir diesen Menschen, diesen »meinen künftigen Vater«, beinahe mit einer Art von Glorienschein vorzustellen, und konnte ihn mir gar nicht anders denken als überall auf dem ersten Platz. Wersilow hatte bisher nie mit meiner Mutter in ein und derselben Wohnung gewohnt, sondern ihr immer eine besondere gemietet; allerdings hatte er das nur aus den in solchen Kreisen üblichen gemeinen »Anstandsrücksichten« getan. Aber jetzt wohnten sie alle zusammen in einem Holzhäuschen, in einer Seitenstraße des Semjonowskij Polk. Alle ihre Sachen waren bereits versetzt, so daß ich meiner Mutter ohne Wersilows Wissen meinen heimlichen Schatz, sechzig Rubel, gab. Ich sage: meinen heimlichen Schatz, denn diese Summe hatte ich mir von meinem Taschengeld, das mir im Betrag von fünf Rubeln monatlich verabfolgt wurde, im Laufe von zwei Jahren zusammengespart; begonnen hatte ich mit dem Sparen gleich am ersten Tag, als mir meine »Idee« gekommen war, und darum durfte Wersilow von diesem Geld keine Silbe wissen. Davor zitterte ich.

heimlichen

Diese Beihilfe war nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Meine Mutter arbeitete, und meine Schwester nahm gleichfalls Näharbeit an; Wersilow dagegen ging müßig, betrug sich launenhaft und hatte eine Menge seiner früheren, ziemlich kostspieligen Gewohnheiten beibehalten. Er murrte gewaltig, besonders über das Mittagessen, und sein ganzes Benehmen war völlig despotisch. Aber meine Mutter, meine Schwester, Tatjana Pawlowna und die ganze aus einer Menge von Frauenspersonen bestehende Andronikowsche Familie (Andronikow war ein drei Monate vorher verstorbener Bürovorsteher, der neben seinem Amt Wersilows Geschäftsangelegenheiten besorgt hatte) verehrten ihn andächtig wie einen Fetisch. Ich hatte mir so etwas gar nicht vorstellen können. Ich bemerke, daß er neun Jahre vorher unvergleichlich eleganter gewesen war. Ich habe bereits gesagt, daß er in meinen Träumereien mit einer Art Glorienschein umgeben war, und daher konnte ich es nicht begreifen, wie er in einer Zeit von nicht mehr als neun Jahren so hatte altern und sich zu seinem Nachteil verändern können; das stimmte mich sofort traurig und flößte mir Mitleid und Scham ein. Sein Anblick war einer der peinlichsten Eindrücke, die ich gleich nach meiner Ankunft hatte. Übrigens war er noch durchaus kein alter Mann, er war erst fünfundvierzig Jahre alt; bei genauerer Betrachtung fand ich in seiner immer noch schönen Erscheinung sogar etwas Anziehenderes, als das, was in meiner Erinnerung haftete. Es war jetzt weniger äußerer Glanz, weniger Vornehmheit als damals vorhanden, aber das Leben hatte diesem Gesicht einen viel interessanteren Ausdruck als früher aufgeprägt.

 

Indessen bildete die Armut nur den zehnten oder zwanzigsten Teil seines Mißgeschicks, und ich wußte das nur zu gut. Außer der Armut lag noch etwas sehr viel Ernsteres vor – um gar nicht davon zu reden, daß er immer noch Hoffnung hatte, einen Erbschaftsprozeß zu gewinnen, den er schon vor einem Jahr gegen die Fürsten Sokolskij angestrengt hatte; es war daher nicht unmöglich, daß er in allernächster Zeit ein Gut im Werte von sechzigtausend, vielleicht sogar noch mehr Rubeln erhielt. Ich habe schon oben gesagt, daß dieser Wersilow in seinem Leben drei Erbschaften durchgebracht hatte, und da war es nun möglicherweise wieder eine Erbschaft, die ihm aus der Klemme half! Die gerichtliche Entscheidung stand unmittelbar bevor. Im Hinblick darauf war ich auch hergereist. Allerdings gab ihm auf die bloße Hoffnung hin niemand Geld, so daß er nirgends welches borgen konnte; sie mußten daher einstweilen aushalten.

Aber Wersilow ging auch zu niemandem hin, obwohl er manchmal den ganzen Tag fortblieb. Es war schon mehr als ein Jahr her, daß man ihn aus der vornehmen Gesellschaft ausgestoßen hatte. Diese Affäre war mir trotz all meiner Bemühungen in der Hauptsache unklar geblieben, obwohl ich schon einen ganzen Monat lang in Petersburg wohnte. War Wersilow schuldig oder nicht? Das war für mich eine wichtige Frage, und ebendeswegen war ich hergereist! Alle hatten sich von ihm abgewandt, unter anderen auch alle einflußreichen, vornehmen Leute, mit denen Beziehungen zu unterhalten er sein ganzes Leben lang besonders gut verstanden hatte, und zwar war dies geschehen infolge von Gerüchten über eine sehr gemeine und (was in den Augen der »vornehmen Gesellschaft« das allerschlimmste war) aufsehenerregende Handlung, die er vor mehr als einem Jahr in Deutschland begangen haben sollte; es hieß sogar, er habe damals allzu öffentlich eine Ohrfeige erhalten, und zwar gerade von einem der Fürsten Sokolskij, habe aber nicht mit einer Forderung zum Duell geantwortet. Sogar seine Kinder (die legitimen), der Sohn und die Tochter, hatten sich von ihm losgesagt und wohnten von ihm getrennt. Allerdings hatten der Sohn und die Tochter durch die Familie Fanariotow und durch den alten Fürsten Sokolskij (Wersilows ehemaligen Freund) Verkehr mit den höchsten Kreisen. Übrigens fand ich, während ich ihn diesen ganzen Monat lang aufmerksam beobachtete, in ihm einen hochmütigen Menschen, der nicht von der Gesellschaft aus ihrem Kreis ausgeschlossen war, sondern vielmehr seinerseits die Gesellschaft weggejagt hatte, – eine so selbstbewußte Miene machte er. Aber hatte er ein Recht, eine solche Miene zu machen? Das war's, worüber ich mich aufregte! Ich mußte unbedingt in kürzester Frist die volle Wahrheit erfahren; denn ich war hergereist, um über diesen Menschen das Urteil zu fällen. Ich hielt meine Macht noch vor ihm verborgen, aber ich mußte ihn entweder anerkennen oder ihn gänzlich von mir stoßen. Das letztere wäre mir gar zu schmerzlich gewesen, und dieser Gedanke bereitete mir Qualen. Ich will nun endlich ein volles Geständnis ablegen: dieser Mensch war mir teuer!

ausgestoßen

Vorläufig lebte ich mit ihnen in ein und derselben Wohnung, arbeitete und beherrschte mich nur mit Mühe so weit, daß ich nicht grob wurde. Ja, es gelang mir nicht einmal, mich so weit zu beherrschen. Obwohl ich schon einen Monat bei ihnen lebte, kam ich mit jedem Tag mehr zu der Überzeugung, daß ich es absolut nicht fertigbrachte, mich mit der Bitte um endgültige Aufklärung an ihn zu wenden. Der stolze Mensch stand geradezu als ein Rätsel vor mir, das mich in tiefster Seele beleidigte. Er benahm sich gegen mich sogar liebenswürdig und scherzte mit mir, aber mir wären Streit und Zank lieber gewesen als diese Scherze. Alle meine Gespräche mit ihm trugen immer den Charakter einer gewissen Zweideutigkeit, oder, einfacher gesagt, er bediente sich dabei eines eigentümlich spöttischen Tones. Er nahm mich nach meiner Ankunft aus Moskau gleich von vornherein nicht für voll. Ich konnte nicht begreifen, warum er das tat. Allerdings erreichte er dadurch, daß ich in sein Innerstes nicht hineinschauen konnte; aber ich selbst hätte mich nicht dazu erniedrigt, ihn zu bitten, daß er ernst mit mir umgehen möchte. Außerdem hatte er gewisse wunderbare, unwiderstehliche Manieren an sich, gegen die ich nicht aufkam. Kurz gesagt, er behandelte mich wie einen ganz grünen Jungen, was ich kaum ertragen konnte, obgleich ich gewußt hatte, daß es so geschehen würde. Infolgedessen hörte ich selbst auf, ernst zu sprechen, und wartete das Weitere ab; ja, ich redete überhaupt fast gar nicht mehr. Ich wartete auf jemand, dessen Ankunft in Petersburg es mir ermöglichen sollte, endgültig die Wahrheit zu erfahren; das war meine letzte Hoffnung. Jedenfalls bereitete ich mich darauf vor, endgültig mit ihnen zu brechen, und traf dazu schon alle Maßnahmen. Meine Mutter tat mir leid, aber ... »entweder er oder ich« – diese Alternative wollte ich ihr und meiner Schwester stellen. Sogar den Tag hatte ich schon festgesetzt; vorläufig aber ging ich in meinen Dienst.

Zweites Kapitel
I

An diesem 19. September sollte ich auch mein erstes Gehalt für den ersten Monat meiner Petersburger Tätigkeit in meiner »privaten« Stellung erhalten. Wegen dieser Tätigkeit hatte man mich nicht vorher gefragt, sondern mich einfach hingetan, ich glaube, gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft. Das war sehr rücksichtslos, und es wäre fast meine Pflicht gewesen, gegen eine solche Behandlung zu protestieren. Diese Stelle war im Hause des alten Fürsten Sokolskij. Aber gleich damals zu protestieren, das hätte den sofortigen Bruch mit ihnen bedeutet, und obgleich mich das durchaus nicht schreckte, so wäre es doch der Erreichung meiner eigentlichen Ziele hinderlich gewesen, und daher hatte ich die Stelle einstweilen stillschweigend angenommen, wobei ich durch dieses Stillschweigen meine Würde wahrte. Erklärend will ich hier gleich zu Anfang bemerken, daß dieser Fürst Sokolskij, ein reicher Mann und Geheimrat, in keiner Weise mit jenen Moskauer Fürsten Sokolskij verwandt war (einer schon seit Generationen gänzlich verarmten Familie), mit denen Wersilow prozessierte. Sie führten nur den gleichen Namen. Nichtsdestoweniger interessierte sich der alte Fürst sehr für sie und mochte besonders einen von diesen Fürsten, sozusagen das Oberhaupt der Familie, einen jungen Offizier, gut leiden. Wersilow hatte noch vor kurzem auf die geschäftlichen Angelegenheiten dieses alten Mannes einen großen Einfluß ausgeübt und war sein Freund gewesen, ein sonderbarer Freund, da der bedauernswerte Fürst, wie ich wahrnahm, eine gewaltige Angst vor ihm hatte, nicht nur zu der Zeit, als ich eintrat, sondern, wie es schien, immer, während der ganzen Dauer der Freundschaft. Übrigens hatten sie einander schon lange Zeit nicht mehr gesehen; die ehrlose Handlung, deren Wersilow beschuldigt wurde, betraf gerade die Familie des Fürsten; aber da war plötzlich Tatjana Pawlowna als Helferin erschienen, und durch ihre Vermittlung war ich bei dem alten Fürsten untergebracht worden, der einen »jungen Mann« als Hilfe in seinem Arbeitszimmer wünschte. Dabei hatte sich herausgestellt, daß er den lebhaften Wunsch hatte, Wersilow einen Gefallen zu erweisen, sozusagen den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun; und Wersilow hatte es erlaubt. Der alte Fürst hatte diese Anordnung in Abwesenheit seiner Tochter, einer verwitweten Generälin, getroffen, die ihm diesen Schritt gewiß nicht erlaubt hätte. Aber hiervon später, jetzt bemerke ich nur, daß dieses merkwürdige Benehmen gegenüber Wersilow mir einen starken und für Wersilow günstigen Eindruck machte. Mein Gedanke war dieser: wenn das Oberhaupt der beleidigten Familie immer noch vor Wersilow Achtung hegt, dann muß doch das Gerede über eine von Wersilow begangene Gemeinheit absurd oder wenigstens zweifelhaft und unsicher sein. Eben dieser Umstand hatte mich auch mit dazu veranlaßt, gegen die Übernahme dieser Stellung nicht zu protestieren; indem ich sie antrat, hoffte ich nämlich, dies alles zu überprüfen.

erlaubt

Jene Tatjana Pawlowna spielte damals, als ich sie in Petersburg traf, eine eigentümliche Rolle. Ich hatte sie fast ganz vergessen und in keiner Weise erwartet, daß sie eine so bedeutsame Stellung innehätte. Sie war früher drei- oder viermal während meines Aufenthaltes in Moskau mit mir in Berührung gekommen und war Gott weiß woher in irgend jemandes Auftrag jedesmal erschienen, wenn ich irgendwo untergebracht werden mußte – bei meinem Eintritt in das schlechte Pensionat des Herrn Touchard, und dann zwei und ein halbes Jahr darauf bei meinem Übergang auf das Gymnasium und meiner Unterbringung bei dem unvergeßlichen Nikolai Semjonowitsch. Nach ihrer Ankunft beschäftigte sie sich jedesmal den ganzen Tag mit mir, revidierte meine Wäsche und meine Kleider, fuhr mit mir nach dem Kusnezkij Most und in die Stadt, kaufte mir alles Notwendige und brachte, kurz gesagt, meine gesamte Ausrüstung bis auf das letzte Schreibkästchen und Federmesserchen in Ordnung; dabei ranzte sie mich die ganze Zeit über an, schalt mich, machte mir Vorwürfe, examinierte mich und stellte mir andere Knaben aus ihrer Bekanntschaft und Verwandtschaft (für mich reine Phantasiegebilde), die alle angeblich viel besser waren als ich, als Muster hin; ja, sie kniff und puffte mich sogar gehörig, und das sogar mehrmals und so, daß es weh tat. Hatte sie mich ausgestattet und an meiner neuen Stelle untergebracht, so verschwand sie für einige Jahre spurlos. Und so war sie auch jetzt gleich nach meiner Ankunft erschienen, um mir wieder ein Unterkommen zu verschaffen. Sie war eine kleine, magere Person mit einem spitzen Vogelnäschen und scharfen Vogeläuglein. Gegenüber Wersilow war sie von einer sklavischen Dienstfertigkeit und verehrte ihn wie einen Papst, aber aus wirklicher Überzeugung. Bald aber bemerkte ich mit Erstaunen, daß sie geradezu überall und bei allen Menschen bekannt war und vor allem überall und von allen Menschen hochgeschätzt wurde. Der alte Fürst Sokolskij benahm sich gegen sie ungewöhnlich respektvoll; ebenso seine Familie; ebenso diese stolzen Kinder Wersilows; ebenso die Fanariotows, – und dabei lebte Tatjana Pawlowna von Näharbeit und vom Waschen feiner Spitzen und machte Handarbeiten für Läden. Ich und sie gerieten gleich beim ersten Wort miteinander in Streit, weil sie sich sogleich einfallen ließ, mich wie früher, vor sechs Jahren, anzuranzen; seitdem zankten wir uns täglich; aber das hinderte uns nicht, manchmal freundschaftliche Gespräche miteinander zu führen, und ich muß gestehen, daß sie mir gegen Ende des Monats zu gefallen anfing; ich glaube, wegen ihres selbständigen Charakters. Übrigens sagte ich ihr nichts davon.

Ich durchschaute sofort, daß man mir die Stelle bei diesem alten, kranken Herrn nur deshalb übertrug, damit ich für seine Unterhaltung sorgte, und daß darin mein ganzer Dienst bestehen würde. Natürlich erschien mir das entwürdigend, und ich wollte schon sogleich die nötigen Maßnahmen ergreifen; aber sehr bald rief dieser alte Sonderling eine unerwartete Empfindung in mir hervor, eine Art Mitleid, und am Ende des Monats fühlte ich mich in merkwürdiger Weise ihm zugetan, jedenfalls hatte ich die Absicht, ihm grob zu kommen, aufgegeben. Übrigens war er nicht mehr als sechzig Jahre alt. Es war mit ihm eine aufsehenerregende Geschichte passiert. Vor anderthalb Jahren hatte er plötzlich einen Anfall gehabt; er war irgendwo hingereist und unterwegs geisteskrank geworden, so daß daraus eine Art Skandal entstanden war, über den in Petersburg viel geredet wurde. Wie es in solchen Fällen Sitte ist, wurde er sofort ins Ausland geschafft, aber fünf Monate darauf erschien er plötzlich wieder, und zwar vollständig gesund, wenn er auch den Dienst quittierte. Wersilow versicherte allen Ernstes (und mit bemerkenswertem Eifer), daß eine Geistesstörung bei ihm überhaupt nicht vorgelegen habe, sondern nur ein nervöser Anfall. Dieser Eifer Wersilows fiel mir gleich auf. Übrigens will ich bemerken, daß auch ich beinah derselben Ansicht war. Der alte Fürst zeigte höchstens manchmal einen zu seinen Jahren nicht recht stimmenden Leichtsinn, was früher, wie man sagte, nicht der Fall gewesen war. Es hieß, er habe früher irgendwo und irgendwie gute Ratschläge gegeben und sich einmal bei einem ihm erteilten Auftrag besonders ausgezeichnet. Obwohl ich ihn schon einen ganzen Monat kannte, hätte ich nicht geglaubt, daß er als Ratgeber jemals von besonderer Stärke gewesen wäre. Man hatte an ihm bemerkt (obgleich ich es nicht bemerkt hatte), daß sich bei ihm nach jenem Anfall eine besondere Neigung herausgebildet hatte, möglichst bald zu heiraten, und glaubte, daß er in diesen anderthalb Jahren schon mehrmals habe zur Ausführung dieser Idee schreiten wollen. Davon hatte man in der Gesellschaft Kenntnis, und es fanden sich auch Interessenten. Aber da diese Neigung den Interessen gewisser Personen in der Umgebung des Fürsten sehr wenig entsprach, so wurde der alte Mann von allen Seiten argwöhnisch bewacht. Seine eigene Familie war nur klein; er war schon seit zwanzig Jahren Witwer und hatte nur eine einzige Tochter, jene verwitwete Generalin, die jetzt täglich aus Moskau erwartet wurde, eine junge Person, vor deren energischem Charakter er unzweifelhaft Angst hatte. Aber er hatte eine Unmenge verschiedener entfernter Verwandter, namentlich von Seiten seiner verstorbenen Frau, die sämtlich beinahe Bettler waren, und außerdem eine Masse von Pflegesöhnen und Pflegetöchtern, die alle viele Wohltaten von ihm empfangen hatten, nun auf einen kleinen Anteil in seinem Testament hofften und daher alle die Generalin bei der Beaufsichtigung des alten Mannes unterstützten. Er hatte überdies von Jugend auf eine Sonderbarkeit an sich, ich weiß nur nicht, ob ich sie lächerlich finden soll oder nicht: arme Mädchen zu verheiraten. Er gab sich schon seit fünfundzwanzig Jahren damit ab, solche Mädchen zu verheiraten, teils entfernte Verwandte, teils Stieftöchter irgendwelcher Vettern seiner Frau, teils Patenkinder; sogar die Tochter seines Portiers hatte er verheiratet. Er nahm sie zuerst, wenn sie noch ganz klein waren, zu sich ins Haus, zog sie auf, hielt ihnen Gouvernanten und Französinnen, ließ sie dann die besten Lehranstalten besuchen und verheiratete sie schließlich, wobei er ihnen eine Mitgift gab. Dieser ganze Schwarm umdrängte ihn fortwährend. Die Pflegetöchter bekamen natürlich, nachdem sie verheiratet waren, wieder Töchter, und auch alle diese strebten danach, ebenfalls Pflegetöchter zu werden; überall mußte er Pate stehen; zu seinem Namenstag erschien diese ganze Gesellschaft, um zu gratulieren, und das alles machte ihm das größte Vergnügen.

 

Als ich meine Stelle bei ihm antrat, merkte ich sofort – und es war unmöglich, es nicht zu merken –, daß sich in dem Kopf des alten Mannes eine peinliche Vorstellung festgesetzt hatte: er glaubte, daß alle Menschen in der besseren Gesellschaft ihn sonderbar ansähen und sich gegen ihn anders benähmen als früher, wo er noch gesund gewesen war; diese Vorstellung verließ ihn selbst in der heitersten Gesellschaft nicht. Der alte Mann wurde argwöhnisch und glaubte in aller Augen eine gewisse Meinung zu lesen. Der Gedanke, daß man ihn immer noch für geisteskrank halte, quälte ihn offenbar sehr; selbst mich sah er manchmal mißtrauisch an. Und wenn er erfahren hätte, daß jemand dieses Gerücht über ihn weiterverbreitete oder für begründet erklärte, so wäre, glaube ich, dieser so gutmütige Mensch der lebenslängliche Feind des Betreffenden geworden. Gerade diesen Umstand bitte ich zu beachten. Ich füge hinzu, daß mich dies gleich vom ersten Tag an davon abhielt, ihm gegenüber grob zu werden; ich freute mich sogar, wenn es mir manchmal gelang, ihn zu erheitern oder zu zerstreuen. Ich glaube nicht, daß dieses Bekenntnis einen Schatten auf meine Ehre werfen kann.

Der größte Teil seines Geldes steckte in Unternehmungen. Er war, und zwar erst nach seiner Krankheit, Teilhaber bei einer großen, übrigens höchst soliden Aktiengesellschaft geworden. Und obgleich die eigentliche Geschäftsführung in anderen Händen lag, so interessierte doch auch er sich sehr dafür, besuchte die Versammlungen der Aktionäre, wurde in den Ausschuß gewählt, nahm an den Beratungen teil, hielt lange Reden, opponierte, machte Lärm, und das alles augenscheinlich mit vielem Vergnügen. Reden zu halten, daran fand er großen Gefallen: wenigstens konnten dabei alle sehen, daß sein Verstand in Ordnung war. Und überhaupt liebte er es selbst im intimsten Privatleben sehr, in sein Gespräch besonders tiefsinnige Gedanken oder Bonmots einzustreuen; ich habe dafür volles Verständnis. Unten in seinem Hause war eine Art Hauskontor eingerichtet, und ein Beamter erledigte dort alle Geschäfte, prüfte die Rechnungen, führte die Wirtschaftsbücher und verwaltete gleichzeitig das Haus. Dieser Beamte, der außerdem noch ein Amt im Staatsdienst bekleidete, hätte auch allein völlig ausgereicht; aber auf persönlichen Wunsch des Fürsten wurde ich noch dazuengagiert, angeblich zur Unterstützung des Beamten; indes wurde ich sogleich in das Arbeitszimmer des Fürsten versetzt und hatte oft nicht einmal zum Schein eine Arbeit vor mir liegen, weder Papier noch Bücher.

Ich schreibe jetzt wie jemand, der längst ernüchtert ist, und in vieler Hinsicht fast wie ein Unbeteiligter; aber wie soll ich den damaligen Kummer zur Darstellung bringen, der sich in meinem Herzen festgesetzt hatte und mir soeben wieder lebhaft ins Gedächtnis gekommen ist, und vor allen Dingen meine damalige Aufregung, die sich zu einem so trüben, fieberhaften Zustand gesteigert hatte, daß ich sogar nachts nicht schlief vor ungeduldiger Erwartung, wie sich die Rätsel lösen würden, die ich mir selbst aufgegeben hatte.