Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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II

Um Geld zu bitten, ist eine höchst widerwärtige Geschichte, und das gilt sogar für ein Gehalt, wenn man in den innersten Falten des Gewissens fühlt, daß man es nicht ganz verdient hat. Indessen hatte tags zuvor meine Mutter in einem Gespräch, das sie im Flüsterton, ohne Wissen Wersilows (»um Andrej Petrowitsch nicht zu erzürnen«), mit meiner Schwester führte, die Absicht ausgesprochen, ein Heiligenbild zu verpfänden, das ihr aus irgendeinem Grund besonders teuer war. Mein Monatsgehalt sollte fünfzig Rubel betragen; aber ich wußte gar nicht, auf welche Weise ich es erhalten würde; bei meiner Anstellung war mir darüber nichts gesagt worden. Als ich drei Tage vorher unten mit dem Beamten zusammengetroffen war, hatte ich mich bei ihm erkundigt, an wen man sich hier wegen seines Gehalts zu wenden habe. Dieser sah mich mit einem erstaunten Lächeln an (er konnte mich nicht leiden) und erwiderte:

»Bekommen Sie denn ein Gehalt?«

Ich dachte, er würde nach meiner bejahenden Antwort sagen: ›Wofür denn eigentlich?‹

Aber er antwortete nur trocken, er wisse nichts darüber, und steckte die Nase wieder in sein liniiertes Buch, in das er aus irgendwelchen Papieren Rechnungsposten eintrug.

Es war ihm übrigens wohlbekannt, daß ich denn doch dies und das getan hatte. Zwei Wochen vorher hatte ich volle vier Tage über einer Arbeit gesessen, die er selbst mir übergeben hatte; angeblich handelte es sich nur darum, von einem Konzept eine Reinschrift anzufertigen; es stellte sich aber heraus, daß fast eine vollständige Umarbeitung nötig war. Es war dies ein ganzer Haufen von »Gedanken« des Fürsten, die er dem Komitee der Aktionäre einzureichen beabsichtigte. Hieraus mußte ein abgerundetes Ganzes hergestellt werden, und auch der Stil bedurfte der Verbesserung. Der Fürst und ich saßen nachher einen ganzen Tag lang über diesem Schriftstück, und er disputierte mit mir sehr hitzig, äußerte aber doch seine Zufriedenheit; ich weiß nur nicht, ob er sein Expose auch wirklich eingereicht hat. Die zwei, drei Briefe, ebenfalls geschäftlichen Inhalts, die ich auf Bitten des Beamten geschrieben hatte, will ich gar nicht erwähnen.

Um mein Gehalt zu bitten war mir auch deswegen unangenehm, weil ich bereits vorhatte, meine Stelle aufzugeben, da ich ahnte, daß zwingende Umstände mich nötigen würden, von hier fortzugehen. Als ich an jenem Morgen aufwachte und mich oben in meiner Kammer anzog, fühlte ich, daß mir das Herz heftig schlug, und obgleich ich mir vornahm, mich um nichts zu scheren, verspürte ich dennoch, als ich das Haus des Fürsten betrat, wieder dieselbe Erregung: an diesem Vormittag mußte jene Person, jene Frau eintreffen, von deren Anwesenheit ich eine Aufhellung all der Zweifel, die mich quälten, erwartete. Dies war die Tochter des Fürsten, jene Generalin Achmakowa, die junge Witwe, von der ich schon gesprochen habe, Wersilows erbitterte Feindin. Endlich habe ich diesen Namen hergeschrieben! Ich hatte sie allerdings noch nie gesehen und konnte mir keine Vorstellung machen, ob überhaupt und wie ich mit ihr reden würde; aber ich glaubte (und dazu hatte ich vielleicht ausreichende Gründe), daß mit ihrer Ankunft sich der dunkle Nebel lichten würde, der Wersilow in meinen Augen umgab. Ich vermochte nicht ruhig zu bleiben: ich ärgerte mich sehr, daß ich gleich beim ersten Schritt so kleinmütig und linkisch war; ferner befand ich mich in gespannter Erwartung, und vor allen Dingen war mir die Sache höchst widerwärtig, – so kamen drei verschiedene Empfindungen zusammen. Ich erinnere mich an diesen ganzen Tag auf das allergenaueste!

Daß seine Tochter wahrscheinlich an diesem Tag ankommen würde, wußte mein Fürst noch nicht, er erwartete ihre Rückkehr erst ungefähr in einer Woche. Ich hatte es tags zuvor ganz zufällig erfahren: Tatjana Pawlowna, die von der Generalin einen Brief erhalten hatte, beging, während ich im Zimmer war, im Gespräch mit meiner Mutter eine Unvorsichtigkeit. Sie flüsterten zwar nur miteinander und redeten in Andeutungen, aber ich erriet es doch. Selbstverständlich horchte ich nicht; aber ich konnte nicht umhin, weiter hinzuhören, als ich sah, in welche Aufregung meine Mutter bei der Nachricht von der Ankunft dieser Frau plötzlich geriet. Wersilow war nicht zu Hause.

Dem alten Herrn wollte ich keine Mitteilung machen, da mir die ganze Zeit über nicht hatte entgehen können, wie sehr er sich vor ihrer Ankunft fürchtete. Er hatte sich sogar drei Tage vorher die Bemerkung entschlüpfen lassen, allerdings nur schüchtern und andeutungsweise, er fürchte ihre Ankunft meinetwegen, das heißt, er fürchte, daß es ihm um meinetwillen schlimm ergehen werde. Ich muß indes hinzufügen, daß er seiner Familie gegenüber seine Selbständigkeit und seine Stellung als Oberhaupt doch zu wahren wußte, besonders was die Verwendung des Geldes anlangte. Ich hatte mir anfänglich über ihn die Vorstellung gebildet, daß er einfach ein altes Weib sei; aber später mußte ich meine Ansicht doch insofern korrigieren, als ich einsah, daß ihm, wenn er auch ein altes Weib war, doch wenigstens manchmal eine gewisse Hartnäckigkeit, wenn nicht gar Mannhaftigkeit verblieben war. Es kamen Zeiten vor, wo mit ihm trotz seines anscheinend ängstlichen und nachgiebigen Charakters fast nichts anzufangen war. Wersilow hat mir dafür später eine eingehende Erklärung gegeben. Ich erwähne noch die interessante Tatsache, daß der Fürst und ich fast nie miteinander von der Generalin gesprochen hatten, wir schienen es beide zu vermeiden: besonders ich vermied es, sie zu erwähnen, und er seinerseits vermied es, von Wersilow zu sprechen, so daß ich mir mit aller Bestimmtheit sagte, daß er mir keine Antwort geben würde, wenn ich es wagen sollte, ihm eine der heiklen Fragen, die mich so sehr interessierten, vorzulegen.

Wenn aber jemand fragen sollte, worüber wir beide denn nun diesen ganzen Monat lang miteinander gesprochen hatten, so antworte ich: über alles mögliche, aber immer über einigermaßen sonderbare Themen. Sehr gut gefiel mir die außerordentliche Offenherzigkeit, die er im Verkehr mit mir an den Tag legte. Manchmal sah ich diesen Menschen höchst erstaunt an und fragte mich: ›Wo hat denn der früher seinen Posten gehabt? Der hätte doch ausgezeichnet in unser Gymnasium hineingepaßt, etwa in die vierte Klasse, - da wäre er ein prächtiger Kamerad gewesen!‹Auch über sein Gesicht wunderte ich mich oft: es wirkte äußerlich sehr ernst (übrigens beinahe schön) und kühl; das dichte graue Haar etwas lockig, der Blick der Augen offen, die ganze Gestalt hager, jedoch gut gewachsen; aber sein Gesicht hatte die unangenehme, beinah unschickliche Eigenheit, sich auf einmal aus einem sehr ernsten in ein übermäßig lustiges zu verwandeln, so daß, wer zum erstenmal mit ihm zu tun hatte, dies in keiner Weise erwartet hätte. Ich redete darüber mit Wersilow, der mir interessiert zuhörte; er schien nicht vermutet zu haben, daß ich imstande sei, solche Beobachtungen zu machen, und bemerkte so obenhin, das habe sich bei dem Fürsten erst nach seiner Krankheit herausgebildet und eigentlich erst in der allerletzten Zeit.

Namentlich redeten wir über zwei abstrakte Themen: erstens über Gott und sein Dasein, das heißt, ob er existiert oder nicht, und zweitens über die Frauen. Der Fürst war sehr religiös und gefühlvoll. In seinem Arbeitszimmer hing ein großer Heiligenschrein mit einem Lämpchen davor. Aber mitunter bekam er eine plötzliche Anwandlung und begann dann auf einmal, am Dasein Gottes zu zweifeln und ganz wunderliche Dinge zu reden, wobei er mich offenbar zu einer Erwiderung herausforderte. Diese Idee ließ mich im allgemeinen ziemlich kalt; aber dennoch gerieten wir beide dabei immer in Eifer, und das ganz aufrichtig. Überhaupt erinnere ich mich an alle diese Gespräche auch jetzt noch mit Vergnügen. Am liebsten aber plauderte er über die Frauen, und da ich; infolge meiner Abneigung gegen Gespräche über dieses Thema, hierbei nicht sehr unterhaltsam war, so verstimmte ihn das manchmal sehr.

Und gerade an diesem Morgen begann er, kaum daß ich eingetreten war, ein derartiges Gespräch. Ich traf ihn in heiterer Stimmung, während er tags zuvor, als ich ihn verließ, aus irgendeinem Grund sehr traurig gewesen war. Indessen mußte ich unbedingt noch an diesem Tag die Gehaltsfrage erledigen, ehe noch gewisse Personen ankamen. Nach meiner Berechnung müßten sie an diesem Tag bestimmt unser Gespräch durch ihre Ankunft unterbrechen (mein Herzklopfen hatte schon seinen guten Grund), und dann kam ich vielleicht nicht mehr dazu, von dem Geld anzufangen. Aber da ich es nicht fertigbrachte, die Geldfrage anzuregen, so ärgerte ich mich natürlich über meine Dummheit, und in meinem Verdruß über eine gar zu vergnügte Frage des Fürsten setzte ich ihm, wie ich mich heute noch deutlich erinnere, meine Ansichten über die Frauen in einem unhemmbaren Erguß und mit großer Heftigkeit auseinander. Die Folge davon war, daß er sich noch mehr amüsierte, und zwar auf meine Kosten.

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III

»... Ich kann die Frauen nicht leiden, weil sie grob und ungeschickt und unselbständig sind und weil sie unanständige Kleidung tragen!« schloß ich schroff meine lange Tirade.

»Aber Täubchen, mach's gnädig!« rief er höchlichst amüsiert, was mich noch wütender machte.

Ich bin nur bei Kleinigkeiten nachgiebig, wo es aber sich um Wichtiges handelt, gebe ich niemals nach. Bei Kleinigkeiten, bei Fragen, wie sie im gesellschaftlichen Verkehr vorkommen, lasse ich alles mögliche mit mir aufstellen und verwünsche immer diesen Zug meines Charakters. Aus ekelhafter Gutmütigkeit stimme ich manchmal sogar einem weltmännischen Gecken zu, einzig und allein, weil ich mich von seiner Höflichkeit habe bezaubern lassen, oder ich lasse mich mit einem Dummkopf in einen Disput ein, was das Unverzeihlichste ist. Das alles kommt von mangelhafter Erziehung und Gewöhnung her und davon, daß ich in der Abgeschiedenheit aufgewachsen bin. Ich ärgere mich über mein Benehmen und schwöre mir, daß sich das am nächsten Tag nicht wiederholen wird, aber am folgenden Tag mache ich es wieder ebenso. Das ist der Grund, weshalb mich die Leute manchmal für kaum sechzehnjährig halten. Aber statt mir eine Selbstdressur angedeihen zu lassen, ziehe ich auch jetzt vor, mich immer mehr in meinen Winkel zurückzuziehen, und zwar in der menschenfeindlichsten Manier: ›Na, wenn ich ungeschickt bin, schön! Dann leben Sie alle wohl!‹ Ich sage das hier in vollem Ernst und ein für allemal. Übrigens habe ich dabei durchaus nicht den Fürsten und das damalige Gespräch im Auge.

 

»Ich rede ganz und gar nicht, um Sie zu amüsieren«, schrie ich ihn beinah an, »ich spreche nur meine Überzeugung aus.«

»Aber wieso sind denn die Frauen grob und unanständig gekleidet? Das ist ja etwas ganz Neues!«

»Allerdings sind sie grob. Gehen Sie ins Theater, gehen Sie auf die Promenade! Jeder Mann weiß, welches die rechte Seite ist, und wenn sich zwei begegnen, so kommen sie ohne Schwierigkeit aneinander vorbei: er geht rechts, und ich gehe rechts. Aber eine Frau, das heißt, eine Dame - von Damen rede ich -, geht gerade auf einen los, ohne einen auch nur zu beachten, als ob man unbedingt verpflichtet wäre, beiseite zu springen und ihr Platz zu machen. Ich bin bereit, ihr, als einem schwächeren Geschöpf, Platz zu machen, aber woher hat sie ein Recht darauf, wieso ist sie davon überzeugt, daß ich dazu verpflichtet sei? Das ist das Beleidigende! Ich habe bei solchen Begegnungen immer ausgespuckt. Und trotzdem erheben sie noch ein großes Geschrei, sie befänden sich in einer unwürdigen Stellung, und fordern Gleichberechtigung; was ist das für eine Gleichberechtigung, wenn die Frau mich mit Füßen tritt oder mir den Mund voll Sand stopft?«

»Voll Sand!«

»Ja, weil sie unanständig gekleidet sind; man muß ein sittlich verkommener Mensch sein, um das nicht zu bemerken. Beim Gericht werden die Türen zugeschlossen, wenn etwas Unanständiges verhandelt wird; warum erlaubt man denn so etwas auf den Straßen, wo doch mehr Menschen sind? Die Frauen stopfen sich hinten offenkundig etwas unter den Rock, um als belle femme zu erscheinen; offenkundig! Ich kann nicht umhin, das zu bemerken, und jeder Jüngling, jeder heranwachsende Knabe bemerkt es; das ist gemein. Mögen alte Lüstlinge sich an solchem Anblick weiden und diesen Frauen brünstig nachlaufen, aber es gibt eine reine Jugend, die behütet werden muß. Es bleibt einem nichts weiter übrig, als auszuspucken. Da geht so eine auf dem Boulevard und zieht eine anderthalb Ellen lange Schleppe hinter sich her und wirbelt damit den Staub auf; dahinter zu gehen, ist ein Ding der Unmöglichkeit: man muß sie entweder im Laufschritt überholen oder zur Seite springen, sonst stopft sie einem fünf Pfund Sand in Nase und Mund. Und noch dazu ist es Seide, was sie so drei Werst weit über die Trottoirsteine hinschleift, nur weil es Mode ist; ihr Mann aber bekommt als Senatsbeamter fünfhundert Rubel im Jahr: das führt dann zur Annahme von Bestechungsgeldern! Ich habe immer ausgespuckt, laut ausgespuckt und geschimpft.«

Ich schreibe dieses Gespräch zwar mit einigem Humor in meiner damaligen charakteristischen Ausdrucksweise nieder, aber meine Anschauungen sind dieselben geblieben.

»Und das ist immer gut abgelaufen?« erkundigte sich der Fürst neugierig.

»Ich spucke aus und gehe weg. Natürlich bemerkt sie es, tut aber, als hätte sie nichts bemerkt, und stolziert, ohne den Kopf umzudrehen, majestätisch weiter. Ernstlich beschimpft habe ich nur ein einziges Mal zwei Damen, beide mit Schleppen, auf dem Boulevard, natürlich nicht mit häßlichen Ausdrücken, sondern ich bemerkte nur laut, eine Schleppe sei eine tätliche Beleidigung.«

»So hast du dich ausgedrückt?«

»Jawohl. Erstens wird dadurch die gesellschaftliche Ordnung gröblich verletzt, und zweitens macht es Staub; der Boulevard aber ist für alle da: ich gehe da, ein zweiter geht da, ein dritter, ein Fjodor, ein Iwan, ganz egal, wer es ist. Das war's, was ich sagte. Und überhaupt kann ich den Gang der Frauen, von hinten gesehen, nicht leiden; das habe ich ebenfalls gesagt, aber nur andeutungsweise.«

»Aber, mein Freund, da kannst du dir ernstliche Unannehmlichkeiten zuziehen; sie konnten dich vor den Friedensrichter schleppen.«

»Gar nichts konnten sie. Sie hatten nichts, worüber sie sich hätten beschweren können: da geht ein Mensch neben ihnen und spricht mit sich selbst. Jeder Mensch hat das Recht, seine Ansicht in die freie Luft hinzusprechen. Ich habe nur ganz allgemein geredet; an die beiden Damen habe ich mich nicht gewandt. Sie selbst waren es, die mit mir anbanden: sie fingen an zu schimpfen und schimpften in weit häßlicherer Weise als ich: ich sei ein Grünschnabel, man müsse mir zur Strafe nichts zu essen geben, ein Nihilist sei ich, und sie würden mich einem Schutzmann übergeben, und ich hätte nur deshalb mit ihnen angebunden, weil sie allein gingen und schwache Frauen seien, aber wenn sie einen Mann bei sich hätten, dann würde ich sogleich Reißaus nehmen. Ich antwortete ihnen kaltblütig, sie möchten mich nicht weiter belästigen, ich würde auf die andere Seite der Straße hinübergehen. Um ihnen aber zu zeigen, daß ich vor ihren Männern keine Furcht hätte und eine Forderung anzunehmen bereit sei, würde ich ihnen in einer Entfernung von zwanzig Schritten bis zu ihrem Hause folgen, mich dann vor das Haus hinstellen und auf ihre Männer warten. Das tat ich denn auch.«

»Wirklich?«

»Natürlich war es eine Dummheit, aber ich war eben in gereizter Stimmung. Sie schleppten mich mehr als drei Werst weit in der Hitze bis dahin, wo die Institute sind, und gingen in ein einstöckiges Holzhaus hinein. Ich muß gestehen, das Haus sah sehr anständig aus: durch das Fenster sah man drinnen eine Menge Blumen, zwei Kanarienvögel, drei Stubenhündchen und einige eingerahmte Kupferstiche. Ich stand ungefähr eine halbe Stunde mitten auf der Straße vor dem Hause. Sie sahen dreimal verstohlen aus dem Fenster, aber dann ließen sie alle Rouleaus herab. Endlich trat aus dem Torpförtchen ein ältlicher Beamter heraus; nach seinem Aussehen zu urteilen, hatte er geschlafen und war von den Damen eigens geweckt worden; er trug nicht gerade einen Schlafrock, aber ein Kostüm, das durchaus nur fürs Haus paßte. Er blieb bei dem Pförtchen stehen, legte die Hände auf den Rücken und begann mich anzusehen, und ebenso ich ihn. Manchmal wandte er die Augen von mir ab, dann blickte er wieder nach mir hin, und auf einmal lächelte er mir zu. Da drehte ich mich um und ging weg.«

»Aber das ist ja Schillerscher Idealismus, mein Freund! Ich habe mich immer gewundert: du hast so schöne rote Backen, dein Gesicht strotzt nur so von Gesundheit, und dabei ein solcher, man kann sagen, Widerwille gegen die Frauen! Wie ist es möglich, daß eine Frau auf einen jungen Mann in deinem Alter nicht einen gewissen Eindruck macht? Mich, mon cher, hat mein Erzieher schon, als ich elf Jahre alt war, getadelt, daß ich im Sommergarten zu viel nach den Statuen hinsähe.«

»Sie möchten schrecklich gern, daß ich zu irgendeiner hiesigen Josephine hinginge und dann zu Ihnen käme, um Ihnen Bericht zu erstatten. Aber Ihr Wunsch ist gegenstandslos: auch ich habe schon als Dreizehnjähriger ein nacktes, ganz nacktes Weib gesehen; seitdem habe ich einen Ekel vor ihnen.«

»Im Ernst? Aber, cher enfant, ein schönes, frisches Weib duftet wie ein Apfel; wie kann man da Ekel empfinden?«

»Ich hatte in meiner ersten schlechten Pension bei Herrn Touchard, noch ehe ich aufs Gymnasium kam, einen Kameraden namens Lambert. Er prügelte mich immer, weil er mehr als drei Jahre älter war als ich, und ich mußte ihn bedienen und ihm die Stiefel ausziehen. Als er konfirmiert war, kam der Abbé Rigaud zu ihm, um ihm zur ersten Kommunion Glück zu wünschen, und die beiden fielen einander unter Tränen um den Hals, und der Abbé Rigaud drückte ihn mit allerlei pathetischen Gesten an seine Brust. Ich weinte ebenfalls und beneidete ihn sehr. Als sein Vater gestorben war, verließ er die Pension, und ich sah ihn zwei Jahre lang nicht wieder, aber nach den zwei Jahren traf ich ihn einmal auf der Straße. Er sagte, er werde mich besuchen. Ich war damals schon auf dem Gymnasium und wohnte bei Nikolai Semjonowitsch. Er kam eines Vormittags zu mir, zeigte mir fünfhundert Rubel und forderte mich auf, mit ihm zu kommen. Obgleich er mich vor zwei Jahren geprügelt hatte, hatte er mich doch immer nötig gehabt, nicht allein wegen der Stiefel; er brauchte jemand, um sich auszusprechen. Er sagte mir, er habe heute seiner Mutter aus der Schatulle mittels eines Nachschlüssels Geld weggenommen, denn das Geld, das sein Vater hinterlassen habe, gehöre nach dem Gesetz alles ihm, und sie dürfe es ihm nicht vorenthalten, und gestern sei der Abbé Rigaud zu ihm gekommen, um ihn zu ermahnen; er sei hereingekommen, habe sich vor ihn hingestellt, zu schluchzen angefangen, sehr entsetzt getan und die Arme zum Himmel erhoben. »Aber ich zog ein Messer aus der Tasche und sagte, ich würde ihn abstechen.« Wir fuhren nach dem Kusnezkij Most. Unterwegs teilte er mir mit, daß seine Mutter mit dem Abbé Rigaud ein Verhältnis habe, und er habe das gemerkt, und ihm sei alles schnuppe, und alles, was von der Kommunion gesagt werde, sei dummes Zeug. Er redete noch vieles andere, und mir wurde angst und bange. Auf dem Kusnezkij Most kaufte er eine doppelläufige Flinte, eine Jagdtasche, fertige Patronen, eine Reitpeitsche und dann noch ein Pfund Konfekt. Wir fuhren vor die Stadt, um zu schießen, und begegneten unterwegs einem Vogelhändler mit Käfigen; Lambert kaufte ihm einen Kanarienvogel ab. In einem Wäldchen ließ er den Kanarienvogel heraus, da dieser nach der langen Gefangenschaft im Bauer ja doch nicht weit wegfliegen konnte, und fing an, nach ihm zu schießen, traf ihn aber nicht. Er schoß zum erstenmal in seinem Leben; eine Flinte aber hatte er sich schon längst kaufen wollen, schon als er noch bei Touchard war, und wir hatten von der Flinte schon lange zusammen geträumt. Vor Aufregung war er ganz benommen. Er hatte pechschwarzes Haar, ein weiß-rotes Gesicht wie eine Maske, eine lange Hakennase wie die Franzosen, weiße Zähne und schwarze Augen. Er band den Kanarienvogel mit einem Faden an einen Zweig und gab aus nächster Nähe, aus einer Entfernung von zwei Zoll, aus beiden Läufen zwei Schüsse auf ihn ab, und das Tierchen zerstob in hundert Federchen. Dann kehrten wir zurück, fuhren nach einem Gasthaus, ließen uns ein Zimmer geben und fingen an zu essen und Champagner zu trinken; da kam eine Dame... Ich erinnere mich, daß mir ihre luxuriöse Toilette sehr imponierte: sie trug ein grünseidenes Kleid. Da sah ich denn nun das alles... wovon ich Ihnen schon gesagt habe... Darauf, als wir wieder zu trinken angefangen hatten, begann er, sie zu hänseln und zu schimpfen; sie saß ohne ihr Kleid da, er hatte es ihr weggenommen, und als sie anfing zu schimpfen und ihr Kleid zu verlangen, um sich anzuziehen, begann er sie aus Leibeskräften mit der Peitsche über die nackten Schultern zu schlagen. Ich stand auf und packte ihn an den Haaren, und zwar so geschickt, daß ich ihn mit einem Ruck auf den Fußboden warf. Er ergriff eine Gabel und stach mich damit in den Schenkel. Da kamen auf das Geschrei Leute ins Zimmer gestürzt, und es gelang mir, zu entwischen. Seitdem ist es mir eklig, an ein nacktes Weib zu denken; und dabei ist sie wirklich schön gewesen, das können Sie glauben.«

Während meiner Erzählung hatte sich der Gesichtsausdruck des Fürsten aus einem heiteren in einen tieftraurigen verwandelt.

»Mon pauvre enfant! Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß es in deiner Kindheit sehr viel unglückliche Tage gegeben hat.«

»Bitte, beunruhigen Sie sich darüber nicht!«

»Aber du bist allein gewesen, das hast du mir selbst gesagt, und wenn du auch diesen Lambert hattest; du hast das so ergreifend geschildert: dieser Kanarienvogel, diese Konfirmation mit Tränen an der Brust, und dann, ein, zwei Jahre danach, er über das Verhältnis seiner Mutter mit dem Abbé... Oh, mon cher, diese Frage der Kindererziehung ist in unserer Zeit geradezu furchtbar: solange diese Goldköpfchen mit ihren Locken und ihrer Unschuld in der ersten Kindheit vor einem umherhüpfen und einen mit ihrem hellen Lachen und ihren hellen Äuglein ansehen, da sind sie ganz wie Engel Gottes oder wie reizende Vögelchen; aber später... aber später kommt es vor, daß es das beste wäre, sie wären überhaupt nicht groß geworden!«

»Was haben Sie für eine schwächliche Denkungsart, Fürst! Und Sie reden, als ob Sie selbst Kinder hätten. Sie haben ja doch keine Kinder und werden nie welche bekommen!«

 

»Tiens!« erwiderte er, und sein Gesicht veränderte sich in einem Augenblick. »Da hat mir gerade Alexandra Petrowna gesagt... vorgestern, hehe!... Alexandra Petrowna Sinizkaja... du mußt sie vor drei Wochen hier gesehen haben... stell dir vor, die sagte mir vorgestern auf meine lustige Bemerkung, daß ich, falls ich mich jetzt verheiratete, wenigstens sicher sein könne, keine Kinder zu bekommen... da sagte sie auf einmal zu mir so recht boshaft: »Im Gegenteil, gerade Sie werden welche bekommen, solche Leute wie Sie bekommen unfehlbar welche, schon gleich im ersten Jahr, das werden Sie sehen!« Hehe! Und alle haben sie, ich weiß nicht woher, die Vorstellung, ich würde mich plötzlich verheiraten. Aber wenn es auch boshaft gesagt war, so mußt du doch zugeben, daß es scharfsinnig war.«

unfehlbar

»Scharfsinnig und beleidigend.«

»Na, cher enfant, nicht jeder kann unsereinen beleidigen. Ich schätze Scharfsinnigkeit bei den Leuten besonders hoch, sie ist offenbar im Schwinden begriffen; aber was Alexandra Petrowna gesagt hat... kann man sich etwa mit ihr in einen Streit einlassen?«

»Was haben Sie da gesagt? Was haben Sie da gesagt?« rief ich hastig. »Nicht jeder kann unsereinen... das ist richtig! Nicht jeder ist wert, daß man ihn beachte, - ein vortrefflicher Grundsatz! Gerade ich kann den gebrauchen. Das werde ich mir aufschreiben. Sie sagen manchmal allerliebste Dinge, Fürst!«

Er strahlte über das ganze Gesicht.

»N'est-ce pas? Cher enfant, der wahre Esprit verschwindet aus der Welt, je länger, je mehr. Eh, mais... C'est moi qui connaît les femmes! Glaube mir, das Leben einer jeden Frau, was sie auch immer für Reden führen mag, ist ein stetes Suchen nach einem, dem sie sich unterordnen kann... Sozusagen ein Durst nach Unterordnung. Und wohl zu beachten: ohne jede Ausnahme!«

»Sehr richtig, großartig!« rief ich ganz entzückt. Zu anderer Zeit wären wir sogleich für eine ganze Stunde in philosophische Erörterungen dieses Themas hineingeraten, aber auf einmal hatte ich das Gefühl, als ob ich einen Stich bekäme, und ich wurde dunkelrot. Es kam mir der Gedanke, daß ich mich durch das Lob seines Bonmots wohl gar bei ihm vor der Geldforderung einzuschmeicheln suchte und daß er das jedenfalls denken würde, wenn ich nun mit meiner Bitte herauskäme. Ich erwähne das jetzt absichtlich.

»Fürst, ich bitte Sie ganz ergebenst, mir sogleich die fünfzig Rubel auszuzahlen, die Sie mir für diesen Monat schuldig sind«, schoß ich auf einmal in gereiztem und geradezu grobem Ton los.

Ich erinnere mich (da mir dieser ganze Vormittag mit allen Einzelheiten im Gedächtnis haftet), daß sich zwischen uns damals eine in ihrer brutalen Realität höchst garstige Szene abspielte. Er verstand mich zuerst nicht, sah mich lange an und begriff nicht, von was für Geld ich redete. Es war ja ganz natürlich, daß er nicht auf den Gedanken kam, ich könne Gehalt beanspruchen, - wofür denn auch? Allerdings versicherte er dann eifrig, er habe es nur vergessen, und zog, sobald er den Zusammenhang erraten hatte, sofort fünfzig Rubel heraus, aber er tat das mit übermäßiger Hast und wurde dabei sogar rot. Als ich sah, wie die Sache lag, stand ich auf und erklärte schroff, jetzt könne ich das Geld nicht annehmen; man habe zu mir von einem Gehalt gesprochen, offenbar irrtümlich, oder auch um mich zu täuschen, damit ich die Stelle nicht ablehnte; ich sähe jetzt vollkommen ein, daß ich nicht den geringsten Anspruch erheben könnte, da ich ja keinerlei Dienste geleistet hätte. Der Fürst bekam einen Schreck und erging sich in Versicherungen, ich hätte ihm außerordentlich viele Dienste geleistet und würde es künftig in noch größerem Umfang tun und fünfzig Rubel seien eine so winzige Summe, daß er mir im Gegenteil noch etwas zulegen werde, weil er sich dazu für verpflichtet halte, und er habe selbst alles mit Tatjana Pawlowna abgesprochen, es aber »unverzeihlicherweise ganz vergessen«. Ich brauste auf und erklärte mit der größten Entschiedenheit, es sei niedrig, ein Gehalt dafür anzunehmen, daß ich Skandalgeschichten erzählt hätte, wie ich zwei Damen mit Schleppen bis zu den Instituten nachgelaufen sei, ich hätte mich nicht verdingt, um ihn zu amüsieren, sondern um ernste Arbeit zu tun, und wenn keine Arbeit da sei, so müßten wir unsere Beziehungen abbrechen und so weiter und so weiter. Ich hätte nicht geglaubt, daß jemand so erschrecken könnte, wie er nach diesen meinen Worten erschrak. Selbstverständlich endete die Sache damit, daß ich meine Weigerung aufgab und er mir die fünfzig Rubel aufdrängte: bis auf - den heutigen Tag steigt mir bei der Erinnerung daran, daß ich sie annahm, die Schamröte ins Gesicht! In der Welt endet alles immer mit einer Gemeinheit, und das Ärgste war, er wußte mir damals beinahe zu beweisen, daß ich unstreitig das Geld verdient hätte, und ich war damals dumm genug, es zu glauben. Und außerdem war es ganz unmöglich, es abzulehnen.

»Cher, cher enfant!« rief er, indem er mich küßte und umarmte (ich muß gestehen, ich war selbst nahe daran, loszuweinen, weiß der Teufel warum, obwohl ich mich sogleich wieder in die Gewalt bekam, und selbst jetzt, wo ich dies schreibe, steigt mir das Blut ins Gesicht), »lieber Freund, du bist mir jetzt so teuer wie ein leiblicher Verwandter; du bist mir in diesem Monat ganz ans Herz gewachsen! In der sogenannten Gesellschaft sind nur Leute, denen man nicht näherkommt. Katerina Nikolajewna« (seine Tochter) »ist eine herrliche Frau, und ich bin stolz auf sie, aber sie kränkt mich doch oft, sehr oft, mein Lieber... Na, und diese jungen Mädchen (elles sont charmantes) und ihre Mütter, die immer zu meinem Namenstag herkommen, die bringen nur ihre Kanevasstickereien her, verstehen aber selbst nichts zu sagen. Ich habe sechzig Kissen mit ihren Stickereien liegen, lauter Hunde und Hirsche. Ich habe diese jungen Mädchen ja sehr gern, aber mit dir verkehre ich fast wie mit einem leiblichen Verwandten, und nicht etwa wie mit einem Sohn, sondern wie mit einem Bruder, und besonders liebe ich es, wenn du opponierst; du besitzt eine literarische Bildung, du hast viel gelesen, du verstehst es, dich zu begeistern...«

»Ich habe nichts gelesen und besitze ganz und gar keine literarische Bildung. Ich habe nur gelesen, was mir gerade in die Finger kam, und in den letzten zwei Jahren habe ich überhaupt nichts gelesen, und ich werde auch nichts mehr lesen.«

»Warum denn nicht?«

»Ich habe andere Ziele.«

»Cher... es wäre schade, wenn du dir am Ende deines Lebens sagen müßtest wie ich: Je sais tout, mais je ne sais rien de bon. Ich weiß absolut nicht, wozu ich auf der Welt gelebt habe! Aber... ich bin dir zu großem Dank verpflichtet ... und ich wollte sogar ...«

Er brach plötzlich ab, wurde ganz matt und versank in seine Gedanken. Nach einer Erschütterung (und solche konnten ihm alle Augenblicke aus dem einen oder andern Grund begegnen) verlor er gewöhnlich für einige Zeit gleichsam die gesunde Urteilskraft und vermochte nicht mehr die Herrschaft über sich auszuüben; indes erholte er sich immer bald wieder, so daß kein weiterer Schaden daraus entstand. So saßen wir ungefähr eine Minute lang da. Seine sehr volle Unterlippe hing ganz herab ... Am meisten setzte es mich in Erstaunen, daß er auf einmal seine Tochter erwähnt hatte und noch dazu mit solcher Offenherzigkeit. Natürlich führte ich das auf seinen angegriffenen Zustand zurück.