Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

II

Werfen wir jedoch einen Blick auch auf die Kleinigkeiten.

Ich habe meine beiden Versuche beschrieben; in Petersburg machte ich, wie bereits bekannt, einen dritten: ich ging zu einer Auktion und profitierte auf einen Schlag sieben Rubel und fünfundneunzig Kopeken. Allerdings war das kein richtiger Versuch, sondern nur eine Art Spiel, ein Amüsement: es wandelte mich die Lust an, einen Augenblick aus der Zukunft zu stehlen und zu probieren, wie ich mich da verhalten und handeln würde. Überhaupt hatte ich die wirkliche Inangriffnahme meines Werkes gleich von vornherein in Moskau auf die Zeit verschoben, wo ich vollständig frei sein würde; ich wußte nur zu gut, daß ich zum Beispiel zuerst mit dem Gymnasium fertig sein müßte. (Auf das Universitätsstudium hatte ich, wie schon bekannt, meiner Idee zuliebe verzichtet.) Unstreitig war ich nach Petersburg mit einem geheimen Ingrimm gefahren: eben hatte ich das Gymnasium absolviert und war zum erstenmal frei, da mußte ich auf einmal sehen, daß Wersilows Angelegenheiten mich aufs neue für eine Weile von dem Beginn meiner Tätigkeit abhielten! Aber trotz meines Ingrimms fühlte ich mich doch während der Reise hinsichtlich der Erreichung meines Zieles ganz beruhigt.

Es ist ja wahr, daß ich das praktische Leben noch nicht kannte; aber ich hatte drei Jahre lang unaufhörlich alles überdacht und konnte an dem Gelingen nicht zweifeln. Tausendmal hatte ich es mir ausgemalt, wie ich zu Werk gehen wollte: ich würde auf einmal wie vom Himmel herabgefallen in einer unserer beiden Hauptstädte erscheinen (ich hatte mir für den Anfang unsere Hauptstädte erwählt und speziell Petersburg, dem ich auf Grund einer gewissen Berechnung den Vorzug gab); also ich würde wie vom Himmel herabgefallen, aber vollständig frei, von niemand abhängig und gesund sein und heimlich hundert Rubel als erstes Betriebskapital in der Tasche haben. Ohne die hundert Rubel die Sache anzufangen, das schien mir nicht möglich, da sonst die allererste Periode des Erfolgs sich gar zu lange ausdehnen würde. Außer den hundert Rubeln besaß ich, wie schon bekannt, Mannhaftigkeit, Energie, Ausdauer, völlige Zurückgezogenheit in mich selbst und Verschwiegenheit. Die Zurückgezogenheit war die Hauptsache: ich konnte bis zum letzten Augenblick Beziehungen zu andern Menschen und Verbindungen mit ihnen absolut nicht leiden; allgemein gesagt, ich war fest entschlossen, die Ausführung meiner »Idee« allein zu beginnen; das war für mich eine Conditio sine qua non. Die Menschen waren mir störend; ich hätte mich unruhig gefühlt, und die Unruhe hätte den Erfolg meines Strebens beeinträchtigt. Überhaupt ist es mir bisher in meinem ganzen Leben immer folgendermaßen ergangen: wenn ich es mir im Kopf zurechtlegte, wie ich mit den Leuten umgehen würde, dann erschien mir das immer sehr klug; sowie es aber wirklich dazu kam, machte ich immer arge Dummheiten. Mit Entrüstung über mich selbst gestehe ich ganz aufrichtig, daß ich in meinen Reden immer zu heftig gewesen bin und mich selbst verraten habe, und darum habe ich beschlossen, den Verkehr mit den Menschen möglichst einzuschränken. Was ich dabei gewinne, ist: Unabhängigkeit, Ruhe des Gemüts, ein klarer Blick für mein Ziel.

Trotz der horrenden Preise in Petersburg hatte ich mir ein für allemal vorgenommen, nicht mehr als fünfzehn Kopeken für Essen auszugeben, und ich wußte, daß ich Wort halten würde. Diese Frage wegen des Essens hatte ich lange und eingehend überlegt; ich hatte zum Beispiel beschlossen, manchmal zwei Tage hintereinander nur Brot und Salz zu essen, aber in der Absicht, am dritten Tag die an den beiden vorhergehenden Tagen gemachten Ersparnisse mit auszugeben; es schien mir, daß das für die Gesundheit vorteilhafter sein würde als die stete, gleichmäßige Fastenkost für den festen Satz von fünfzehn Kopeken. Ferner brauchte ich, um zu existieren, ein Winkelchen, buchstäblich nur ein Winkelchen, einzig und allein um da die Nacht zu schlafen oder an einem gar zu garstigen Tag unterzukriechen. In der Hauptsache beabsichtigte ich auf der Straße zu leben und war im Falle der Not auch willens, in einem Nachtasyl zu nächtigen, wo man außer dem Nachtlager auch noch ein Stück Brot und ein Glas Tee bekommt. Oh, ich würde es schon verstehen, mein Geld zu verstecken, damit es mir in meinem Winkelchen oder im Asyl niemand wegstahl oder es auch nur bemerkte; das glaubte ich garantieren zu können!

»Mir sollte etwas gestohlen werden? Eher ist zu befürchten, daß ich selbst einem etwas stehle!« hörte ich einmal auf der Straße einen durchtriebenen Patron höchst vergnügt sagen. Natürlich stelle ich mich ihm nur hinsichtlich der Vorsicht und Schlauheit gleich, Stehlen liegt nicht in meiner Absicht. Ja noch mehr: schon in Moskau und vielleicht gleich am Entstehungstag meiner »Idee« hatte ich beschlossen, weder Pfandleiher noch Wucherer zu werden: dazu sind die Juden da und diejenigen Russen, die weder Verstand noch Charakter besitzen. Pfandleihe und Wucher – das ist etwas Ordinäres.

Was die Kleidung anlangt, so beabsichtigte ich, zwei Anzüge zu besitzen, einen Alltagsanzug und einen guten. Nachdem ich sie mir einmal angeschafft hatte, war ich überzeugt, daß ich sie lange tragen würde; ich hatte mich zwei und ein halbes Jahr lang absichtlich darin geübt, die Kleider schonend zu tragen, und sogar ein Geheimnis entdeckt: damit ein Kleidungsstück immer neu bleibt und sich nicht abträgt, muß man es möglichst oft mit der Bürste reinigen, fünf- oder sechsmal täglich. Die Bürste schadet dem Tuch nicht (ich spreche als Sachverständiger), wohl aber Staub und Schmutz. Der Staub ist eine Art von Steinen, wenn man ihn unter dem Mikroskop ansieht, die Bürste aber, mag sie auch noch so hart sein, hat immer eine gewisse Ähnlichkeit mit Wolle. In gleicher Weise habe ich die Stiefel tragen gelernt: das Geheimnis besteht darin, daß man den Fuß vorsichtig mit der ganzen Sohle zugleich aufsetzen und ihn möglichst selten seitwärts drehen muß. Lernen kann man dies in vierzehn Tagen, nachher macht man es ganz unbewußt. Durch dieses Mittel halten die Stiefel durchschnittlich um ein Drittel länger. Das habe ich in zwei Jahren erprobt.

Darauf begann dann meine eigentliche Tätigkeit.

Ich ging von folgender Überlegung aus: ich besitze hundert Rubel. In Petersburg gibt es so viele Auktionen, Ausverkäufe, kleine Trödelläden und so viele Menschen, die etwas gebrauchen, daß man mit Sicherheit darauf rechnen kann, wenn man etwas gekauft hat, es für einen höheren Preis wieder zu verkaufen. An dem Album habe ich sieben Rubel und fünfundneunzig Kopeken bei einem Anlagekapital von zwei Rubeln und fünf Kopeken verdient. Diesen gewaltigen Gewinn habe ich ohne Risiko gemacht: ich habe es dem Käufer an den Augen angesehen, daß er nicht zurücktreten würde. Natürlich begreife ich sehr wohl, daß das nur ein Zufall war; aber solche Zufälle will ich ja eben aufsuchen; gerade deswegen habe ich beschlossen, auf der Straße zu leben. Nun, mögen solche Zufälle auch sehr selten vorkommen, ganz gleich, meine Hauptmaxime wird sein, nichts zu riskieren, und meine zweite, unbedingt täglich etwas mehr als den für meinen Unterhalt ausgeworfenen Satz zu verdienen, damit die Vermehrung des Kapitals auch nicht für einen Tag eine Unterbrechung erleidet.

Man wird mir sagen: »Das sind alles nur Phantasien; Sie kennen die Straße nicht und werden beim ersten Schritt übers Ohr gehauen werden.« Aber ich besitze Willenskraft und Charakterfestigkeit, und die Straßenwissenschaft ist eine Wissenschaft wie jede andere; ein energischer, eifriger, befähigter Mensch kann sie bewältigen. Auf dem Gymnasium war ich bis zur obersten Klasse immer einer der Ersten, und speziell in der Mathematik war ich sehr tüchtig. Man darf doch die praktische Erfahrung und die Straßenwissenschaft nicht in so sinnlosem Maße überschätzen, daß man mir unbedingt einen Mißerfolg prophezeit! So reden immer nur diejenigen, die niemals einen Versuch auf irgendeinem Gebiet unternommen, kein eigenes Leben angefangen, sondern immer nur auf ihrem vorhandenen Besitz vegetiert haben. »Einer hat sich die Nase zerschlagen, also wird es ein anderer unfehlbar auch tun.« Nein, ich werde mir nicht die Nase zerschlagen. Ich besitze Charakterfestigkeit und werde bei einiger Aufmerksamkeit alles lernen. Kann denn jemand glauben, daß man bei ununterbrochener Energie, bei ununterbrochener Achtsamkeit, bei ununterbrochener Überlegung und Berechnung, bei grenzenloser Tätigkeit und Lauferei nicht schließlich lernen sollte, wie man täglich zwanzig Kopeken Reingewinn erzielen kann? Die Hauptsache ist, ich habe beschlossen, es niemals auf den höchsten denkbaren Gewinn anzulegen, sondern immer ruhig zu bleiben. Späterhin, wenn ich schon tausend oder zweitausend Rubel erworben habe, dann werde ich natürlich ganz von selbst aufhören, den Faktor zu spielen und auf der Straße allerlei zu kaufen und wieder zu verkaufen. Natürlich kenne ich das Treiben an der Börse, das Aktienwesen und das Bankgeschäft und all dergleichen jetzt noch sehr wenig. Aber dafür ist es mir bekannt wie meine fünf Finger, daß ich alle diese Börsen- und Bankgeschäfte lernen werde und sie zur rechten Zeit ebenso gut verstehen werde wie ein anderer und daß diese Kenntnisse sich ganz von selbst bei mir einstellen werden, weil die Sache es so mit sich bringen wird. Ist denn dazu so viel Verstand nötig? Was für eine salomonische Weisheit ist denn schon dazu erforderlich? Wenn man nur Charakterfestigkeit besitzt: Verständnis, Gewandtheit und Wissen kommen dann ganz von allein. Man darf nur nicht aufhören zu wollen.

Die Hauptsache ist, nichts zu riskieren; diesem Grundsatz kann man aber nur treu bleiben, wenn man charakterfest ist. Noch kürzlich, als ich schon in Petersburg war, kam mir eine Subskriptionsliste auf Eisenbahnaktien in die Hand; diejenigen Leute, die das Glück gehabt hatten, zu subskribieren, hatten viel Geld verdient. Eine Zeitlang waren die Aktien tüchtig gestiegen. Nun nehmen wir einmal an, es habe jemand bei der Subskription die Zeit verpaßt, möchte jetzt gern Aktien haben, sähe solche in meinen Händen und machte mir den Vorschlag, sie ihm mit soundso viel Prozent Gewinn zu verkaufen. Dann würde ich sie ihm unbedingt sofort verkaufen. Allerdings würden die Leute mich auslachen und sagen: »Wenn du noch ein Weilchen gewartet hättest, hättest du das Zehnfache daran verdienen können.« Ja, aber mein Gewinn verdient schon dadurch den Vorzug, daß ich ihn in der Tasche habe, während der eurige noch in der Luft umherfliegt. Jene werden einwenden, auf diese Art könne man nicht viel verdienen. Pardon, das ist gerade euer Fehler, der Fehler all dieser Kokorew, Poljakow, Gubonin. Hört die Wahrheit: Energie und Ausdauer im Erwerben, besonders im Sparen, richten mehr aus als momentane Gewinne, selbst wenn diese sich auf mehrere hundert Prozent belaufen.

 

Nicht lange vor der Französischen Revolution erschien in Paris ein gewisser Law und stellte ein im Prinzip geniales Projekt auf (das aber nachher bei der Verwirklichung vollständig scheiterte). Ganz Paris war in Aufregung; Laws Aktien wurden reißend gekauft, der Andrang war gewaltig. In das Haus, in dem die Subskription eröffnet war, strömte wie aus einem Sack das Geld aus ganz Paris zusammen; aber auch das Haus reichte schließlich nicht aus: das Publikum stand in dichtem Haufen auf der Straße, Angehörige aller Berufsarten, aller Stände, aller Lebensalter, Bourgeois, Adlige, deren Kinder, Gräfinnen, Marquisen, Prostituierte, alles keilte sich zu einer wütenden, halbverrückten Masse zusammen, als wären sie von einem tollen Hunde gebissen. Rang und Stand, Vorurteile der Geburt und des Stolzes, sogar Ehre und guter Name, alles wurde in den Schmutz getreten; alles wurde geopfert (sogar von den Frauen), um nur ein paar Aktien zu bekommen. Die Subskription wurde schließlich auf die Straße verlegt, aber dort fehlte es an einem Tisch, auf dem man hätte schreiben können. Da machte man einem Buckligen den Vorschlag, seinen Buckel für eine Weile als Tisch zur Verfügung zu stellen, damit so die Subskription auf die Aktien stattfinden könne. Der Bucklige willigte ein – man kann sich vorstellen, für welchen Preis! Nicht lange darauf (es hatte nur sehr kurze Zeit gedauert) waren alle bankrott, das ganze Unternehmen war geplatzt, die ganze Idee zum Teufel, und die Aktien hatten jeden Wert verloren. Wer hatte dabei gewonnen? Nur der Bucklige, eben weil er keine Aktien genommen hatte, sondern bare Louisdors. Nun, dieser Bucklige bin ich! Ich habe Willenskraft genug gehabt, um nur von Brot zu leben und mir kopekenweise zweiundsiebzig Rubel zusammenzusparen; da wird sie wohl auch ausreichen, um mitten in dem fieberhaften Taumel, der alle ergriffen hat, die Besonnenheit zu bewahren und den sicheren Gewinn dem großen vorzuziehen. Kleinlich bin ich nur in kleinen Dingen, in großen nicht. Zur Selbstbeherrschung im Kleinen hat meine Charakterfestigkeit oft nicht ausgereicht, auch nicht nach dem Entstehen meiner »Idee«, aber wo es sich um Großes handelt, reicht sie immer aus. Wenn mir meine Mutter morgens, bevor ich in den Dienst zum Fürsten ging, kalt gewordenen Kaffee vorsetzte, wurde ich ärgerlich und sagte ihr Grobheiten, und dabei war ich doch derselbe Mensch, der einen ganzen Monat lang nur von Brot und Wasser gelebt hatte.

Kurz, es wäre unnatürlich, wenn ich nicht Geld verdienen sollte, wenn ich nicht lernen sollte, wie man welches verdient. Und ebenso unnatürlich wäre es, wenn jemand bei ununterbrochenem, gleichmäßigem Sparen, bei ununterbrochener Achtsamkeit und nüchterner Denkweise, bei Enthaltsamkeit und kluger Wirtschaft, bei stets wachsender Energie, ich wiederhole es, es wäre unnatürlich, wenn er da nicht Millionär werden sollte. Wodurch sonst hat sich jener Bettler sein Geld erworben als durch seine fanatische Charakterfestigkeit und Energie? Bin ich denn schlechter als der Bettler? Und schließlich, mag ich auch nichts erreichen, mag auch meine Berechnung falsch sein, mag ich auch scheitern und zugrunde gehen – ganz egal, ich unternehme es. Ich unternehme es, weil ich es will. Das hatte ich mir schon in Moskau gesagt.

Man wird mir sagen, daß hier gar keine »Idee« und absolut nichts Neues vorliege. Aber ich erwidere, und zwar jetzt zum letztenmal, daß hier eine unendlich große Idee und unendlich viel Neues vorliegt.

Oh, ich habe es ja vorhergeahnt, wie trivial alle Einwendungen sein werden, und wie trivial auch das erscheinen wird, was ich selbst zur Erläuterung meiner »Idee« sage.

Nun, was habe ich ausgesprochen? Noch nicht den hundertsten Teil dessen, was ich eigentlich zu sagen hätte; ich fühle, daß es kleinlich, plump, oberflächlich herausgekommen ist und sogar noch jugendlicher, als es mein Lebensalter an sich schon mit sich bringt.

III

Es bleiben noch die Antworten auf die Fragen »Warum?« und »Wozu?« und »ist es eine sittlich gute Handlungsweise?« usw. usw.; auf diese Fragen hatte ich zu antworten versprochen.

Es tut mir leid, daß ich den Leser gleich von vornherein enttäuschen muß, es tut mir leid und freut mich zugleich. Man wisse also, daß in meiner »Idee« absolut nichts von einem Gefühl der »Rache« liegt, nichts Byronsches, keine Flüche, keine Klagen wegen Vaterlosigkeit, keine Tränen über illegitime Geburt, nichts Derartiges, nichts. Kurz, sollten meine Aufzeichnungen einer romantischen Dame in die Hände fallen, so wird sie sogleich ein Gesicht ziehen. Der ganze Zweck meiner »Idee« ist Absonderung von den Menschen.

»Aber Absonderung kann man erreichen, auch ohne damit zu renommieren, daß man ein Rothschild werden will. Inwiefern muß man dazu ein Rothschild sein?«

»Insofern, als ich außer der Absonderung auch Macht brauche.«

Ich schicke voraus: der Leser wird über die Offenherzigkeit meiner Beichte vielleicht einen Schreck bekommen und sich in seiner Harmlosigkeit fragen: ›Wie ist es nur möglich, daß der Verfasser dabei nicht errötet?!‹ Darauf antworte ich: ich schreibe nicht, um gedruckt zu werden; einen Leser werde ich wahrscheinlich erst nach zehn Jahren haben, wenn alles schon dermaßen klargeworden, in die Vergangenheit zurückgewichen und bewiesen sein wird, daß zum Erröten kein Anlaß mehr bestehen wird. Wenn ich mich daher in diesen meinen Aufzeichnungen manchmal an den Leser wende, so ist das lediglich eine Form. Mein Leser ist ein Geschöpf meiner Phantasie.

Nein, nicht meine illegitime Geburt, mit der ich bei Touchard so viel gehänselt wurde, nicht die traurigen Jahre meiner Kindheit, nicht die Rachsucht und nicht das Recht zu protestieren haben meine »Idee« hervorgerufen; schuld an allem ist einzig und allein mein Charakter. Von meinem zwölften Jahre an, glaube ich, das heißt fast von der Zeit an, wo das richtige Bewußtsein erwacht, konnte ich die Menschen nicht mehr leiden. Nicht eigentlich, daß ich sie nicht leiden konnte, aber der Verkehr mit ihnen wurde mir lästig. Es war mir in Augenblicken reiner Empfindung manchmal selbst überaus schmerzlich, daß ich nicht einmal denen gegenüber, die mir nahestehen, alles aussprechen kann (das heißt, ich könnte es wohl, aber ich will es nicht; ich halte mich aus einem mir selbst unklaren Grund zurück), und daß ich so mißtrauisch, mürrisch und schweigsam bin. Und ferner habe ich schon lange, fast seit meiner Kindheit, bei mir noch einen anderen Charakterzug bemerkt: daß ich zu häufig Beschuldigungen aufbringe, zu sehr geneigt bin, andere Leute zu beschuldigen; aber auf die Betätigung dieser Neigung folgte sehr oft unverzüglich ein anderer, mir besonders peinlicher Gedanke: ›Tragen vielleicht nicht sie die Schuld, sondern ich selbst?‹ Und wie oft beschuldigte ich mich ohne Grund! Um nicht solche Fragen beantworten zu müssen, suchte ich natürlich die Einsamkeit. Überdies habe ich, sosehr ich mich auch bemühte (und ich habe mich wirklich bemüht), an der Gesellschaft der Menschen nichts finden können; wenigstens erwies sich, daß alle meine Altersgenossen, alle meine Kameraden in ihrer Denkweise unter mir standen; ich besinne mich auf keine einzige Ausnahme.

Ja, ich bin finster und verstecke mich fortwährend. Ich hege oft den Wunsch, aus der menschlichen Gesellschaft auszuscheiden. Ich werde vielleicht den Menschen Gutes tun, aber oft sehe ich zu einer solchen Handlungsweise nicht den geringsten Anlaß. Auch sind die Menschen keineswegs so nett, daß man sich ihretwegen Sorgen machen sollte. Warum treten sie nicht geradeheraus und offen an einen heran, und warum muß ich unbedingt als erster mich an sie heranmachen? Das ist eine Frage, die ich mir oft vorgelegt habe. Ich bin ein dankbares Wesen und habe das schon durch Hunderte von Dummheiten bewiesen. Ich würde Offenheit augenblicklich mit Offenheit erwidern und den Betreffenden sofort liebgewinnen. Und das habe ich auch schon oft getan; aber alle haben mich sogleich hinters Licht geführt und sich mit Hohn und Spott vor mir versteckt. Der offenherzigste von allen war noch Lambert, der mich in meiner Kindheit viel prügelte; aber auch der war nur ein offenherziger Schuft und Übeltäter, und seine Offenherzigkeit war nur eine Folge seiner Dummheit. Das waren meine Gedanken, als ich nach Petersburg kam.

Als ich damals aus Dergatschews Wohnung heraustrat (weiß der Himmel, was mich zu ihm hingezogen hatte), schloß ich mich an Wassin an und sprach ihm in einem Anfall von Begeisterung meine Bewunderung aus. Und was geschah? Noch am selben Abend fühlte ich, daß meine Zuneigung zu ihm sehr viel geringer geworden war. Warum? Ebendarum, weil ich ihm meine Bewunderung ausgesprochen und mich dadurch vor ihm erniedrigt hatte. Es könnte scheinen, daß gerade das Gegenteil zu erwarten sei: ein Mensch, der so gerecht und offenherzig ist, daß er einem anderen sogar zu seinem eigenen Schaden die gebührende Anerkennung zollt, ein solcher Mensch steht doch, was seinen eigenen Wert anlangt, höher als jeder andere. Aber – ich sah das ein und mochte Wassin doch weniger gern, sogar sehr viel weniger; ich wähle absichtlich ein Beispiel, das dem Leser bereits bekannt ist. Sogar an Krafft dachte ich mit einem unangenehmen, bitteren Gefühl zurück, weil er mich selbst ins Vorzimmer hinausgeführt hatte, und diese Empfindung dauerte bis zum nächsten Tag, als völlig klar wurde, wie es mit Krafft gestanden hatte, und ich ihm nicht mehr zürnen konnte. Etwas Ähnliches hatte ich im Gymnasium, und zwar schon in den untersten Klassen, durchgemacht: wenn einer meiner Mitschüler mich übertraf, sei es in den Wissenschaften oder in witzigen Antworten oder an Körperkraft, dann hörte ich sofort auf, mit ihm zu verkehren und zu reden. Nicht daß ich ihn gehaßt oder ihm etwas Schlechtes gewünscht hätte; ich wandte mich einfach von ihm ab, weil das nun einmal in meinem Charakter lag.

Ja, ich habe mein ganzes Leben lang nach Macht gedürstet, nach Macht und Einsamkeit. Ich träumte davon schon in so jungen Jahren, daß mir bestimmt jeder ins Gesicht gelacht hätte, wenn er erfahren hätte, was unter meiner Hirnschale vorging. Dies ist der Grund, weshalb ich das heimliche Wesen so liebgewann. Ja, ich arbeitete mit aller Kraft an meinen Luftschlössern, dergestalt, daß ich zu Gesprächen mit anderen Menschen gar keine Zeit hatte; man folgerte daraus, daß ich menschenscheu sei, und zog aus meiner Zerstreutheit noch häßlichere Schlüsse zu meinen Ungunsten, aber meine roten Wangen bewiesen das Gegenteil.

Besonders glücklich fühlte ich mich, wenn ich mich ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen hatte und nun ganz allein, in vollster Einsamkeit, ohne daß Menschen um mich herum gewesen wären oder ich auch nur einen Laut von ihnen gehört hätte, anfing, mein Leben in Gedanken umzugestalten. Solchen Träumereien gab ich mich mit brennendem Eifer hin, bis ich meine »Idee« fand, worauf dann alle meine bis dahin törichten Phantasien auf einmal verständig wurden und aus der Form des erdichteten Romans in die Form vernunftmäßiger Wirklichkeit übergingen.

Alles floß zusammen und nahm die Richtung auf ein Ziel hin. Meine Phantasien waren übrigens auch vorher nicht gar so töricht gewesen, trotz ihrer unzählbaren Menge. Aber ich hatte unter ihnen meine besonderen Lieblinge gehabt ... Indessen kann ich sie hier nicht vorführen.

ein

Macht! Ich bin überzeugt, daß es sehr vielen Menschen sehr lächerlich vorkommen würde, wenn sie erführen, daß ein solches »Subjekt« wie ich nach Macht trachtet. Aber ich will sie in noch größeres Erstaunen versetzen: vielleicht schon von meinen ersten Träumereien an, das heißt fast seit meiner frühesten Kindheit, habe ich mich nie anders denken können als auf dem ersten Platz, immer und auf allen Gebieten des Lebens. Ich füge noch ein sonderbares Geständnis hinzu: vielleicht dauert das noch bis auf den heutigen Tag. Ich bemerke dabei, daß ich deswegen nicht um Verzeihung bitte.

 

Und darin besteht eben meine »Idee«, darin liegt ihre Kraft, daß Geld der einzige Weg ist, der sogar ein unbedeutendes Subjekt auf den ersten Platz führt. Ich bin vielleicht gar nicht einmal ein unbedeutendes Subjekt, aber ich weiß zum Beispiel aus dem Spiegel, daß mein Äußeres mir schadet, da ich ein ganz ordinäres Gesicht habe. Aber wenn ich erst so reich sein werde wie Rothschild, wer wird dann an meinem Gesicht etwas auszusetzen haben, und werden dann nicht Tausende von Frauen, sobald ich nur pfeife, mit ihrer Schönheit Hals über Kopf zu mir gelaufen kommen? Ich bin sogar überzeugt, daß sie selbst schließlich ganz aufrichtig mich für einen schönen Mann halten werden. Ich bin vielleicht klug. Wenn sich jedoch in der Gesellschaft jemand findet, der sehr klug ist, dann bin ich erledigt. Aber wenn ich ein Rothschild bin, kann dann dieser kluge Mann gegen mich aufkommen? Es wird ihm neben mir nicht einmal vergönnt werden, den Mund auf zu tun! Ich bin vielleicht geistreich; rivalisiert jedoch ein Talleyrand, ein Piron mit mir, so bin ich in den Schatten gestellt; aber wenn ich ein Rothschild bin, wo bleibt da ein Piron und vielleicht sogar ein Talleyrand? Das Geld ist sicherlich eine despotische Macht, aber zugleich ist es der größte Gleichmacher, und darin liegt seine Hauptstärke. Das Geld macht alle Ungleichheiten gleich. All das ist mir schon in Moskau klargeworden.

ersten Platz

Man wird in diesem Gedanken natürlich nur eine Unverschämtheit sehen, den Wunsch, andere zu vergewaltigen, das Streben eines unbedeutenden Subjektes, über talentvolle Mitmenschen zu triumphieren. Ich gebe zu, daß dieser Gedanke dreist ist (ebendeshalb ist er so wonnevoll). Aber mag er es sein, mag er es sein: meint jemand, ich hätte mir damals Macht gewünscht, um andere Menschen zu erdrücken und mich so zu rächen? Das ist es ja eben, daß ein ordinärer Mensch unbedingt so handeln würde. Ja noch mehr: ich bin überzeugt, daß Tausende von talentvollen, hochstehenden Männern, wenn ihnen auf einmal Rothschilds Millionen zufielen, die Selbstbeherrschung verlieren, sich wie die gemeinste, gewöhnlichste Sorte betragen und ihre Mitmenschen in der ärgsten Weise bedrücken würden. Meine Idee ist von anderer Art. Ich bin vor dem Geld nicht bange; es wird mich nicht bedrücken und mich nicht veranlassen, andere zu bedrücken.

Ich brauche das Geld nicht, oder, richtiger gesagt, ich brauche nicht das Geld und nicht einmal die Macht, sondern nur das, was man durch die Macht erlangt und was man ohne Macht auf keine Weise erlangen kann: das ist ein einsames, ruhiges Kraftbewußtsein! Das ist die erschöpfendste Definition der Freiheit, diese Definition, mit der sich die Welt so herumschlägt! Freiheit! Endlich habe ich dieses große Wort hingeschrieben ... Ja, das einsame Kraftbewußtsein ist etwas Verlockendes und Schönes. Ich besitze Kraft, und ich bin ruhig. Jupiter hat den Donnerkeil in der Hand, und was tut er: er ist ruhig; hört man ihn etwa häufig donnern? Ein Dummkopf könnte glauben, er schlafe. Aber man setze irgendeinen Literaten oder ein dummes Bauernweib an Jupiters Stelle – und das Gedonner würde nicht abreißen!

Wenn ich erst die Macht habe, so überlegte ich, dann werde ich gar nicht das Bedürfnis haben, mich ihrer zu bedienen; ich versichere, daß ich selbst, aus eigenem, freiem Willen, überall den letzten Platz einnehmen werde. Wenn ich ein Rothschild wäre, so würde ich mit einem schlechten, alten Überzieher und mit einem Regenschirm gehen. Was mache ich mir daraus, daß ich auf der Straße gestoßen werde, daß ich genötigt bin, eilig durch den Schmutz zu springen, damit mich die Droschken nicht überfahren? Das Bewußtsein, daß ich es bin, Rothschild selbst, würde mich in diesem Augenblick sogar heiter stimmen. Ich weiß, daß ich vielleicht ein so feines Diner wie kein anderer und den besten Koch von der Welt haben kann, und es genügt mir, daß ich es weiß. Ich werde ein Stück Brot mit Schinken essen und schon durch das Bewußtsein satt sein. Ich denke sogar heute noch so.

Ich werde mich nicht an die Aristokratie herandrängen, sondern sie sich an mich, ich werde nicht auf die Weiber Jagd machen, sondern sie werden von selbst angelaufen kommen und mir alles anbieten, was eine Frau anbieten kann. Die »gemeinen« Weiber werden des Geldes wegen kommen, und die klugen wird die Neugier zu dem sonderbaren, stolzen, verschlossenen, gegen alles gleichgültigen Wesen hinziehen. Ich werde zu den einen wie zu den andern freundlich sein und ihnen vielleicht Geld geben, selbst aber von ihnen nichts annehmen. Neugier erzeugt Leidenschaft, und so werde auch ich ihnen vielleicht Leidenschaft einflößen. Aber ich versichere: sie werden, ohne etwas erreicht zu haben, wieder weggehen, höchstens mit Geschenken. Dadurch werde ich für sie doppelt interessant werden.

... Genug schon ist mir Solches Wissen.

Merkwürdig, daß ich mich in dieses Bild (das übrigens zutreffend ist) schon als Siebzehnjähriger verliebt habe.

Quälen und erdrücken will und werde ich niemand; aber ich weiß, daß, wenn ich irgend jemand, einen Feind von mir, zugrunde richten wollte, niemand mir dabei hinderlich sein, sondern vielmehr alle mir behilflich sein würden, und dieses Bewußtsein würde mir wieder genügen. Ich würde mich nicht einmal an jemand rächen. Ich habe mich immer darüber gewundert, wie James Rothschild hat einwilligen können, Baron zu werden! Warum, wozu, da er doch auch ohnedies alle Menschen auf der Welt überragte? ›Mag mich doch jener unverschämte General auf der Poststation beleidigen, wo wir beide auf frische Pferde warten; wenn er wüßte, wer ich bin, würde er selbst hinlaufen, um sie mir anzuspannen, und würde eifrig hinzuspringen, um mir beim Einsteigen in meinen bescheidenen Reisewagen behilflich zu sein! In der Zeitung hat einmal gestanden, daß ein ausländischer Graf oder Baron in einem von Wien abgehenden Eisenbahnzug einem dortigen Bankier vor den Augen der Mitreisenden die Pantoffeln angezogen hat; und dieser ist ordinär genug gewesen, das zuzulassen. Oh, mag diese junge Dame, deren Schönheit geradezu Schrecken einflößt (jawohl: Schrecken, es gibt solche Schönheit), diese Tochter einer hochmütigen, vornehmen Aristokratin, mag sie, wenn sie zufällig auf einem Dampfschiff oder sonstwo mit mir zusammentrifft, mich von der Seite ansehen und, die Nase rümpfend, sich geringschätzig darüber wundern, wie dieser bescheidene, häßliche Mensch, mit einem Buch oder einer Zeitung in der Hand, hat so dreist sein können, sich in die erste Klasse einzudrängen und sich neben sie zu setzen. Aber wenn sie wüßte, wer neben ihr sitzt! Und sie wird es erfahren – sie wird es erfahren und sich aus freien Stücken neben mich setzen, demütig, schüchtern und freundlich; sie wird meinen Blick suchen und sich über mein Lächeln freuen ...‹ Ich setze diese aus der frühesten Zeit stammenden kleinen Bilder absichtlich hierher, um den Gedanken klarer zum Ausdruck zu bringen; aber diese kleinen Bilder sind blaß und vielleicht trivial. Nur die Wirklichkeit rechtfertigt alles.

Man wird sagen, es sei dumm, so zu leben: warum solle man sich nicht einen Palast anschaffen, ein offenes Haus haben, Gesellschaft um sich versammeln, Einfluß ausüben, sich verheiraten? Aber was würde dann der Rothschild für ein Mensch werden? Er würde ein ebensolcher Mensch werden wie alle. Der ganze Reiz der »Idee«, ihre ganze sittliche Kraft würde verschwinden. Ich habe schon als Kind den Monolog des »Geizigen Ritters« bei Puschkin auswendig gelernt; etwas Höheres als dies, was die Idee anlangt, hat Puschkin nicht geschaffen! Dieselben Anschauungen habe ich heute noch.