Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

IV

»Wie ich floh, das heißt, wie ich zu Ihnen fliehen wollte, das ist eine sehr einfache Geschichte. Erinnern Sie sich wohl noch, Tatjana Pawlowna, daß ungefähr zwei Wochen nach meinem Einzug Touchard Ihnen einen Brief schrieb, ja? Mir hat später Marja Iwanowna den Brief gezeigt, er hatte sich ebenfalls in den Papieren des verstorbenen Andronikow gefunden. Touchard war auf einmal zu der Ansicht gelangt, daß er zu wenig Geld für mich gefordert habe, und erklärte Ihnen nun in seinem Brief höchst ›würdevoll‹, in seinem Institut würden nur Söhne von Fürsten und Senatoren erzogen und er halte es mit dem Ansehen seines Institutes für unvereinbar, daß ihm ein Zögling von solcher Herkunft wie ich angehöre, wenn er nicht eine Zulage bekäme.«

»Mon cher, du könntest ...«

»Oh, seien Sie unbesorgt, seien Sie unbesorgt«, unterbrach ich ihn; »ich will nur ein bißchen von Touchard erzählen. Sie antworteten ihm vierzehn Tage darauf schon aus der Provinz, Tatjana Pawlowna, und schlugen es ihm rundweg ab. Ich erinnere mich, wie er damals mit dunkelrotem Kopf in unser Klassenzimmer hereinkam. Er war ein sehr kleiner, sehr stämmiger Franzose, etwa fünfundvierzig Jahre alt, und stammte tatsächlich aus Paris, wo er Schuster gewesen war, aber er war schon seit undenklichen Zeiten in Moskau an einer staatlichen Anstalt als Lehrer des Französischen angestellt und hatte sogar einen ziemlich hohen Rang, auf den er nicht wenig stolz war – ein ganz ungebildeter Mensch. Zöglinge waren wir bei ihm nur sechs, von denen einer wirklich der Neffe eines Moskauer Senators war, und wir lebten alle bei ihm ganz wie Mitglieder der Familie, im wesentlichen unter der Aufsicht seiner Frau, einer sehr affektierten Dame, der Tochter eines russischen Beamten. Ich hatte in diesen paar Wochen meinen Kameraden gegenüber sehr großgetan und mich mit meinem blauen Rock und mit meinem Papa Andrej Petrowitsch gebrüstet, und ihre Fragen, warum ich Dolgorukij hieße und nicht Wersilow, hatten mich nicht in Verlegenheit gesetzt, weil ich den Grund eben selbst nicht kannte.«

»Andrej Petrowitsch!« rief Tatjana Pawlowna in beinahe drohendem Ton. Meine Mutter dagegen folgte meiner Erzählung mit der größten Teilnahme und wünschte offenbar, daß ich fortfahren möchte.

»Ce Touchard ..., ich erinnere mich jetzt tatsächlich, daß er so ein kleiner, beweglicher Kerl war«, sagte Wersilow langsam, »aber er war mir damals von durchaus vertrauenswürdiger Seite empfohlen worden ...«

»Ce Touchard kam mit dem Brief in der Hand herein, trat an unseren großen eichenen Tisch, an dem wir alle sechs irgend etwas büffelten, faßte mich derb an der Schulter, riß mich von meinem Stuhl in die Höhe und befahl mir, meine Hefte zu nehmen.

»Dein Platz ist nicht hier, sondern dort!« schrie er und wies mich in ein winzig kleines Zimmerchen links vom Vorzimmer, wo nur ein einfacher Tisch, ein Rohrstuhl und ein mit Wachstuch überzogenes Sofa standen – genauso, wie jetzt bei mir oben in meinem Giebelzimmer. Erstaunt und höchst verschüchtert ging ich hinüber; ich war noch nie von jemand so grob behandelt worden. Eine halbe Stunde darauf, als Touchard das Klassenzimmer verlassen hatte, begann ich mit meinen Kameraden Blicke zu wechseln, und wir lachten uns gegenseitig an; natürlich lachten sie über mich, aber ich merkte das nicht und dachte, wir lachten einfach, weil wir vergnügt wären. Da kam plötzlich Touchard herbeigestürzt, packte mich am Haar und riß mich heftig davon.

»Untersteh dich nicht, dich zu anständigen Kindern hinzusetzen; du bist von schlechter Herkunft und nicht besser als ein Lakai!«

Nach diesen Worten schlug er mich schmerzhaft auf meine volle, rote Backe. Das machte ihm sofort Vergnügen, und er schlug mich zum zweiten und zum dritten Mal. Ich weinte und schluchzte, ich war furchtbar erstaunt. Eine ganze Stunde lang saß ich da, das Gesicht mit den Händen, bedeckend, und weinte und weinte. Es war etwas geschehen, was ich absolut nicht begreifen konnte. Ich begriff nicht, wie ein eigentlich nicht boshafter Mensch wie Touchard, ein Ausländer, der sich sogar über die Befreiung der russischen Bauern gefreut hatte, einen so dummen kleinen Jungen wie mich hatte schlagen können. Übrigens war ich nur erstaunt, fühlte mich aber nicht beleidigt; mich beleidigt zu fühlen, das verstand ich noch nicht. Ich meinte, ich hätte irgendeine Unart begangen; wenn ich aber wieder artig wäre, so würde mir verziehen werden, und wir würden wieder alle vergnügt sein und auf den Hof gehen, um da zu spielen, und das schönste Leben führen, das man sich nur denken kann.«

»Wenn ich davon nur etwas gewußt hatte, mein Freund ...«, sagte Wersilow gedehnt mit dem lässigen Lächeln eines etwas ermüdeten Menschen. »Aber was ist dieser Touchard für eine Kanaille gewesen! Ich gebe jedoch noch nicht die Hoffnung auf, daß du deinem Herzen einen Stoß geben und uns schließlich das alles verzeihen wirst und wir dann wieder das schönste Leben führen werden, das man sich nur denken kann.«

Er gähnte nun deutlich.

»Ich erhebe ja gar keine Beschuldigungen, durchaus nicht, und glauben Sie mir, ich beklage mich auch nicht über Touchard!« rief ich, einigermaßen aus dem Konzept gebracht. »Geschlagen hat er mich ungefähr zwei Monate lang. Ich erinnere mich, daß ich ihn immer irgendwie entwaffnen wollte, auf ihn zustürzte, um ihm die Hände zu küssen, und sie auch wirklich küßte, und daß ich immer weinte und weinte. Meine Kameraden lachten über mich und verachteten mich, weil Touchard anfing, mich manchmal wie einen Bedienten zu gebrauchen, und mir befahl, ihm seine Kleider hinzureichen, wenn er sich anzog. Dabei kam mir meine Bedientennatur unwillkürlich zustatten: ich gab mir die größte Mühe, es ihm recht zu machen, und fühlte mich in keiner Weise beleidigt, weil ich eben noch nichts von alledem verstand, und ich wundere mich sogar bis heute noch darüber, daß ich damals noch so dumm war, meine niedrige Stellung den andern gegenüber nicht zu begreifen. Allerdings erklärten meine Kameraden mir auch damals schon manches, es war eine nette Vorschule. Später liebte Touchard es mehr, mich von hinten mit dem Knie zu stoßen als mir ins Gesicht zu schlagen, und nach einem halben Jahr war er mitunter sogar freundlich zu mir; nur ab und zu, aber sicher einmal im Monat, schlug er mich noch, zur Erinnerung, damit ich nicht vergäße, wer ich sei. Auch durfte ich bald wieder mit den andern Knaben zusammensitzen und mit ihnen spielen; aber nicht ein einziges Mal in den ganzen zweieinhalb Jahren vergaß Touchard den Unterschied unserer sozialen Stellung und gebrauchte mich, wenn auch nicht in starkem Maße, aber doch immer noch beständig zu allerlei Dienstleistungen, und zwar – wie ich glaube –, um meinem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen.

Daß ich aber entfloh, das heißt, daß ich entfliehen wollte, das begab sich erst fünf Monate nach diesen ersten beiden Monaten. Ich bin überhaupt mein ganzes Leben lang immer nur schwer zu einem Entschluß gekommen. Wenn ich mich abends ins Bett gelegt und die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte, begann meine Phantasie sich sofort mit Ihnen zu beschäftigen, Andrej Petrowitsch, nur mit Ihnen; ich weiß absolut nicht, warum das der Fall war. Ich träumte sogar von Ihnen. Ganz besonders malte ich es mir immer leidenschaftlich aus, wie Sie auf einmal hereintreten würden und ich auf Sie losstürzen würde und Sie mich von dort wegnehmen und zu sich in jenes Zimmer bringen würden und wie wir dann wieder ins Theater fahren würden und so weiter. Die Hauptsache war, daß wir uns nie wieder trennen würden – das war mir die Hauptsache! Wenn ich aber am Morgen wieder aufwachte, dann begannen auch sogleich von neuem die Spöttereien und das Verächtlichmachen durch die anderen Knaben; einer von ihnen hatte es sich geradezu zur Regel gemacht, mich zu prügeln, und zwang mich, ihm beim Anziehen der Stiefel behilflich zu sein; er belegte mich mit den häßlichsten Schimpfnamen und bemühte sich besonders, mir meine Herkunft klarzumachen, zum großen Vergnügen aller Zuhörer. Wenn aber endlich Touchard selbst erschien, dann wurde mir unerträglich weh ums Herz. Ich fühlte, daß mir hier nie Verzeihung zuteil werden würde, – oh, ich begann schon allmählich zu begreifen, was man mir nicht verzieh und worin eigentlich mein Verschulden bestand! Und da kam ich schließlich auf den Gedanken zu fliehen. Ganze zwei Monate beschäftigte ich mich mit diesem Gedanken, endlich faßte ich einen Entschluß; das war im September. Ich wartete die Zeit ab, wo am Sonnabend alle meine Mitschüler für den Sonntag weggefahren waren, und packte unterdessen heimlich und sorgsam die notwendigsten Sachen in ein Bündelchen; an Geld besaß ich zwei Rubel. Ich wollte warten, bis es dunkel wurde. ›Ich steige die Treppe hinunter‹; dachte ich, ›und gehe aus dem Hause, und dann gehe ich davon.‹ Wohin? Ich wußte, daß Andronikow schon nach Petersburg versetzt war, und beschloß, Frau Fanariotowas Haus in der Arbat-Straße aufzusuchen: ›die Nacht über werde ich umhergehen oder irgendwo sitzen, am Morgen aber werde ich jemand auf dem Hof des Hauses fragen, wo Andrej Petrowitsch jetzt ist, und wenn er nicht in Moskau ist, in welcher Stadt oder in welchem Land er sich befindet. Das wird man mir gewiß sagen. Ich werde weggehen und dann irgendwo an einer andern Stelle wieder jemand fragen, nach welchem Schlagbaum ich gehen muß, wenn ich nach der und der Stadt will; nun, und so werde ich aus der Stadt hinausgehen und immer weiter und weiter wandern. Ich werde immerzu gehen; übernachten werde ich irgendwo im Gesträuch, und essen werde ich nur Brot; zwei Rubel werden zum Brotkaufen lange reichen.‹

Am Sonnabend aber wollte es mir auf keine Weise gelingen zu entschlüpfen; ich mußte bis zum nächsten Tag, dem Sonntag, warten. Es traf sich gut, daß am Sonntag auch Touchard mit seiner Frau irgendwohin fuhr, so daß im ganzen Haus niemand zurückblieb als ich und Agafja. Ich wartete, wie ich mich erinnere, mit schrecklicher Ungeduld auf den Anbruch der Nacht; ich saß in unserm Saal am Fenster und blickte hinaus auf die staubige Straße mit den kleinen Holzhäusern und den spärlichen Passanten. Touchard wohnte in einer abgelegenen Gegend, und man konnte aus dem Fenster einen Schlagbaum sehen: ›Ob das wohl der richtige ist?‹ schoß es mir durch den Kopf. Die Sonne ging ganz rot unter; der Himmel sah so kalt aus, und ein scharfer Wind wirbelte, gerade wie heute, den Staub auf. Endlich war es ganz dunkel geworden; ich trat vor das Heiligenbild und begann zu beten, aber ganz schnell, denn ich hatte es sehr eilig; ich nahm mein Bündelchen und ging auf den Zehenspitzen unsere knarrende Treppe hinab, in großer Angst, Agafja könne mich von der Küche aus hören. Der Schlüssel steckte in der Tür, ich öffnete sie, und plötzlich lag die rabenschwarze Nacht vor mir wie ein endloses, von Gefahren erfülltes, unbekanntes Land, und der Wind riß mir beinahe die Mütze vom Kopfe. Ich trat einen Schritt hinaus; auf dem gegenüberliegenden Gehsteig ließ sich das heisere Gebrüll und Geschimpfe eines vorübergehenden Betrunkenen vernehmen; ich blieb stehen, blickte um mich und kehrte leise um, ging wieder leise nach oben, zog mich leise aus, tat mein Bündel beiseite und legte mich ins Bett mit dem Gesicht nach unten, ohne Tränen und ohne Gedanken, und von diesem selben Augenblick an begann ich zu denken, Andrej Petrowitsch! Von diesem selben Augenblick an, in dem ich mir bewußt wurde, daß ich nicht nur ein Lakai, sondern obendrein auch noch ein Feigling war, von diesem Augenblick an begann meine richtige, wirkliche Entwicklung!«

 

»Und jetzt, von dieser Minute an, habe ich dich fürs ganze Leben durchschaut!« rief auf einmal Tatjana Pawlowna, von ihrem Platz aufspringend, und zwar so unerwartet, daß ich in keiner Weise darauf vorbereitet war. »Ja, du warst nicht nur damals ein Lakai, sondern du bist es auch jetzt noch; in dir steckt eine Lakaienseele! Andrej Petrowitsch hätte dich ja ebensogut zu einem Schuster in die Lehre geben können. Er hätte dir sogar eine Wohltat damit erwiesen, wenn er dich hätte ein Handwerk erlernen lassen! Wer hätte von ihm mehr für dich verlangen oder fordern können? Dein Vater Makar Iwanytsch hat ihn nicht nur gebeten, sondern beinahe von ihm gefordert, er möchte euch, seine Kinder, nicht aus den unteren Ständen herausheben. Nein, du weißt das nicht zu schätzen, daß er dich bis zur Universität gebracht hat und daß du durch ihn schöne Vorrechte erlangt hast. Nun sieh mal einer an, die andern Jungen haben ihn gehänselt, und da hat er geschworen, sich an der Menschheit zu rächen ... So ein unwürdiges Subjekt!«

Ich muß gestehen, ich war durch diese heftigen Worte ganz überrascht. Ich stand auf und sah eine Weile vor mich hin, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.

»Da hat mir ja Tatjana Pawlowna wirklich etwas Neues gesagt«, wandte ich mich endlich in festem Ton an Wersilow, »ich bin offenbar wirklich in hohem Grade eine Lakaienseele. Denn nicht zufrieden damit, daß Wersilow mich nicht zu einem Schuster in die Lehre gegeben hat, habe ich mich nicht einmal durch die ›schönen Vorrechte‹ rühren lassen; ›nein‹, habe ich gesagt, ›gib mir den ganzen Wersilow, gib mir einen Vater!‹ ... Das ist's, was ich verlangt habe – wie sollte ich da nicht eine Lakaiennatur haben? Mama, es liegt mir schon seit acht Jahren schwer auf dem Gewissen, wie ich Sie damals empfangen habe, als Sie allein zu Touchard kamen, um mich zu besuchen, aber jetzt habe ich keine Zeit, davon zu reden; Tatjana Pawlowna wird mich nicht erzählen lassen. Lassen wir es bis morgen, Mama; vielleicht sehe ich Sie morgen noch, Tatjana Pawlowna! Nun, was sagen Sie dazu, daß ich sogar in so hohem Grade eine Lakaiennatur bin, daß ich es nicht einmal für zulässig halte, wenn jemand zu Lebzeiten seiner Frau noch eine andere heiraten will. Und das hätte ja doch Andrej Petrowitsch in Ems beinahe getan! Mama, wenn Sie nicht mehr bei einem Mann bleiben mögen, der es fertigbringt, morgen eine andere zu heiraten, so denken Sie daran, daß Sie einen Sohn haben, der Ihnen verspricht, Ihnen ein respektvoller Sohn zu sein, denken Sie daran und kommen Sie zu mir; ich stelle nur die eine Bedingung: ›Entweder er oder ich‹ – wollen Sie? Ich verlange keine sofortige Antwort: ich weiß, daß man auf solche Fragen nicht sofort eine Antwort geben kann ...«

Aber ich konnte nicht zu Ende reden, weil meine Aufregung gar zu groß war und ich verwirrt wurde. Meine Mutter war ganz blaß geworden, und die Stimme schien ihr den Dienst zu versagen: sie konnte kein Wort herausbringen. Tatjana Pawlowna redete etwas, sehr laut und sehr lange, ohne daß ich sie ordentlich verstehen konnte, und ein paarmal stieß sie mich mit der Faust gegen die Schulter. Ich besinne mich nur, daß sie schrie, was ich gesagt hätte, sei »unwahr, das Produkt einer niedrigen Gesinnung, nichts als ausgetüftelter Unsinn«. Wersilow saß da, ohne sich zu rühren; er machte ein sehr ernstes Gesicht und lächelte nicht. Ich ging nach meinem Stübchen hinauf. Der letzte Blick, der mich aus dem Zimmer begleitete, war ein vorwurfsvoller Blick meiner Schwester; sie schüttelte mit sehr ernster Miene den Kopf hinter mir her.

Siebentes Kapitel
I

Ich schildere alle diese Szenen, ohne mich selbst zu schonen, um mir alles klar ins Gedächtnis zurückzurufen und mir jene Empfindungen wieder lebendig zu machen. Als ich nach oben in mein Zimmerchen kam, wußte ich gar nicht, ob ich mich schämen oder wie nach Erfüllung einer Pflicht triumphieren sollte. Wenn ich auch nur ein bißchen erfahrener gewesen wäre, so hätte ich mir gesagt, daß der geringste Zweifel in einer derartigen Sache den Ausschlag nach der schlechten Seite hin gibt. Aber ein anderer Umstand machte mich irre: ich begreife zwar nicht, worüber ich mich freute; ich freute mich aber in der Tat gewaltig, obwohl ich zweifelte oder vielmehr deutlich einsah, daß ich mich unten blamiert hatte. Sogar daß Tatjana Pawlowna mich so arg ausgeschimpft hatte – erschien mir nur komisch und amüsant, ohne mich irgendwie ärgerlich zu machen. Wahrscheinlich kam das alles daher, daß ich nun doch die Kette zerrissen hatte und mich zum erstenmal frei fühlte.

Ich fühlte auch, daß ich meine Situation verdorben hatte: es war mir jetzt noch viel dunkler, wie ich mich hinsichtlich des Briefes über die Erbschaft zu verhalten hätte. Jetzt würde man bestimmt glauben, ich wolle mich an Wersilow rächen. Aber schon unten, während all dieser Wortgefechte, hatte ich mir vorgenommen, die Angelegenheit mit dem Brief über die Erbschaft einem Schiedsrichter vorzulegen und mich zu diesem Zweck an Wassin zu wenden und, wenn es mir mit Wassin nicht glückte, noch wieder an jemand anders; ich wußte auch schon, an wen. »Ein einziges Mal, nur zu diesem Zweck, will ich zu Wassin hingehen«, dachte ich bei mir, »dann aber, dann will ich für alle auf lange Zeit verschwinden, auf mehrere Monate, und für Wassin sogar ganz besonders; nur mit meiner Mutter und mit meiner Schwester werde ich vielleicht ab und zu zusammenkommen.« Mein ganzes Verhalten war nicht in Ordnung; ich fühlte, daß ich etwas getan hatte, es aber nicht so getan hatte, wie es richtig gewesen wäre, und – und ich war dennoch zufrieden; ich wiederhole: ich freute mich dennoch über irgend etwas.

Ich beabsichtigte, mich früh schlafen zu legen, da ich vorhersah, daß ich am nächsten Tag viel Lauferei haben würde. Abgesehen von dem Mieten einer Wohnung und dem Umzug hatte ich noch mehrere Entschlüsse gefaßt, die ich auf die eine oder andere Weise auszuführen beabsichtigte. Aber der Abend sollte nicht ohne ein merkwürdiges Ereignis zu Ende gehen, und Wersilow verstand es, mich in das größte Erstaunen zu versetzen. Er war noch nie in mein Giebelstübchen gekommen, und plötzlich – ich war noch nicht eine Stunde oben – hörte ich seine Schritte auf der Treppe: er rief mich, ich möchte ihm leuchten. Ich ging mit der Kerze hinaus, streckte ihm nach unten die Hand entgegen, die er ergriff, und half ihm beim Heraufsteigen.

»Merci, mein Freund«, sagte er, »ich bin noch nie hier heraufgekommen, nicht einmal als ich die Wohnung mietete. Ich ahnte schon, was das hier für ein Zimmer sein würde, aber eine solche Hundehütte hatte ich mir denn doch nicht vorgestellt.« Er stellte sich in die Mitte meines Stübchens und sah sich neugierig um. »Aber das ist ja ein Sarg, ein richtiger Sarg.«

In der Tat hatte das Zimmer einige Ähnlichkeit mit dem Innern eines Sarges; und ich war sogar überrascht, wie richtig er es mit einem einzigen Wort charakterisiert hatte. Es war ein enges, schmales Kämmerchen; in der Höhe meiner Schulter, nicht höher, begann der Winkel, den die Wand und das Dach miteinander bildeten, den obersten Teil des Daches konnte ich mit der Hand berühren. Wersilow hielt sich im ersten Augenblick unwillkürlich gebückt, aus Furcht, mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen; er stieß indessen nicht daran und setzte sich schließlich ganz ruhig auf mein Sofa, auf dem bereits mein Bett zurechtgemacht war. Was mich anlangt, so setzte ich mich nicht hin und blickte ihn höchst verwundert an.

»Deine Mutter sagt«, begann er, »sie habe nicht gewußt, ob sie von dir das Geld annehmen solle, das du ihr vorhin für deinen einmonatigen Unterhalt angeboten hast. Im Hinblick auf einen solchen Sarg können wir das Geld nicht nehmen; vielmehr müßtest du eigentlich von uns noch etwas herausbekommen! Ich bin niemals hiergewesen und ... kann mir gar nicht vorstellen, daß hier jemand wohnen kann.«

»Ich habe mich daran gewöhnt. Aber Sie hier bei mir zu sehen, daran kann ich mich nach alledem, was unten vorgegangen ist, absolut nicht gewöhnen.«

»Nun ja, du warst unten reichlich grob, aber ... ich habe jedenfalls meine besonderen Absichten, die ich dir auch erklären werde, obwohl übrigens an meinem Kommen nichts Ungewöhnliches zu finden ist; selbst das, was sich unten zugetragen hat, liegt ebenfalls durchaus in der natürlichen Entwicklung der Dinge. Aber ich bitte dich um alles in der Welt, erkläre mir nur eines: war denn das, was du da unten erzählt und worauf du uns so feierlich vorbereitet hast und was du dann mit solchem Aplomb in Angriff nahmst, war denn das wirklich alles, was du uns zu entdecken oder mitzuteilen beabsichtigtest, und hättest du weiter gar nichts zu sagen?«

»Es war alles. Das heißt, nehmen wir an, daß es alles war.«

»Das war herzlich wenig, mein Freund. Ich muß gestehen, nach deinen vorhergehenden Anstalten zu urteilen, und wie du uns zum Lachen auffordertest, kurz gesagt, wenn ich bedenke, was du für große Lust hattest, zu erzählen, – da hatte ich doch mehr erwartet.«

»Sollte Ihnen das nicht ganz gleichgültig sein?«

»Was mich zu dieser Bemerkung veranlaßt, ist auch eigentlich nur mein Gefühl für das rechte Maß: die Sache war nicht ein solches Geprassel wert, und es wurde dadurch das richtige Größenverhältnis zerstört. Einen ganzen Monat lang hast du geschwiegen und Kraft gesammelt, und was dann auf einmal zutage kommt, ist nicht der Rede wert.«

»Ich wollte noch vieles erzählen, aber ich schäme mich schon, daß ich auch nur dies erzählt habe. Nicht alles kann man mit Worten erzählen, und manches erzählt man am besten nie. Ich meinerseits habe übrigens genug gesagt, aber Sie haben es ja nicht verstanden.«

»Ah, also auch du leidest manchmal darunter, daß ein Gedanke sich nicht recht in Worte kleiden lassen will! Das ist ein edles Leiden, mein Freund, das nur Auserwählten beschieden ist; ein Dummkopf ist immer mit dem, was er gesagt hat, zufrieden und spricht zudem immer mehr, als nötig ist, sozusagen auf Vorrat.«

»So wie zum Beispiel ich unten; ich habe auch mehr gesprochen, als nötig war: ich verlangte ›den ganzen Wersilow‹; das war weit mehr, als nötig war; ich habe Wersilow überhaupt nicht nötig.«

»Mein Freund, du möchtest, wie ich sehe, das, was du unten verloren hast, wieder einbringen. Du bereust offenbar dein Vorgehen, und da bereuen bei uns soviel bedeutet wie sofort von neuem über den Gegner herfallen, so möchtest du nicht zum zweitenmal einen Fehlangriff auf mich machen. Ich bin zu früh hergekommen; du hast dich noch nicht abgekühlt und kannst überdies keine Kritik vertragen. Aber um Himmels willen, setz dich doch; ich bin hergekommen, um dir etwas mitzuteilen; danke, so ist's recht. Nach dem, was du unten beim Fortgehen zu deiner Mutter gesagt hast, ist es nur zu deutlich, daß wir jedenfalls am besten tun, wenn wir uns trennen. Ich bin nun zu dir gekommen, um dich zu bitten, dies in möglichst milder Form und ohne einen Skandal auszuführen, damit deine Mutter sich nicht noch mehr grämt und ängstigt. Schon daß ich selbst zu dir ging, ist für sie eine Ermutigung gewesen: sie glaubt so halb und halb, wir würden uns noch versöhnen, na, und dann werde alles weitergehen wie bisher. Ich meine, wenn du und ich jetzt hier ein- oder zweimal recht laut lachten, so würden wir ihre schüchternen Herzen da unten in Entzücken versetzen. Mögen es auch nur schlichte Herzen sein, so sind sie doch von aufrichtiger, ehrlicher Liebe erfüllt, warum sollte man ihnen da bei sich bietender Gelegenheit nicht eine Freundlichkeit erweisen? Nun also, das wäre das eine. Zweitens: warum sollen wir uns denn durchaus mit Rachedurst, mit Zähneknirschen, mit Verwünschungen und so weiter voneinander trennen? Ohne Zweifel haben wir keinen Anlaß, einander um den Hals zu fallen, aber man kann doch sozusagen mit gegenseitiger Hochachtung voneinander scheiden, nicht wahr?«

 

»Das ist alles Unsinn! Ich verspreche, daß ich ohne einen Skandal ausziehen werde – also genug davon! Geben Sie sich denn diese Mühe im Interesse meiner Mutter? Mir scheint vielmehr, daß die Gemütsruhe meiner Mutter Ihnen gleichgültig ist und Sie aus andern Gründen so reden.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Sie sprechen mit mir geradezu wie mit einem kleinen Kind!«

»Mein Freund, ich bin bereit, dich tausendmal für alles um Verzeihung zu bitten, was du da auf meine Rechnung setzt, für all diese Jahre deiner Kindheit und so weiter, aber, cher enfant, was würde denn dabei herauskommen? Du bist so verständig, daß du dich nicht selbst wirst in eine so dumme Situation bringen wollen. Ich will gar nicht einmal davon reden, daß ich sogar bis zu diesem Augenblick den Sinn deiner Vorwürfe nicht ganz verstehe: in der Tat, woran gibst du mir eigentlich die Schuld? Daß du nicht als ein Wersilow geboren bist? Oder ist es das nicht? Ah, du lachst verächtlich und wehrst mit den Händen ab, also das ist es nicht?«

»Sie können mir glauben, daß es das nicht ist. Und Sie können mir auch glauben, daß es mir gar nicht als eine Ehre erscheint, den Namen Wersilow zu tragen.«

»Ob das eine Ehre ist, wollen wir beiseite lassen; zudem mußte ja deine Antwort unbedingt demokratisch sein; aber wenn es so steht, was machst du mir denn dann eigentlich zum Vorwurf?«

»Tatjana Pawlowna hat vorhin alles gesagt, was ich erfahren mußte und was ich vorher nie hatte begreifen können: daß Sie mich nicht haben Schuster werden lassen und ich Ihnen folglich noch zu Dank verpflichtet bin. Es ist mir unbegreiflich, woher ich so undankbar bin, selbst jetzt noch, nachdem man mich belehrt hat. Ob da nicht etwa Ihr Blut aus mir spricht, Andrej Petrowitsch?«

»Wahrscheinlich nicht. Und außerdem wirst du selbst zugeben müssen, daß du mit allen deinen heftigen Äußerungen unten, statt mich zu treffen, wie du es beabsichtigtest, nur deine Mutter gequält und gepeinigt hast. Und doch steht es, sollte man meinen, dir nicht zu, über sie zu Gericht zu sitzen. Was hat sie denn dir gegenüber verschuldet? Bei dieser Gelegenheit könntest du mir noch etwas anderes erklären, mein Freund: warum und zu welchem Zweck hast du denn in der Vorschule und auf dem Gymnasium und in deinem ganzen Leben allen Leuten, sogar, wie ich später gehört habe, dem ersten besten, mit dem du zusammenkamst, von deiner illegitimen Herkunft erzählt? Ich habe gehört, du hättest das mit einer besonderen Passion getan. Und doch ist das alles dummes Zeug und häßliche Verleumdung: du bist ein legitimes Kind, ein Dolgorukij, ein Sohn von Makar Iwanytsch Dolgorukij, eines achtbaren Mannes von vortrefflichem Verstand und Charakter. Wenn du aber eine höhere Bildung empfangen hast, so verdankst du das in der Tat deinem früheren Gutsherrn Wersilow, aber was folgt daraus? Das wichtigste aber ist dies: dadurch, daß du überall von deiner illegitimen Herkunft geredet hast, was selbstverständlich schon an sich eine Verleumdung ist, hast du das Geheimnis deiner Mutter preisgegeben und aus falschem Stolz deine Mutter vor den Richterstuhl jedes beliebigen Lumpenkerls geschleppt. Das ist sehr unedel gehandelt, mein Freund, um so mehr, als deine Mütter persönlich an nichts Schuld trägt: sie ist von Charakter das reinste Wesen, das man sich nur denken kann, und wenn sie nicht Frau Wersilowa ist, so liegt das nur daran, daß sie bis jetzt noch verheiratet ist.«

»Lassen Sie es genug sein; ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, und im Vertrauen auf Ihre Klugheit hoffe ich bestimmt, daß Sie diese schon zu lange Moralpredigt abbrechen werden. Sie lieben ja so sehr das rechte Maß; nun, in allen Dingen muß das rechte Maß innegehalten werden, sogar in Ihrer plötzlichen Liebe zu meiner Mutter. Ich will Ihnen etwas anderes vorschlagen: da Sie sich nun einmal dazu entschlossen haben, zu mir heraufzukommen und bei mir eine viertel oder eine halbe Stunde zu sitzen (ich weiß allerdings immer noch nicht, wozu eigentlich; nun, nehmen wir an, zur Beruhigung meiner Mutter), und da es Ihnen überdies ein solcher Genuß ist, mit mir zu reden, trotz allem, was unten vorgefallen ist, so erzählen Sie mir doch lieber etwas von meinem Vater – von diesem Makar Iwanow, dem Pilger. Gerade aus Ihrem Mund würde ich gern etwas über ihn hören; ich hatte schon längst vor, Sie danach zu fragen. Und da wir uns nun voneinander trennen, und vielleicht für lange Zeit, so würde ich gern von Ihnen auch noch auf eine andere Frage eine Antwort erhalten: haben Sie denn während dieser ganzen zwanzig Jahre nicht so weit auf die beschränkte Anschauungsweise meiner Mutter, und jetzt auch meiner Schwester, einwirken können, um durch Ihren zivilisierenden Einfluß das geistige Dunkel zu verscheuchen, in welchem sie infolge ihrer früheren Umgebung befangen war? Oh, ich rede nicht von ihrer Reinheit! Sie hat ohnehin in moralischer Hinsicht immer unendlich weit über Ihnen gestanden – entschuldigen Sie! –, aber ... sie ist doch nur eine unendlich hochstehende Leiche. Leben, wirklich leben tut nur, Wersilow, und alles übrige, was ihn umgibt und mit ihm verbunden ist, vegetiert nur unter der strikten Bedingung, daß es die Ehre hat, ihn mit seinen Kräften und Lebenssäften zu ernähren. Aber früher einmal muß doch auch sie lebendig gewesen sein? Sie haben doch irgend etwas an ihr liebgewonnen? Sie ist doch auch einmal ein Weib gewesen?«

»Mein Freund, genau besehen, ist sie das niemals gewesen«, antwortete er mir, indem er sofort in seine ursprüngliche damalige Manier, mit mir zu verkehren, hineingeriet, in diese Manier, die ich noch so gut im Gedächtnis habe und die mich damals in Wut versetzte; nämlich anscheinend war er die Aufrichtigkeit und Gutherzigkeit selbst, sah man aber näher hin, so war alles an ihm der vollendetste Spott, so daß ich manchmal aus seinem Gesicht gar nicht klug werden konnte. »Sie ist niemals ein Weib gewesen! Die Russin ist niemals ein Weib.«

»Aber die Polin, die Französin, die sind es? Oder die Italienerin, die leidenschaftliche Italienerin, das ist etwas, was einen zivilisierten Russen der höheren Stände, einen Mann wie Wersilow, zu fesseln vermag?«

»Na, konnte ich etwa erwarten, hier auf einen Slawophilen zu stoßen?« rief Wersilow lachend.

Ich habe das, was er sagte, Wort für Wort im Gedächtnis: er redete sogar mit großem Genuß und sichtlichem Vergnügen. Es war mir völlig klar, daß er weder um nur zu plaudern noch um meine Mutter zu beruhigen zu mir gekommen war, sondern daß er dabei sicherlich andere Zwecke verfolgte.