Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Lassen Sie dieses Thema!« sagte er und stand plötzlich vom Stuhl auf.

»Ich rede dabei nicht von mir«, fügte ich, ebenfalls aufstehend, hinzu, »ich werde nie davon Gebrauch machen. Mir können Sie ein Leben von dreifacher Länge geben – es wird mir immer noch zu wenig sein.«

»Leben Sie recht lange!« entfuhr es ihm anscheinend unwillkürlich.

Er lächelte zerstreut und ging sonderbarerweise geradeswegs ins Vorzimmer, als wollte er mich hinausbegleiten, natürlich ohne zu bemerken, was er tat.

»Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen bei allem, was Sie vorhaben, Krafft«, sagte ich, als ich bereits auf die Treppe hinaustrat.

»Wollen's hoffen!« erwiderte er in festem Ton.

»Auf Wiedersehen!«

»Wollen auch das hoffen!«

Ich erinnere mich an den letzten Blick, den er auf mich richtete.

III

Also das war der Mensch, um den mein Herz so viele Jahre lang geklopft hatte? Und was hatte ich denn von Krafft erwartet? Was für neue Mitteilungen hatte ich mir von ihm versprochen?

Als ich von Krafft herauskam, verspürte ich starken Hunger; es war schon gegen Abend, und ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Ich ging, gleich dort auf der Petersburger Seite, auf dem Großen Prospekt in ein kleines Restaurant, um dort zwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Kopeken auszugeben; eine größere Ausgabe hätte ich mir damals unter keinen Umständen gestattet. Ich ließ mir eine Suppe geben, und nachdem ich sie verzehrt hatte, setzte ich mich, wie ich mich erinnere, an ein Fenster und sah hinaus. Im Zimmer waren viele Menschen; es roch nach angebranntem Fett, Restaurationsservietten und Tabak. Es war widerlich. Über meinem Kopf pochte eine stimmlose Nachtigall trübsinnig und melancholisch mit dem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs. In dem anstoßenden Billardzimmer wurde gelärmt; ich aber saß da und überließ mich meinen Gedanken. Der Sonnenuntergang (warum hatte sich Krafft nur darüber gewundert, daß ich den Sonnenuntergang nicht gern hatte?) erweckte in mir neue, unerwartete Empfindungen, die ganz und gar nicht zu dem Ort paßten. Mir schwebte immer der stille Blick meiner Mutter vor, ihre lieben Augen, die mich nun schon einen ganzen Monat lang so schüchtern ansahen. In der letzten Zeit war ich zu Hause recht grob gewesen, namentlich ihr gegenüber; eigentlich wollte ich zu Wersilow grob sein, aber da ich mich an ihn nicht herantraute, so peinigte ich nach meiner schlechten Gewohnheit meine Mutter. Ich hatte sie sogar ganz verängstigt; oft sah sie mich, wenn Andrej Petrowitsch eintrat, mit einem so flehenden Blick an, weil sie einen heftigen Ausbruch meinerseits befürchtete ... Sehr sonderbar war es, daß ich hier, im Restaurant, zum erstenmal darüber nachdachte, daß Wersilow zu mir du sagte, sie aber Sie. Gewundert hatte ich mich darüber auch schon früher, und zwar nicht in einem für sie günstigen Sinne; jetzt aber stellte ich darüber besondere Überlegungen an – und sehr sonderbare Gedanken zogen einer nach dem andern durch meinen Kopf. Ich blieb lange auf meinem Platz sitzen, bis zum Einbruch völliger Dunkelheit. Ich dachte auch an meine Schwester ...

du

Sie

Es war für mich ein entscheidender Augenblick. Ich mußte unter allen Umständen einen Entschluß fassen! War ich denn dazu wirklich unfähig? Was war denn so Schweres daran, alle Beziehungen abzubrechen, wenn diese Menschen zudem selbst nichts von mir wissen wollten? Meine Mutter und meine Schwester? Aber diese beiden wollte ich in keinem Fall verlassen – welche Wendung die Sache auch nehmen mochte.

Es ist wahr: das Auftreten dieses Menschen in meinem Leben, als ich noch in der ersten Kindheit war, hatte zwar nur einen Augenblick gedauert, mir aber doch jenen bedeutsamen Stoß gegeben, von dem mein Bewußtsein begann. Wäre ich damals nicht mit ihm zusammengetroffen, so würden mein Verstand, meine Denkart, mein Schicksal sich gewiß anders gestaltet haben, sogar trotz meines mir vom Schicksal vorherbestimmten Charakters, dem ich allerdings nicht hätte entgehen können.

Und nun stellte es sich heraus, daß dieser Mensch nur ein Phantasiegebilde von mir war, ein Phantasiegebilde aus meinen Kinderjahren. Ich selbst hatte ihn mir so ausgedacht, in Wirklichkeit aber war er ein ganz anderer und stand tief, tief unter dem Gebilde meiner Phantasie. Zu einem sittlich reinen Menschen war ich hergereist, nicht zu diesem. Und warum hatte ich ihn ein für allemal liebgewonnen in jenem kurzen Augenblick, als ich, noch ein kleines Kind, ihn damals erblickte? Dieses »ein für allemal« mußte nun verschwinden. Ich werde später einmal, wenn sich dazu Platz findet, diese unsere erste Begegnung erzählen: es war ein ganz unbedeutender Vorgang, auf den sich keine Folgerung bauen ließ. Aber ich baute eine ganze Pyramide von Folgerungen darauf auf. Ich begann diese Pyramide schon unter der Decke meines Kinderbettchens, wenn ich vor dem Einschlafen weinte und meinen Gedanken nachhing; worüber ich weinte und worüber ich nachdachte, das weiß ich selbst nicht. Darüber, daß ich so verlassen war? Darüber, daß ich gequält wurde? Aber gequält wurde ich nur wenig, nur zwei Jahre lang in der Touchardschen Pension, in die er mich brachte, worauf er für immer wegfuhr. Nachher hat mich niemand mehr gequält; vielmehr habe sogar ich selbst stolz auf meine Mitschüler hinabgeblickt. Und ich kann auch jene sich selbst bejammernden vaterlosen Kinder nicht ausstehen! Ich kenne nichts Ekelhafteres, als wenn diese illegitimen vaterlosen Kinder, alle diese Ausgestoßenen und überhaupt diese ganze Bagage, mit der ich nicht das geringste Mitleid habe, sich auf einmal feierlich vor dem Publikum erheben und kläglich, aber erbaulich losheulen: »Seht, wie man an uns gehandelt hat!« Am liebsten würde ich diese vaterlosen Kinder durchhauen. Niemand von dieser widerwärtigen Gesellschaft hat Verständnis dafür, daß es für ihn sehr viel anständiger ist, zu schweigen und nicht zu heulen und sich nicht zu Klagen herabzuwürdigen. Wenn du dich aber dazu herabwürdigst, du Sohn der Liebe, dann hast du dein Los verdient. So denke ich darüber!

herabzuwürdigen

Aber nicht das war lächerlich, daß ich früher »unter meinem Bettdeckchen« phantastischen Träumereien nachgehangen hatte, sondern daß ich nun gerade um seinetwillen hergereist war, wieder um dieses erdachten Menschen willen, und meine Hauptziele dabei fast vergessen hatte. Ich war hergefahren, um ihm im Kampf gegen die Verleumdung, bei der Überwindung seiner Feinde zu helfen. Jenes Schriftstück, von dem Krafft gesprochen hatte, jener Brief, den diese Frau an Andronikow geschrieben hatte und um den sie jetzt solche Angst ausstand, jener Brief, der ihr Lebensglück zertrümmern und sie an den Bettelstab bringen konnte und von dem sie annahm, daß er sich in Wersilows Händen befinde, – dieser Brief befand sich nicht in Wersilows Händen, sondern war in meiner Seitentasche eingenäht! Ich hatte ihn selbst eingenäht, und bisher wußte kein Mensch auf der ganzen Welt etwas davon. Daß Marja Iwanowna, die das Schriftstück »in Verwahrung« gehabt hatte, bei ihrer Vorliebe für alles Romanhafte für nötig befunden hatte, es mir zu übergeben und keinem andern, das hatte von ihrer Ansicht und ihrem freien Willen abgehangen, und ich bin nicht verpflichtet, es zu erklären; vielleicht erzähle ich die Geschichte einmal bei Gelegenheit; aber nachdem ich in so unerwarteter Weise eine Waffe in die Hand bekommen hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich in Petersburg zu zeigen. Allerdings beabsichtigte ich diesem Menschen nur insgeheim zu helfen, ohne selbst hervorzutreten und ohne mich zu ereifern und ohne von ihm Belobigungen oder Umarmungen zu erwarten. Und niemals, niemals wollte ich mich dazu herabwürdigen, ihm irgendeinen Vorwurf zu machen! Was konnte er denn auch dafür, daß ich mich in ihn verliebt und mir aus ihm ein phantastisches Ideal zurechtgemacht hatte? Und vielleicht liebte ich ihn nicht einmal. Sein origineller Geist, sein interessanter Charakter, seine Intrigen und Abenteuer und der Umstand, daß meine Mutter bei ihm wohnte, all das hätte mich, wie ich glaubte, nicht mehr halten können; es genügte schon das eine, daß meine phantastische Puppe zerbrochen war und ich ihn vielleicht nicht mehr lieben konnte. Was war es denn also, was mich hielt und woran ich mich festklammerte? Das war die Frage. Und als Resultat ergab sich, daß nur ich der Dumme war und sonst niemand.

herabwürdigen

Aber wie ich von anderen Ehrlichkeit verlange, so werde ich auch selbst ehrlich sein: ich muß bekennen, daß das in meiner Tasche eingenähte Schriftstück in mir nicht nur den leidenschaftlichen Wunsch erregt hatte, Wersilow zu Hilfe zu eilen. Jetzt ist mir das alles vollständig klar, und auch schon damals brachte mich ein anderer Gedanke zum Erröten. Es hatte mir eine Frau vorgeschwebt, ein stolzes Wesen aus den höchsten Kreisen, der ich Auge in Auge gegenübertreten würde; sie würde mich verachten, über mich lachen wie über eine armselige Maus, ohne auch nur zu ahnen, daß ich der Herr ihres Schicksals bin. Dieser Gedanke hatte mich schon in Moskau berauscht und besonders im Eisenbahnwagen, als ich hierherfuhr; ich habe das schon weiter oben eingestanden. Ja, ich haßte diese Frau, aber ich liebte sie bereits als mein Opfer, und das alles ist die reine Wahrheit, so war das alles in Wirklichkeit. Aber dabei war das ein so kindisches Benehmen, wie ich es nicht einmal von einem solchen Menschen wie mir erwartet hätte. Ich schildere meine damaligen Empfindungen, das heißt das, was mir damals durch den Kopf ging, als ich in dem Restaurant unter der Nachtigall saß und den Entschluß faßte, noch an diesem Abend ein für allemal mit ihnen zu brechen. Der Gedanke an die kurz vorher erfolgte Begegnung mit dieser Frau trieb mir plötzlich die Schamröte ins Gesicht. Eine schmähliche Begegnung! Ein schmählicher, dummer Eindruck, der – und das war das Wichtigste – auf das deutlichste meine Unfähigkeit zu ernstem Handeln bewies. Es bewies nur – so dachte ich damals –, daß ich nicht einmal den dümmsten Verlockungen Widerstand zu leisten imstande sei, während ich doch selbst eben erst zu Krafft gesagt hatte, ich hätte »meinen Platz« und meine Aufgabe, und selbst ein Leben von dreifacher Länge würde mir noch zu wenig sein. Voll Stolz hatte ich das gesagt. Daß ich meine Idee beiseite geworfen und mich in Wersilows Angelegenheiten eingemischt hatte, dafür könnte man noch eine Entschuldigung vorbringen; aber daß ich wie ein überraschter Hase mich von einer Seite nach der andern warf und mich auf alle möglichen Lappalien einließ, daran war offenbar nichts anderes als meine Dummheit schuld. Hatte mich der Teufel reiten müssen, zu Dergatschew hinzugehen und dort mit meinen Dummheiten herauszuplatzen, obwohl ich doch schon längst wußte, daß ich es nicht verstehe, etwas verständig und vernünftig darzulegen, und am besten tue zu schweigen! Und so ein Wassin mußte mich dann durch den Hinweis darauf trösten, daß ich »noch fünfzig Lebensjahre vor mir hätte und somit kein Grund vorläge, mich zu grämen«. Dieser sein Gedanke ist schön, das gebe ich zu, und macht seinem unbestreitbaren Verstand alle Ehre; schön ist er schon dadurch, daß er ganz einfach ist, und das Einfachste begreift man immer erst zuletzt, wenn man schon alles, was wunderlicher und dümmer ist, durchprobiert hat; aber ich hatte diesen Gedanken schon selbst gekannt, noch ehe Wassin ihn aussprach; diesen Gedanken hatte ich schon seit mehr als drei Jahren gehabt; ja noch mehr: in ihm steckte zum Teil »meine Idee«. – Das war's, was mir damals in dem Restaurant durch den Kopf ging.

 

Mir war widerwärtig zumute, als ich, müde vom Gehen und von meinen Gedanken, am Abend zwischen sieben und acht Uhr nach dem Semjonowskij Polk wanderte. Es war schon ganz dunkel geworden, und das Wetter hatte sich geändert: es war trocken, aber ein unangenehmer Petersburger Wind, so recht schneidend und scharf, hatte sich erhoben, blies mir in den Rücken und wirbelte ringsumher Staub und Sand auf. Wie viele verdrießliche Gesichter bekam ich bei dem einfachen Volk zu sehen, das eilig von seiner Arbeit und von seinem Gewerbe nach den dürftigen Wohnungen zurückkehrte! Jedem stand seine eigene mürrische Sorge im Gesicht geschrieben, und es war in der ganzen Menge vielleicht kein einziger gemeinsamer, einigender Gedanke zu finden! Krafft hatte recht: ein jeder lebt nur für sich. Ich stieß auf einen kleinen Knaben, so klein, daß man sich wundern mußte, wie er um diese Tageszeit noch allein auf der Straße sein konnte; er schien sich verlaufen zu haben; eine Frau blieb einen Augenblick stehen, um ihn anzuhören, aber da sie ihn nicht verstand, breitete sie ratlos die Arme aus, ging weiter und ließ ihn im Dunkeln allein stehen. Ich trat zu ihm heran, aber er bekam auf einmal vor mir Angst und lief davon. Als ich mich unserer Wohnung näherte, nahm ich mir vor, nie zu Wassin zu gehen. Während ich die Treppe hinaufstieg, empfand ich den lebhaften Wunsch, die Meinigen allein zu Hause zu finden, ohne Wersilow, damit ich vor seiner Ankunft noch zu meiner Mutter oder zu meiner lieben Schwester ein freundliches Wort sagen könnte; mit der letzteren hatte ich einen ganzen Monat lang fast nie ein Wort gesprochen. Es traf sich wirklich so, daß er nicht zu Hause war...

IV

Übrigens: da ich jetzt in meinen »Aufzeichnungen« diese neue Person auf die Bühne bringe (ich rede von Wersilow), so will ich in aller Kürze seinen Lebenslauf vorführen, der übrigens nichts Besonderes darbietet. Ich tue das, damit dem Leser alles noch besser verständlich wird und weil ich nicht vorherzusehen vermag, wo ich diese Biographie im weiteren Verlauf der Erzählung würde einschieben können.

Er studierte auf der Universität, trat dann aber in ein Gardeanariotowa und nahm den Abschied. Er reiste ins Ausland und führte nach seiner Rückkehr in Moskau ein vornehmes, vergnügtes Leben. Nach dem Tod seiner Frau begab er sich auf sein Gut; hier fand die Episode mit meiner Mutter statt. Dann lebte er lange Zeit irgendwo im Süden. Als der Krieg mit den westeuropäischen Mächten ausbrach, trat er wieder ins Militär ein, gelangte aber nicht nach der Krim und kam die ganze Zeit über in kein Gefecht. Nach Beendigung des Krieges nahm er wieder den Abschied und ging ins Ausland, wohin er sogar meine Mutter mitnahm, indes ließ er sie in Königsberg. Die Ärmste hat mir manchmal mit wahrem Entsetzen und mit Kopfschütteln erzählt, wie sie damals dort ein ganzes halbes Jahr mutterseelenallein mit ihrem kleinen Töchterchen gelebt habe, ohne Kenntnis der Sprache, wie verraten und verkauft, und wie ihr zuletzt auch noch das Geld ausgegangen sei. Da war Tatjana Pawlowna hingekommen, hatte sie zurückgeholt und nach irgendeinem Ort im Gouvernement Nischnij Nowgorod gebracht. Darauf übernahm Wersilow eine Stelle als Friedensrichter des ersten Aufgebots und soll sie vorzüglich ausgefüllt haben; aber er gab sie bald wieder auf und beschäftigte sich in Petersburg mit der Führung von allerlei Zivilprozessen. Andronikow stellte seine Fähigkeiten immer sehr hoch, schätzte ihn sehr und sagte nur, er werde aus seinem Charakter nicht klug. Dann gab Wersilow auch diese Tätigkeit auf und reiste wieder ins Ausland, diesmal für längere Zeit, auf mehrere Jahre. Danach bildeten sich besonders enge Beziehungen zwischen ihm und dem alten Fürsten Sokolskij heraus. Während dieser ganzen Zeit änderten sich seine Vermögensverhältnisse zwei- oder dreimal vollständig: bald versank er in größte Armut, bald wurde er auf einmal wieder reich und kam in die Höhe.

Übrigens will ich jetzt, wo ich meine Aufzeichnungen bis zu diesem Punkt geführt habe, mich dazu entschließen, auch »meine Idee« darzulegen. Es ist das erstemal seit ihrer Entstehung, daß ich sie in Worte kleide. Ich entschließe mich, sie sozusagen dem Leser zu enthüllen, und zwar ebenfalls zu besserer Verständlichkeit meiner weiteren Darlegungen. Denn nicht nur für den Leser, sondern auch für mich selbst, den Verfasser, ist es eine schwere Aufgabe, aus den von mir getanen Schritten klug zu werden, wenn nicht vorher erklärt worden ist, was mich zu ihnen geführt und gedrängt hat. Durch diese »Redefigur des Verschweigens« bin ich infolge meiner Ungeschicklichkeit wieder in jene »Finessen« der Romanschriftsteller hineingeraten, die ich oben selbst verspottet habe. Jetzt, wo ich in die Tür meines Petersburger Romans mit all meinen darin enthaltenen schmählichen Erlebnissen eintrete, finde ich eine solche Vorbemerkung unumgänglich notwendig. Aber nicht jene Finessen haben mich dazu verleitet, bisher über manche Punkte Stillschweigen zu bewahren, sondern das Wesen der Sache selbst, das heißt die Schwierigkeit, sie darzustellen; sogar jetzt, wo schon alles Vergangene vergangen ist; fühle ich die fast unüberwindliche Schwierigkeit einer Darlegung dieser »Idee«. Überdies muß ich sie ohne Zweifel in ihrer damaligen Form darstellen, das heißt so, wie sie sich in meinem Kopf gestaltet hatte und mir damals vor dem geistigen Auge stand, nicht so, wie sie jetzt aussieht, – und das ist wieder eine neue Schwierigkeit. Manche Dinge auseinanderzusetzen, ist beinahe unmöglich. Gerade diejenigen Ideen, die am allereinfachsten und am allerklarsten sind, gerade die sind besonders schwer zu begreifen. Hätte Kolumbus vor der Entdeckung Amerikas es unternommen, anderen seine Idee darzulegen, so bin ich überzeugt, daß sie ihn sehr, sehr lange nicht verstanden hätten. Und sie haben ihn auch wirklich nicht verstanden. Wenn ich das sage, beabsichtige ich ganz und gar nicht, mich mit Kolumbus auf eine Stufe zu stellen, und wenn jemand das aus meinen Worten folgern sollte, dann mag er sich schämen; weiter sage ich nichts.

Fünftes Kapitel
I

Meine Idee ist – ein Rothschild zu werden. Ich bitte den Leser, ruhig und ernst zu bleiben.

Ich wiederhole: meine Idee ist, ein Rothschild zu werden, ebenso reich zu werden wie Rothschild, nicht bloß einfach reich, sondern geradeso reich wie Rothschild. Weshalb und warum ich das will und welche Zwecke ich damit verfolge, davon soll später die Rede sein. Zunächst will ich nur beweisen, daß die Erreichbarkeit meines Zieles mit mathematischer Sicherheit feststeht.

Die Sache ist sehr einfach; das ganze Geheimnis besteht in zwei Worten: Energie und Ausdauer.

Energie

Ausdauer

»Das haben wir schon oft gehört, das ist nichts Neues«, wird man mir erwidern, »jeder Hausvater in Deutschland prägt das fortwährend seinen Kindern ein, aber doch ist dein Rothschild« (das heißt der verstorbene Pariser James Rothschild, von dem ich rede) »immer nur eine vereinzelte Erscheinung geblieben, Hausväter aber gibt es Millionen.«

Darauf würde ich antworten:

»Ihr behauptet, das schon oft gehört zu haben, aber dabei habt ihr gar nichts gehört. In einem Punkt habt ihr allerdings recht: wenn ich gesagt habe, diese Sache sei ›sehr einfach‹, so habe ich vergessen hinzuzufügen, daß sie zugleich sehr schwer ist. Alle Religionen und Sittenlehren der Welt laufen auf die eine Vorschrift hinaus: ›Man muß die Tugend lieben und das Laster meiden.‹ Was könnte, scheint es, einfacher sein? Nun wohl, so tut doch mal etwas Tugendhaftes und meidet auch nur eines eurer Laster, versucht es doch mal – nun? Ebenso ist es auch hiermit.«

Das ist der Grund, weshalb jene zahllosen Hausväter im Laufe zahlloser Jahrhunderte diese wunderbaren beiden Worte, in denen das ganze Geheimnis steckt, immerzu wiederholen können und Rothschild doch nur eine vereinzelte Erscheinung bleibt. Nämlich: es ist doch nicht dasselbe, und was die Hausväter da immerzu wiederholen, ist keineswegs der richtige Gedanke.

Von Energie und Ausdauer haben auch sie ohne Zweifel etwas gehört; aber zur Erreichung meines Zieles ist etwas anderes erforderlich als diese hausväterische Energie und diese hausväterische Ausdauer.

Nehmen wir auch nur den einen Umstand, daß der Betreffende Hausvater ist – ich rede nicht allein von den deutschen Hausvätern –, daß er eine Familie hat, wie alle andern Menschen lebt, Ausgaben hat wie alle andern Menschen, Pflichten wie alle andern Menschen – da kann einer kein Rothschild werden; da kommt er über die Mittelstufe nicht hinaus. Mir für meine Person ist es vollständig klar, daß ich, wenn ich ein Rothschild werde oder es auch nur zu werden wünsche, aber nicht auf die hausväterische Manier, sondern ernsthaft, daß ich dadurch ganz von selbst aus der Gesellschaft ausscheide.

Vor einigen Jahren las ich in den Zeitungen, daß auf einem Wolgadampfer ein Bettler gestorben sei, der in Lumpen ging, um Almosen bat und dort allgemein bekannt war. Nach seinem Tode fand man bei ihm, in seine Lumpen eingenäht, gegen dreitausend Rubel in Banknoten. Und neulich habe ich wieder von einem Bettler gelesen, einem Adligen, der in den Restaurationen umherging und dort den Gästen die hohle Hand hinhielt. Er wurde verhaftet, und man fand bei ihm ungefähr fünftausend Rubel. Daraus ergeben sich ohne weiteres zwei Schlußfolgerungen: erstens, daß Energie beim Sparen, selbst bei Beträgen von wenigen Kopeken, schließlich gewaltige Resultate erzielt (die Zeitdauer ist dabei bedeutungslos), und zweitens, daß selbst die kunstloseste Form des Erwerbs, wenn sie nur mit Ausdauer betrieben wird, mit mathematischer Sicherheit auf Erfolg rechnen kann.

Energie

Ausdauer

Und doch gibt es vielleicht sehr viele achtbare, kluge, enthaltsame Leute, die (trotz aller Mühe) es weder zu drei- noch zu fünftausend Rubeln bringen und die doch furchtbar gern eine solche Summe besitzen möchten. Woher kommt das? Die Antwort liegt auf der Hand: weil keiner von ihnen, mag er es auch noch so sehr wünschen, so viel Willensstärke besitzt, um zum Beispiel, wenn er auf keine andere Weise etwas erwerben kann, sogar Bettler zu werden, und weil keiner von ihnen, selbst wenn er Bettler geworden ist, energisch genug ist, um nicht gleich die ersten Kopeken, die er erhält, zur Beschaffung eines nicht unbedingt notwendigen Nahrungsmittels für sich oder für seine Familie auszugeben. Und doch muß man bei dieser Sparmethode, ich meine bei der Bettelei, um solche Summen zusammenzubringen, sich von weiter nichts als von Brot und Salz nähren; das ist wenigstens meine Meinung. So haben es sicherlich auch die oben erwähnten beiden Bettler gemacht, das heißt, sie haben nur Brot gegessen und fast unter freiem Himmel gelebt. Zweifellos hatten sie nicht die Absicht, Rothschilds zu werden: sie waren nur Harpagons oder Pljuschkins reinsten Wassers, weiter nichts; aber auch beim zielbewußten Gelderwerb, der in ganz anderer Form, aber mit der Absicht geführt wird, ein Rothschild zu werden, ist nicht weniger Willenskraft erforderlich, als sie diese beiden Bettler besaßen. Ein Hausvater kann eine solche Willenskraft nicht aufbringen. Die Kräfte sind auf der Welt von sehr verschiedener Stärke; ganz besonders gilt das von der Willenskraft. Es gibt eine Temperatur, bei der das Wasser zu sieden anfängt, und es gibt eine Temperatur, bei der das Eisen rotglühend wird.

 

Willensstärke

Das steht auf derselben Stufe wie das Klosterleben und die erstaunlichen Leistungen der Askese. Die treibende Kraft ist hierbei das Gefühl und nicht die Idee. Warum? Wozu? Ist es denn, kann man fragen, eine sittlich gute Handlungsweise und nicht vielmehr eine Ungeheuerlichkeit, lebenslänglich in einem groben Kittel zu gehen und Schwarzbrot zu essen und dabei eine solche Geldsumme mit sich herumzuschleppen? Auf diese Fragen will ich später zurückkommen; jetzt handelt es sich nur um die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen.

Als ich »meine Idee« erdachte (und ihr Wesen besteht gerade in der Rotglühhitze), da fing ich an, mich zu prüfen, ob ich wohl fähig wäre, ein Mönchsleben zu führen und Askese zu üben. In dieser Absicht genoß ich den ganzen ersten Monat lang nur Brot und Wasser. An Schwarzbrot hatte ich nicht mehr als zwei und ein halbes Pfund täglich nötig. Um dies durchzuführen, mußte ich den klugen Nikolai Semjonowitsch und die mir so wohlgesinnte Marja Iwanowna täuschen. Zur Kränkung der letzteren und zur Verwunderung des sehr zartfühlenden Nikolai Semjonowitsch bestand ich darauf, daß mir das Mittagessen auf mein Zimmer gebracht würde. Dort beseitigte ich es einfach: die Suppe goß ich aus dem Fenster in die Nesseln oder sonstwohin, und das Fleisch warf ich entweder durch das Fenster dem Hund hin, oder ich wickelte es in Papier, steckte es in die Tasche und trug es dann hinaus, und ebenso alles übrige. Da mir Brot zum Mittagessen viel weniger als zweieinhalb Pfund gegeben wurde, kaufte ich mir für mein eigenes Geld heimlich Brot dazu. Ich hielt diesen ganzen Monat über aus und verdarb mir nur vielleicht ein wenig den Magen; im folgenden Monat aber fügte ich zu dem Brot noch die Suppe hinzu und morgens und abends je ein Glas Tee – und ich kann versichern, daß ich auf diese Weise ein ganzes Jahr in vollständiger Gesundheit und Zufriedenheit verlebte, seelisch aber in einer Art von Rausch und in einem ununterbrochenen heimlichen Entzücken. Ich grämte mich nicht um die Speisen, die ich mir entgehen ließ, sondern ich war voller Begeisterung. Nach Ablauf des Jahres hatte ich die Überzeugung gewonnen, daß ich imstande war, jedes beliebige Fasten zu ertragen, und fing nun wieder an, ebenso zu essen wie die andern und an dem gemeinsamen Mittagstisch teilzunehmen. Mit dieser Probe noch nicht zufrieden, stellte ich noch eine zweite an: außer dem Pensionspreis, der an Nikolai Semjonowitsch bezahlt wurde, stand für meine kleinen Ausgaben ein Taschengeld von monatlich fünf Rubeln zur Verfügung. Ich nahm mir vor, davon nur die Hälfte zu verbrauchen. Das war eine sehr schwere Prüfung, aber nach etwas über zwei Jahren hatte ich bei der Ankunft in Petersburg außer dem übrigen Geld siebzig Rubel in der Tasche, die ich mir nur durch dieses System erspart hatte. Das Resultat dieser beiden Versuche, war für mich höchst bedeutungsvoll: ich hatte positiv erkannt, daß ich genug Willenskraft besaß, um mein Ziel zu erreichen; darauf aber, ich wiederhole es, beruht meine ganze »Idee«; alles übrige sind Kleinigkeiten.