Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Sechstes Kapitel
I

Meine Hoffnungen gingen nicht ganz in Erfüllung: ich traf die Meinigen nicht allein: Wersilow war zwar nicht da, aber bei meiner Mutter saß Tatjana Pawlowna, also doch eine fremde Person. Die Hälfte meiner hochherzigen Stimmung war mit einemmal wie weggeblasen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich in solchen Fällen ein Umschwung in meiner Stimmung vollzieht; ein Sandkörnchen oder ein Härchen ist ausreichend, um eine gute Regung zu verscheuchen und eine schlechte an deren Stelle treten zu lassen. Meine schlechten Empfindungen lassen sich zu meinem Bedauern nicht so schnell vertreiben, obwohl ich nicht nachtragend bin. Als ich eintrat, huschte mir der Gedanke durch den Kopf, daß meine Mutter soeben schnell den Faden ihres Gesprächs mit Tatjana Pawlowna abgerissen habe, das recht lebhaft gewesen zu sein schien. Meine Schwester war nur einen Augenblick vor mir von ihrer Arbeit nach Hause gekommen und befand sich noch in ihrem Kämmerchen.

Die Wohnung bestand aus drei Zimmern. Dasjenige, in dem sich alle gewöhnlich aufhielten, das Mittel- oder Wohnzimmer, war bei uns ziemlich groß und machte beinah einen anständigen Eindruck. Es befanden sich darin ein paar bequeme rote Sofas, die allerdings stark abgescheuert waren (Wersilow duldete keine Überzüge), ein paar leidliche Teppiche, einige Tische und unnötige Tischchen. Rechts davon lag Wersilows Zimmer, das eng und schmal und einfenstrig war; darin stand ein jämmerlicher Schreibtisch, auf dem mehrere unbenutzte Bücher und vergessene Schriftstücke umherlagen, und vor dem Schreibtisch ein nicht minder jämmerlicher Polsterstuhl mit einer zerbrochenen und spitz nach oben vorstehenden Sprungfeder, über die Wersilow oft stöhnte und schimpfte. In diesem selben Zimmer wurde auch auf einem ebenfalls sehr abgenutzten Sofa ein Nachtlager für ihn zurechtgemacht; er haßte dieses sein Zimmer und tat, wie es schien, nichts darin, sondern zog es vor, ganze Stunden müßig im Wohnzimmer zu sitzen. Links vom Wohnzimmer war ein genau ebensolches Zimmer, dort schliefen meine Mutter und meine Schwester. In das Wohnzimmer gelangte man vom Flur aus, der mit dem Eingang in die Küche seinen Abschluß fand. Dort in der Küche wohnte die Köchin Lukerja, und wenn sie kochte, erfüllte sie erbarmungslos die ganze Wohnung mit dem Qualm von angebranntem Fett. Es gab Augenblicke, wo Wersilow wegen dieses Küchendunstes laut sein Leben und sein Schicksal verfluchte, und in diesem einen Punkt sympathisierte ich mit ihm vollständig; auch ich haßte diese Gerüche, obgleich sie gar nicht bis zu meinem Zimmer drangen: ich wohnte oben in einem Giebelzimmer unter dem Dach, wohin ich auf einer sehr steilen, knarrenden Treppe hinaufstieg. An bemerkenswerten Dingen waren da nur ein halbrundes Fenster und eine furchtbar niedrige Decke, ein Sofa mit Wachstuchbezug, auf das Lukerja zur Nacht für mich ein Laken breitete und ein Kissen legte, und sonst nur zwei Möbelstücke – ein ganz einfacher Brettertisch und ein Rohrstuhl mit löchrigem Sitz.

Übrigens hatten sich bei uns doch einige Überreste eines gewissen ehemaligen Komforts erhalten; so befand sich zum Beispiel im Wohnzimmer eine sehr hübsche Porzellanlampe, und an einer Wand hing ein vortrefflicher großer Kupferstich der Dresdner Madonna und gegenüber an einer andern Wand eine kostbare Photographie der Bronzetüren des Domes von Florenz, in gewaltigem Format. In demselben Zimmer hing in einer Ecke ein großer Heiligenschrein mit altertümlichen, schon lange im Besitz der Familie befindlichen Heiligenbildern, von denen das eine (alle Heiligen) eine große, vergoldete Silbereinfassung hatte, eben das, welches sie hatten versetzen wollen, und ein anderes (das Bild der Muttergottes) eine mit Perlen gestickte samtene. Vor den Heiligenbildern hing ein Lämpchen, das am Vorabend eines jeden Feiertages angezündet wurde. Wersilow verhielt sich den Heiligenbildern gegenüber, was ihre religiöse Bedeutung anbetraf, gleichgültig und runzelte nur manchmal, jedoch mit sichtlicher Selbstbeherrschung, die Stirn über das von der Goldeinfassung reflektierte Licht des Lämpchens, indem er ein klein wenig darüber klagte, daß das seiner Sehkraft schade, aber er hinderte meine Mutter doch nicht, das Lämpchen anzuzünden.

Ich kam gewöhnlich schweigend und mürrisch herein, sah irgendwohin in eine Ecke und grüßte mitunter nicht einmal beim Eintreten. Ich war sonst immer früher nach Hause gekommen als dieses Mal, und das Mittagessen wurde mir dann nach oben gebracht.

Als ich jetzt eintrat, sagte ich auf einmal: »Guten Abend, Mama«, was ich früher nie getan hatte; indes vermochte ich mich aus Verlegenheit auch diesmal nicht dazu zu zwingen, sie anzusehen, und setzte mich am entgegengesetzten Ende des Zimmers hin. Ich war sehr müde, aber daran dachte ich nicht.

»Dieser Flegel kommt immer noch so unhöflich wie früher zu euch herein«, schalt Tatjana Pawlowna über mich. Schimpfworte hatte sie sich auch früher gegen mich erlaubt, und das war schon zwischen ihr und mir zur Gewohnheit geworden.

»Guten Abend ...«, erwiderte meine Mutter; sie schien ganz die Fassung darüber verloren zu haben, daß ich sie begrüßt hatte. »Das Essen ist schon längst fertig«, fügte sie fast verwirrt hinzu. »Wenn nur die Suppe nicht schon kalt geworden ist, aber ich will gleich Lukerja sagen, daß sie die Koteletts ...« Sie wollte eilig aufstehen, um in die Küche zu gehen, und vielleicht zum erstenmal in diesem ganzen Monat schämte ich mich plötzlich darüber, daß sie so hastig aufsprang, um mich zu bedienen, was ich doch bisher selbst von ihr verlangt hatte.

»Danke schön, Mama, ich habe schon zu Mittag gegessen. Wenn ich nicht störe, möchte ich mich hier ein bißchen erholen.«

»Ach ... was soll das ... warum denn nicht, setzen Sie sich doch ...«

»Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, Mama, ich werde zu Andrej Petrowitsch nicht mehr grob sein«, unterbrach ich sie kurz.

»Ach, Herrgott, wie großmütig von ihm!« rief Tatjana Pawlowna. »Sonja, Täubchen, sagst du denn wirklich immer noch zu ihm Sie? Was ist er denn Großes, daß ihm solche Ehre erwiesen werden müßte, und noch dazu von seiner eigenen Mutter! Nun sieh mal an, du bist ja ganz verlegen vor ihm geworden, es ist eine Schande!«

»Es wäre mir selbst sehr lieb, Mama; wenn Sie mich duzen wollten.«

»Ach... nun schön, dann werde ich es tun«, sagte meine Mutter eilig. »Ich... ich habe es ja auch nicht immer... nun, und von jetzt an werde ich es mir merken.«

Sie war ganz rot geworden. Ihr Gesicht war manchmal außerordentlich anziehend... Es war gutmütig, aber durchaus nicht einfältig, nur etwas blaß und blutarm. Ihre Wangen waren sehr mager, sogar eingefallen, und auf ihrer Stirn sammelten sich schon viele kleine Runzeln, aber um die Augen waren noch keine Fältchen vorhanden, und die großen, offenen Augen leuchteten immer mit einem stillen, ruhigen Glanz, der mich gleich vom ersten Tage an zu ihr hingezogen hatte. Es gefiel mir auch gut, daß in ihrem Gesicht so gar nichts Trauriges oder Bedrücktes lag; im Gegenteil, der Ausdruck desselben wäre sogar heiter gewesen, wenn sie sich nicht so oft aufgeregt hätte, manchmal ohne jeden Anlaß. Sie fuhr nicht selten in völlig grundlosem Schreck von ihrem Platz in die Höhe oder horchte ängstlich nach irgendeinem neuen Gespräch hin, bis sie sich überzeugt hatte, daß alles wie früher gut stand; denn »gut« und »wie früher«, das bedeutete bei ihr dasselbe. Wenn sich nur nichts veränderte, wenn sich nur nichts Neues zutrug, mochte es selbst etwas Glückliches sein!... Man hätte denken können, sie sei als Kind so verschüchtert worden. Außer ihren Augen gefiel mir auch das Oval ihres länglichen Gesichts, und ich glaube, wenn ihre Backenknochen nur ein ganz klein bißchen weniger breit gewesen wären, so hätte man sie nicht nur in ihrer Jugend, sondern auch jetzt noch eine Schönheit nennen können. Sie war jetzt nicht mehr als neununddreißig Jahre alt, aber in ihrem dunkelblonden Haar traten schon eine Menge grauer Fäden hervor.

Tatjana Pawlowna warf ihr einen entschieden unwilligen Blick zu.

»So einen dummen Jungen Sie zu nennen! Und so vor ihm zu zittern! Du bist lächerlich, Sofja; ich muß mich über dich ärgern, weißt du!«

»Ach, Tatjana Pawlowna, warum sind Sie denn jetzt immer so zu ihm? Aber vielleicht machen Sie nur Spaß, wie?« fügte meine Mutter hinzu, als sie so etwas wie ein Lächeln auf Tatjana Pawlownas Gesicht bemerkte. Tatjana Pawlownas Schimpfen konnte man in der Tat manchmal nicht gut für Ernst nehmen, aber sie lächelte jetzt (wenn sie überhaupt lächelte) gewiß nur über meine Mutter; denn sie liebte deren Gutherzigkeit sehr und hatte ohne Zweifel schon bemerkt, wie glücklich sie in diesem Augenblick über meine Friedfertigkeit war.

»Ich muß mich natürlich verletzt fühlen, wenn Sie so ohne weiteres über einen herfallen, Tatjana Pawlowna, und gerade jetzt, wo ich beim Hereinkommen ›Guten Abend, Mama‹ gesagt habe, was ich bisher nie getan hatte«, hielt ich schließlich doch für nötig, ihr zu bemerken.

»Nun stellt euch das nur einmal vor«, brauste sie sofort auf, »das hält er für eine große Tat! Man soll dir wohl auf den Knien dafür danken, daß du dich einmal in deinem Leben höflich benommen hast? Und ist denn das etwa Höflichkeit? Warum siehst du in die Ecke, wenn du hereinkommst? Als ob ich nicht wüßte, wie barsch und unwirsch du sie behandelst! Du hättest auch zu mir ›Guten Abend‹ sagen können; ich habe dich in Windeln gelegt und bin deine Patin.«

Selbstverständlich verschmähte ich es, darauf zu antworten. In diesem Augenblick trat gerade meine Schwester ins Zimmer, und ich wandte mich schnell zu ihr.

»Lisa, ich habe heute mit Wassin gesprochen, und er hat sich bei mir nach dir erkundigt. Du hast ihn kennengelernt?«

»Ja, in Luga, im vorigen Jahr«, antwortete sie ganz schlicht, indem sie sich neben mich setzte und mich freundlich ansah. Ich hatte (ich weiß nicht warum) gemeint, sie würde dunkelrot werden, sowie ich zu ihr etwas von Wassin sagen würde. Meine Schwester war blond, hellblond, und schlug in der Haarfarbe weder nach der Mutter noch nach dem Vater, aber die Augen und der ovale Gesichtsschnitt waren fast ganz wie bei der Mutter. Die Nase war sehr gerade, klein und regelmäßig. Übrigens möchte ich noch eine Besonderheit hervorheben: sie hatte kleine Sommersprossen im Gesicht, was bei der Mutter ganz und gar nicht der Fall war. Von Wersilow hatte sie nur sehr wenig, höchstens die schlanke Gestalt, den hohen Wuchs und eine eigentümliche Anmut im Gang. Mit mir besaß sie nicht die geringste Ähnlichkeit; wir waren zwei entgegengesetzte Pole.

 

»Ich habe mit ihnen etwa drei Monate lang verkehrt«, fügte Lisa hinzu.

»Sagst du von Wassin mit ihnen, Lisa? Du mußt sagen mit ihm und nicht mit ihnen. Entschuldige, Schwester, daß ich dich korrigiere, aber es ist mir schmerzlich, daß deine Erziehung anscheinend ganz vernachlässigt worden ist.«

ihnen

ihm

ihnen

»So etwas in Gegenwart deiner Mutter zu sagen, ist von deiner Seite niederträchtig«, fuhr Tatjana Pawlowna heftig auf. »Und du redest Unsinn: ihre Erziehung ist durchaus nicht vernachlässigt worden.«

»Von meiner Mutter habe ich gar nicht gesprochen«, erwiderte ich in scharfem Ton. »Ich kann Ihnen sagen, Mama, daß ich Lisa als Ihr vollständiges Ebenbild betrachte. Sie haben sie, was Herzensgüte und schönen Charakter anbetrifft, zu einem ebenso prächtigen Wesen herangebildet, wie Sie es gewiß selbst gewesen sind und noch jetzt sind und lebenslänglich sein werden ... Ich rede nur von der äußeren Politur, von all diesen Dummheiten des gesellschaftlichen Verkehrs, die ja allerdings unumgänglich nötig sind. Ich bin nur darüber empört, daß Wersilow, wenn er hörte, daß du von Wassin ihnen sagst und nicht ihm, dich gewiß gar nicht korrigieren würde, – so hochmütig und gleichgültig benimmt er sich gegen uns. Das ist es, was mich wütend macht.«

ihnen

ihm

»Ist selbst ein ungeleckter Bär und will andern Leuten Politur beibringen! Erdreisten Sie sich nicht, mein Herr, noch einmal in Gegenwart Ihrer Mutter so bloß ›Wersilow‹ zu sagen, und ebensowenig in meiner Gegenwart; das dulde ich nicht!« rief Tatjana Pawlowna mit blitzenden Augen.

»Mama, ich habe heute mein Gehalt bekommen, fünfzig Rubel; bitte, nehmen Sie es, da ist es!«

Ich trat zu ihr und hielt ihr das Geld hin; sie geriet sogleich wieder in Aufregung.

»Ach, ich weiß nicht, ob ich es nehmen soll!« sagte sie, als ob sie Angst hätte, das Geld zu berühren. Ich verstand das nicht.

»Aber ich bitte Sie, Mama, wenn Sie beide mich in der Familie als Sohn und Bruder ansehen, so ...«

»Ach, ich fühle mich dir gegenüber schuldig, Arkadij; ich sollte dir ein Geständnis machen, aber ich habe solche Furcht ...«

Sie sagte das mit einem schüchternen, schmeichelnden Lächeln; ich verstand sie wieder nicht und unterbrach sie:

»Übrigens, Mama, wissen Sie schon, daß heute vor Gericht Andrej Petrowitschs Prozeß mit den Fürsten Sokolskij entschieden worden ist?«

»Ach ja, ich weiß!« rief sie und legte erschrocken die Handflächen vor der Brust zusammen (eine bei ihr sehr häufige Geste).

»Heute?« rief Tatjana Pawlowna, heftig zusammenzuckend. »Aber das ist doch nicht möglich; er hätte doch etwas davon gesagt. Hat er es dir gesagt?« wandte sie sich zu meiner Mutter.

»Ach nein, daß es heute war, das hat er nicht gesagt. Aber ich habe schon die ganze Woche über solche Angst gehabt. Selbst wenn wir verloren haben sollten, würde ich Gott danken; wenn wir nur die Last von den Schultern los wären und alles wieder wäre wie früher!«

»Also auch Ihnen hat er es nicht gesagt, Mama!« rief ich. »Was ist das für ein Mensch! Da haben wir gleich eine Probe seiner Gleichgültigkeit und seines Hochmuts gegen uns; was habe ich eben gesagt?«

»Aber wie ist der Prozeß entschieden, wie ist er entschieden? Und wer hat es dir gesagt?« fuhr Tatjana Pawlowna auf mich los. »So rede doch!«

»Da kommt er ja selbst! Vielleicht wird er es erzählen«, sagte ich, da ich seine Schritte auf dem Flur hörte, und setzte mich schnell neben Lisa.

»Um Gottes willen, Bruder, schone Mama; sei verträglich zu Andrej Petrowitsch ...«, flüsterte mir meine Schwester zu.

»Ja, das werde ich sein, gewiß; ich habe mir das schon, als ich nach Hause kam, vorgenommen«, erwiderte ich und drückte ihr die Hand.

Lisa sah mich sehr mißtrauisch an, und sie sollte recht behalten.

II

Er trat ein, sehr zufrieden mit sich, so zufrieden, daß er es nicht einmal für nötig hielt, diese seine Stimmung zu verbergen. Überhaupt hatte er uns gegenüber in der letzten Zeit die Gewohnheit angenommen, sich ganz ungeniert zu dekuvrieren, und zwar nicht nur hinsichtlich seiner schlechten, sondern sogar auch seiner lächerlichen Eigenschaften, was doch sonst jeder ängstlich vermeidet; und dabei wußte er genau, daß wir alles bis auf das letzte Tüpfelchen verstanden. Im letzten Jahr war er (worüber sich Tatjana Pawlowna gelegentlich aussprach) in seiner Kleidung sehr heruntergekommen: seine Anzüge waren zwar immer noch anständig, aber schon alt und nicht mehr elegant. Auch neigte er jetzt dazu, die Wäsche zwei Tage lang zu tragen, worüber meine Mutter ordentlich traurig war; das hielten sie für ein großes Opfer, und diese ganze kleine Gruppe ihm ergebener weiblicher Wesen sah darin eine Heldentat. Er trug immer weiche, breitkrempige schwarze Hüte; als er in der Tür den Hut abnahm, sprang auf seinem Kopf ein ganzes Büschel seines sehr dichten, aber schon angegrauten Haars in die Höhe. Es machte mir immer Vergnügen, sein Haar zu beobachten, wenn er den Hut abnahm.

»Guten Abend; seid ihr alle zusammen und sogar er dabei? Ich hörte seine Stimme schon, als ich noch im Vorzimmer war; gewiß hat er auf mich geschimpft?«

Wenn er über mich Witze machte, so war das immer ein Zeichen, daß er sich in vergnügter Stimmung befand. Ich gab ihm natürlich keine Antwort. Lukerja kam herein mit einem großen Paket, das allerlei Dinge enthielt, die er eingekauft hatte, und legte es auf den Tisch.

»Ich habe gesiegt, Tatjana Pawlowna! Der Prozeß ist gewonnen; Berufung einzulegen werden die Fürsten gewiß nicht unternehmen. Die Erbschaft fällt mir zu! Ich habe auch gleich jemanden gefunden, der mir tausend Rubel geliehen hat. Sofja, leg doch die Arbeit weg, streng nicht deine Augen an! Lisa, du bist wohl von der Arbeit gekommen?«

»Ja, Papa«, antwortete Lisa mit freundlicher Miene; sie nannte ihn Vater; ich konnte mich dazu um keinen Preis bereit finden.

»Bist du müde?«

»Freilich.«

»Laß die Arbeit, geh morgen nicht hin, und gib diese Tätigkeit ganz auf!«

»Das würde mir nicht bekommen, Papa.«

»Aber ich bitte dich darum ... Ich kann es gar nicht leiden, wenn Frauen arbeiten, Tatjana Pawlowna.«

»Wie kann man denn ohne Arbeit leben? Das wäre ja noch schöner, wenn eine Frau nicht arbeitete! ...«

»Ich weiß, ich weiß; das ist ja alles sehr gut und richtig, und ich bin im voraus mit allem einverstanden; aber ich spreche hauptsächlich von der Handarbeit. Denkt euch nur, das war für mich in meiner Kindheit eine der peinlichsten oder richtiger eine der absonderlichsten Empfindungen. In meinen dunklen Erinnerungen an die Zeit, wo ich fünf oder sechs Jahre alt war, sehe ich am häufigsten – natürlich mit einem Gefühl des Widerwillens – eine Gesellschaft von klugen Frauen mit ernsten, finsteren Gesichtern um einen runden Tisch versammelt, auf dem Scheren, Stoffe, Schnittmuster und Modebilder liegen. Alle geben sie ihr Urteil ab und disputieren, schütteln wichtig und langsam die Köpfe, nehmen Maß und berechnen und machen sich zum Zuschneiden fertig. Alle diese sonst so freundlichen Personen, die mich so lieb hatten, waren auf einmal unnahbar geworden; wenn ich zu laut wurde, schickten sie mich sofort hinaus. Selbst meine arme Kinderfrau, die mich an der Hand hielt, antwortete nicht auf mein Rufen und auf mein Zupfen, sondern schaute und lauschte nur, als ob da ein Paradiesvogel säße und sänge. Diesen strengen Ausdruck der verständigen Gesichter und das wichtige Wesen vor dem Beginn des Zuschneidens kann ich mir noch heute nicht ohne eine sehr unangenehme Empfindung vorstellen. Sie, Tatjana Pawlowna, finden ja am Zuschneiden ein besonderes Vergnügen! Aber so aristokratisch das auch sein mag, ich liebe doch mehr eine Frau, die gar nicht arbeitet. Beziehe das nicht auf dich, Sofja... Wie solltest du auch! Die Frau ist auch ohne das eine große Macht. Das ist übrigens auch dir bekannt, Sonja. Wie denken Sie darüber, Arkadij Makarowitsch? Sie machen gewiß Opposition?«

»Nein, durchaus nicht«, antwortete ich. »Besonders gut gefällt mir der Satz, daß die Frau eine große Macht ist, obgleich ich nicht verstehe, in welche Verbindung Sie das mit der Arbeit bringen. Aber daß man arbeiten muß, wenn man kein Geld hat, das wissen Sie selbst.«

»Aber nun genug!« sagte er, zu meiner Mutter gewendet, die über das ganze Gesicht strahlte (als er sich an mich wandte, hatte sie heftig zu zittern angefangen), »wenigstens in der ersten Zeit möchte ich keine Handarbeiten zu sehen bekommen; ich bitte um meiner selbst willen darum. Du, Arkadij, bist als moderner Jüngling gewiß ein bißchen Sozialist; na, willst du es mir glauben, mein Freund, daß die größten Liebhaber des Müßigganges unter dem zeit seines Lebens arbeitenden Volk zu finden sind?«

»Diese Leute lieben vielleicht die Erholung, aber nicht den Müßiggang.«

»Nein, gerade den Müßiggang, das völlige Nichtstun, das ist ihr Ideal! Ich habe einen Menschen gekannt, der lebenslänglich arbeiten mußte, obwohl er nicht zum Volk gehörte; er besaß einen ziemlich entwickelten Verstand und einen Blick für das Allgemeine. Der gab sich sein ganzes Leben hindurch, vielleicht täglich, mit Genuß und Rührung seinen Träumereien vom völligen Müßiggang hin; er malte sich sozusagen sein Ideal bis zur höchsten Vollendung aus, bis zu unbegrenzter Unabhängigkeit und ewiger Freiheit, zu träumen und müßig zu reflektieren. So ging das mit ihm, bis er unter der Arbeit vollständig zusammenbrach; zu helfen war ihm nicht, er starb im Krankenhaus. Ich bin manchmal allen Ernstes geneigt, zu glauben, daß der angebliche Genuß, den die Arbeit gewährt, eine Erfindung müßiger Leute ist, natürlich tugendhafter Leute. Das ist eine der ›Genfer Ideen‹ vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Tatjana Pawlowna, vorgestern habe ich mir aus einer Zeitung eine Annonce ausgeschnitten, da ist sie« (er zog ein Blättchen Papier aus der Westentasche), »das stammt von den unzähligen ›Studenten‹, die die alten Sprachen und Mathematik verstehen und bereit sind, zur Erteilung von Unterricht ›nach auswärts‹ zu gehen oder in eine Dachstube oder sonstwohin. Also hören Sie: ›Eine Lehrerin bereitet zum Eintritt in alle Lehranstalten vor‹ (hören Sie: in alle!) ›und gibt auch Rechenunterricht‹, – das ist nur eine Zeile, aber sie ist klassisch! Sie bereitet zum Eintritt in alle Lehranstalten vor, also natürlich doch auch im Rechnen? Nein, vom Rechnen spricht sie besonders. Das ist schon der richtige Hunger, das ist schon der höchste Grad der Not. Rührend ist dabei gerade diese Unkenntnis: offenbar hat sie sich niemals zur Lehrerin ausgebildet und dürfte kaum imstande sein, in irgendeinem Fach zu unterrichten. Aber vor dem Ertrinken trägt sie ihren letzten Rubel in die Zeitungsexpedition und läßt einsetzen, daß sie für alle Unterrichtsanstalten vorbereite und außerdem Rechenstunde gebe. Per tutto mundo e in altri siti.«

»Ach, Andrej Petrowitsch, der sollte man helfen! Wo wohnt sie?« rief Tatjana Pawlowna.

»Ach, deren gibt es eine Menge!« Er schob die Annonce wieder in die Tasche. »In diesem Paket sind lauter Näschereien, für dich, Lisa, und für Sie, Tatjana Pawlowna; Sofja und ich lieben keine Süßigkeiten. Vielleicht ist es auch für dich etwas, junger Mann. Ich habe alles selbst bei Jelissejew und bei Ballet eingekauft. Wir haben lange genug ›am Hungertuche genagt‹, wie Lukerja sagt.« (NB Keiner von uns hatte jemals wirklich gehungert.) »Hier sind Weintrauben, Konfekt, Duchessebirnen und Erdbeertorte; sogar einen ausgezeichneten Likör habe ich mitgebracht, auch Nüsse. Merkwürdig, daß ich bis auf den heutigen Tag, von meiner Kindheit an, gern Nüsse esse, Tatjana Pawlowna, und zwar die gewöhnlichste Sorte, wissen Sie. Lisa schlägt darin nach mir; sie liebt es ebenfalls, wie ein Eichhörnchen Nüsse zu knacken. Aber es gibt nichts Reizvolleres, Tatjana Pawlowna, als sich manchmal, wenn man an seine Kindheit zurückdenkt, unversehens für einige Augenblicke in den Wald zu versetzen, ins Gebüsch, wo man sich selbst Nüsse pflückt... Die Tage sind schon beinah herbstlich, aber klar und manchmal so frisch; man versteckt sich im Dickicht oder streift im Wald umher, es riecht nach Blättern ... Ich sehe eine Art Zustimmung in deinem Blick, Arkadij Makarowitsch?«

 

»Ich habe meine ersten Kinderjahre ebenfalls auf dem Lande verlebt.«

»Wie? Du bist doch wohl in Moskau gewesen... wenn ich nicht irre.«

»Er wohnte damals bei Andronikows in Moskau, als Sie hinkamen, aber vorher hatte er bei Ihrer seligen Tante Warwara Stepanowna auf dem Lande gelebt«, fiel Tatjana Pawlowna ein.

»Da ist Geld, Sofja, verwahre es! In den nächsten Tagen soll ich fünftausend bekommen.«

»Also haben die Fürsten gar keine Hoffnung mehr?« fragte Tatjana Pawlowna.

»Absolut keine, Tatjana Pawlowna.«

»Ich habe Ihnen, Andrej Petrowitsch, und allen Ihren Angehörigen immer alles Gute gewünscht und bin eine Freundin des Hauses gewesen; aber obwohl mir die Fürsten fremd sind, tun sie mir, weiß Gott, doch leid. Seien Sie mir deswegen nicht böse, Andrej Petrowitsch!«

»Ich beabsichtige nicht, mit ihnen zu teilen, Tatjana Pawlowna.«

»Sie kennen ja meine Ansicht darüber, Andrej Petrowitsch; die Fürsten hätten den Prozeß unterlassen, wenn Sie ihnen gleich zu Anfang eine Teilung zu gleichen Teilen vorgeschlagen hätten; jetzt ist es natürlich zu spät dazu. Übrigens wage ich nicht, darüber zu urteilen... Ich sage es nur deshalb, weil der Verstorbene sie in seinem Testament gewiß nicht übergangen hätte.«

»Er hätte sie nicht nur nicht übergangen, sondern sicherlich ihnen alles hinterlassen und nur mich übergangen, wenn er es verstanden hätte, die Sache zu regeln und das Testament aufzusetzen, wie es sich gehört; aber jetzt ist das Gesetz auf meiner Seite – und damit basta! Teilen kann und will ich nicht, Tatjana Pawlowna. Die Sache ist erledigt.«

Er sagte das sogar mit einem gewissen Ingrimm, was bei ihm nur selten vorkam. Tatjana Pawlowna verstummte. Meine Mutter schlug traurig die Augen nieder: Wersilow wußte, daß sie Tatjana Pawlownas Ansicht billigte.

›Das ist wie eine Emser Ohrfeige!‹ dachte ich im stillen. Dem Schriftstück, das mir Krafft eingehändigt hatte und das in meiner Tasche steckte, wäre ein trauriges Los beschieden gewesen, wenn es ihm in die Hände gefallen wäre. Ich fühlte auf einmal, daß ich all das noch auf dem Halse hatte; dieser Gedanke, in Verbindung mit allem übrigen, wirkte auf mich aufreizend.

»Arkadij, es wäre mir lieb, wenn du dich ein bißchen besser kleidetest, mein Freund; du bist ja nicht schlecht angezogen, aber für die Zukunft könnte ich dir einen guten französischen Schneider empfehlen, der gewissenhaft und geschmackvoll arbeitet.«

»Ich bitte Sie, mir nie wieder solche Vorschläge zu machen«, rief ich heftig.

»Was hast du denn?«

»Ich finde natürlich nichts Kränkendes darin, aber wir beide harmonieren überhaupt nicht in unserer Denkweise, sondern haben vielmehr recht verschiedene Ansichten. So werde ich in den nächsten Tagen, schon morgen, aufhören, zum Fürsten zu gehen, weil ich sehe, daß da nicht das geringste für mich zu tun ist ...«

»Aber eben darin, daß du hingehst und bei ihm sitzt, besteht deine Tätigkeit.«

»Eine solche Auffassung ist für mich herabwürdigend.«

»Das verstehe ich nicht; übrigens, wenn du so zartfühlend bist, so nimm doch von ihm kein Geld an, sondern geh bloß so hin! Du würdest ihn durch dein Fortbleiben furchtbar kränken; er hat dich schon liebgewonnen, das kannst du glauben ... Indessen, wie du willst ...«

Die Sache war ihm augenscheinlich unangenehm.

»Sie sagen, ich sollte ihn nicht um Geld bitten, aber Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich heute bereits eine Gemeinheit begangen habe: Sie haben mir vorher nicht abgeraten, und so habe ich heute von ihm das Gehalt für einen Monat gefordert.«

»Also hast du die Angelegenheit bereits geordnet; ich hatte, wie ich gestehen muß, gemeint, du würdest nicht darum bitten; was seid ihr doch alle jetzt für geschickte Leute! Es gibt heutzutage keine Jugend mehr, Tatjana Pawlowna.«

Er ärgerte sich sehr; ich war ebenfalls furchtbar zornig.

»Ich mußte doch meine Rechnung mit Ihnen begleichen ... Sie haben mich dazu gezwungen – ich weiß jetzt nicht, was ich anfangen soll.«

»Übrigens, Sofja, gib doch gleich Arkadij seine sechzig Rubel zurück; und du, mein Freund, nimm es mir nicht übel, daß ich mich mit der Rückzahlung so beeile. Ich sehe es dir am Gesicht an, daß du irgendein Unternehmen planst und dazu ... ein Anlagekapital oder etwas Ähnliches nötig hast.«

»Ich weiß nicht, was mein Gesicht ausdrückt, aber ich hätte nie von Mama erwartet, daß sie Ihnen etwas von diesem Geld sagen würde, da ich sie doch ausdrücklich um Verschwiegenheit gebeten hatte«, erwiderte ich und sah meine Mutter mit funkelnden Augen an. Ich kann gar nicht sagen, wie tief ich mich gekränkt fühlte.

»Arkascha, mein Täubchen, um Gottes willen verzeih mir; ich konnte nicht anders als es sagen ...«

»Mein Freund«, sagte er, zu mir gewendet, »beschwere dich nicht darüber, daß sie mir deine Geheimnisse entdeckt hat; zudem hat sie nur in der besten Absicht gehandelt: sie wollte als Mutter einfach mit der kindlichen Liebe des Sohnes prahlen. Aber sei überzeugt, ich hätte auch ohne das erraten, daß du ein Kapitalist bist. Alle deine Geheimnisse stehen auf deinem ehrlichen Gesicht geschrieben. Er hat ›eine eigene Idee‹, Tatjana Pawlowna, das habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Lassen wir mein ehrliches Gesicht beiseite«, fuhr ich zornig fort, »ich weiß, daß Sie einen manchmal ganz durchschauen können, obgleich Sie bei anderen Gelegenheiten manchmal nicht über Ihre eigene Nase hinaussehen, und bin über Ihren Scharfblick oft erstaunt gewesen. Nun ja, ich habe eine ›eigene Idee‹. Daß Sie sich gerade dieses Ausdrucks bedient haben, ist natürlich nur Zufall, aber ich scheue mich nicht zu bekennen: ich habe eine ›Idee‹. Ich scheue mich nicht und schäme mich nicht.«

»Das ist die Hauptsache: schäme dich dessen nicht!«

»Aber trotzdem werde ich sie Ihnen nie entdecken.«

»Das heißt, du hältst mich einer solchen Mitteilung nicht für würdig. Du brauchst mir gar nichts zu sagen, mein Freund; ich kenne den Kern deiner Idee auch so schon, jedenfalls läuft es darauf hinaus:

›Ich ziehe in die Wüste mich zurück.‹

Tatjana Pawlowna, meiner Ansicht nach will er ein Rothschild oder so etwas Ähnliches werden und sich in seine einsame Größe zurückziehen. Selbstverständlich wird er Ihnen und mir großmütig eine Pension aussetzen, mir allerdings vielleicht auch nicht; aber auf jeden Fäll werden wir ihn bald nicht mehr zu sehen bekommen. Es ist mit ihm wie mit dem Neumond – kaum hat er sich gezeigt, so geht er auch schon wieder unter.«

Ich zuckte innerlich zusammen. Freilich war das alles nur ein Zufall: er wußte nichts und hatte nicht das Richtige getroffen, obwohl er gerade den Namen Rothschild erwähnt hatte; aber wie hatte er es fertiggebracht, meine Gefühle so genau anzugeben: daß ich mit ihnen brechen und von ihnen fortgehen wollte? Er hatte alles im voraus erraten und wollte nun den tragischen Ernst der Sache im voraus mit seinen zynischen Scherzen besudeln. Daß er sich furchtbar ärgerte, daran war nicht im geringsten zu zweifeln.