Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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IV

Ich kann gar nicht beschreiben, wie sich mein Herz zusammenkrampfte, als ich wieder allein war: gerade als hätte ich mir bei lebendigem Leibe ein Stück von meinem eigenen Fleisch herausgeschnitten! Warum ich auf einmal so wütend geworden war und warum ich ihn so beleidigt hatte, so gewaltsam und so absichtlich, das könnte ich jetzt nicht sagen und damals natürlich ebenfalls nicht. Und wie blaß er geworden war! Und wie hing es zusammen? Dieses Erblassen war vielleicht der Ausdruck des aufrichtigsten, reinsten Gefühls, des tiefsten Kummers und nicht des Zornes und der Kränkung. Es hat mir immer geschienen, daß es Augenblicke gab, in denen er mich sehr liebte. Warum, warum soll ich jetzt nicht daran glauben, zumal schon so vieles seine vollständige Aufklärung gefunden hat?

Aber ich war auf einmal wütend geworden und hatte ihn tatsächlich hinausgewiesen, vielleicht infolge des mir plötzlich aufgestiegenen Verdachts, er sei zu mir gekommen, weil er gehofft habe, zu erfahren, ob sich nicht noch andere von Andronikow hinterlassene Briefe in Marja Iwanownas Händen befänden. Daß er diese Briefe suchen mußte und sie suchte, das wußte ich. Aber wer weiß, vielleicht irrte ich mich damals gerade in jenem Augenblick gewaltig! Und wer weiß, vielleicht habe ich selbst durch eben diesen Irrtum ihn in der Folge erst auf den Gedanken gebracht, daß Marja Iwanowna möglicherweise Briefe in ihrem Gewahrsam habe.

Und schließlich noch ein sonderbarer Umstand: wieder hatte er Wort für Wort meinen Gedanken (hinsichtlich des Lebens von dreifacher Länge) wiederholt, den ich kurz vorher Krafft gegenüber ausgesprochen hatte, und, was die Hauptsache war, mit meinen eigenen Worten. Die Übereinstimmung der Worte war ja zwar wieder nur ein Zufall, aber dennoch: wie gut kannte er das innerste Wesen meiner Natur, was besaß er für einen scharfen Blick, was für ein Ahnungsvermögen! Aber wenn er das eine so gut verstand, warum verstand er dann das andere so gar nicht? Und hatte er wirklich nicht geschauspielert, sondern war er tatsächlich unfähig, zu begreifen, daß ich nicht nach dem Wersilowschen Adel trachtete, daß das, was ich ihm nicht verzeihen konnte, nicht meine Geburt war, sondern daß es mich mein ganzes Leben lang nach Wersilow selbst verlangt hatte, nach dem ganzen Menschen, dem Vater, und daß dieser Gedanke schon in mein Blut übergegangen war? Konnte ein so feinfühliger Mensch wirklich so stumpf und verständnislos sein? Wenn das aber nicht zutraf, warum brachte er mich dann in Wut, warum verstellte er sich?

Achtes Kapitel
I

Am nächsten Morgen gab ich mir Mühe, möglichst früh aufzustehen. Gewöhnlich standen wir gegen acht Uhr auf, das heißt ich, meine Mutter und meine Schwester; Wersilow gönnte es sich, bis halb zehn im Bett zu bleiben. Punkt halb neun brachte mir meine Mutter immer den Kaffee. Aber diesmal schlüpfte ich, ohne auf den Kaffee zu warten, Punkt acht Uhr aus dem Hause. Ich hatte mir schon am vorhergehenden Abend einen allgemeinen Operationsplan für diesen ganzen Tag zurechtgelegt. Trotz meiner leidenschaftlichen Entschlossenheit, unverzüglich an die Ausführung dieses Plans zu gehen, fühlte ich doch schon, daß er gerade in den wichtigsten Punkten sehr viel Unsicheres und Unbestimmtes enthielt; dies war der Grund, weswegen ich mich fast die ganze Nacht in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen befunden, geradezu phantasiert, schrecklich viel geträumt und fast nie richtig geschlafen hatte. Trotzdem war ich beim Aufstehen munterer und frischer als je zuvor. Besonders war ich darauf bedacht, ein Zusammentreffen mit meiner Mutter zu vermeiden. Ich hätte mit ihr doch über nichts anderes reden können als über ein gewisses Thema und fürchtete, irgendeine neue, unerwartete Empfindung könne mich von den ins Auge gefaßten Zielen ablenken.

Der Morgen war kalt, und auf allem lag ein feuchter, milchiger Nebel. Ich weiß nicht warum, aber der frühe, geschäftige Petersburger Morgen gefällt mir immer trotz seines überaus häßlichen Aussehens, und dieser ganze an sein Tagewerk eilende, egoistische, stets nachdenkliche Menschenschwarm hat für mich um acht Uhr morgens etwas besonders Anziehendes. Besonders liebe ich es, unterwegs in der Eile entweder selbst jemanden nach etwas Sachlichem zu fragen oder von ihm gefragt zu werden: sowohl die Frage als auch die Antwort sind immer kurz, deutlich, unmißverständlich; sie werden gewechselt, ohne daß man stehenbleibt, und fast immer in freundlichem Ton, und die Bereitwilligkeit zum Antworten ist größer als zu irgendeiner andern Tageszeit. Der Petersburger wird zu Mittag und gegen Abend weniger mitteilsam und neigt dann sogar dazu, einen auszuschimpfen oder auszulachen; ganz anders ist er frühmorgens, noch vor der Arbeit, in der nüchternsten, ernsthaftesten Tageszeit. Das habe ich beobachtet.

Ich begab mich wieder auf die Petersburger Seite. Da ich zwischen elf und zwölf unter allen Umständen wieder an der Fontanka bei Wassin sein mußte (der am häufigsten um zwölf Uhr zu Hause anzutreffen war), so beeilte ich mich und hielt mich nirgends auf, obgleich ich die größte Lust hatte, irgendwo Kaffee zu trinken. Zudem mußte ich auch Jefim Swerjew unbedingt noch zu Hause treffen; ich ging wieder zu ihm und wäre in der Tat beinahe zu spät gekommen; er hatte seinen Kaffee schon ausgetrunken und schickte sich an fortzugehen.

»Was führt dich denn so oft zu mir?« sagte er zur Begrüßung, ohne aufzustehen.

»Das werde ich dir sogleich erklären.«

Jeder frühe Morgen, und so auch der Petersburger, übt auf die menschliche Natur eine ernüchternde Wirkung aus. Mancher flammende, phantastische Nachtgedanke verflüchtigt sich beim Morgenlicht und in der Morgenkälte vollständig, und es ist mir selbst manchmal begegnet, daß ich morgens mit Selbstvorwürfen und Scham mich meiner soeben erst vergangenen nächtlichen Phantastereien – mitunter waren es sogar Taten gewesen – erinnerte. Aber im Vorbeigehen möchte ich doch bemerken, daß ich den Petersburger Morgen, mag er auch der prosaischste auf dem ganzen Erdball scheinen, doch beinahe für den phantastischsten auf der Welt halte. Das ist meine persönliche Anschauung oder, richtiger gesagt, meine persönliche Empfindung, aber ich stehe dafür ein. An einem solchen modrigen, feuchten, nebligen Petersburger Morgen muß, wie ich meinen möchte, der wilde Gedanke so eines Puschkinschen Hermann aus der »Pique-Dame« noch stärker und kräftiger werden (beiläufig: eine kolossale Persönlichkeit, dieser Hermann, ein ungewöhnlicher, echt Petersburger Typ, ein Typ aus der Petersburger Periode!). Hundertmal ist mir inmitten dieses Nebels der seltsame, zudringliche Gedanke gekommen: »Wie, wenn dieser Nebel sich zerteilt und in die Höhe steigt? Wird dann vielleicht mit ihm zugleich auch diese ganze modrige, glitschige Stadt davongehen, sich in die Höhe heben und wie ein Rauch verschwinden und der frühere finnische Sumpf zurückbleiben, und mitten darin vielleicht zum Schmuck der eherne Reiter auf dem schwer keuchenden, abgehetzten Pferd?« Kurz, ich kann meine Empfindungen nicht ausdrücken, weil das alles Phantasie ist oder Poesie, also Unsinn; aber doch trat und tritt mir oft eine völlig sinnlose Frage entgegen: »Da hasten und rennen sie nun alle dahin, aber woher kann man's wissen, vielleicht ist das alles nur ein Traum, und es gibt hier überhaupt keinen einzigen wirklichen, richtigen Menschen und keine einzige wirkliche Handlung? Und der Betreffende, der das alles träumt, erwacht plötzlich, und alles verschwindet.« Aber ich bin von meinem Gegenstand abgeirrt.

Ich will im voraus sagen: es kommen im Leben eines jeden Projekte und Pläne vor, die scheinbar so exzentrisch sind, daß man sie auf den ersten Blick unbedenklich für Wahnsinn halten kann. Mit einem solchen phantastischen Einfall kam ich an diesem Morgen zu Swerjew – zu Swerjew, weil ich sonst niemand in Petersburg hatte, an den ich mich in dieser Angelegenheit hätte wenden können. Aber dabei war gerade Jefim eine Persönlichkeit, an die ich mich, wenn ich die Wahl gehabt hätte, mit einem solchen Anliegen zuallerletzt gewendet hätte. Als ich mich ihm gegenübergesetzt hatte, schien es mir sogar selbst, daß ich, der personifizierte Fieberwahn, der personifizierten goldenen Mittelmäßigkeit und Prosa gegenübersaß. Aber auf meiner Seite war die Idee und das richtige Gefühl, auf der seinigen nur die praktische Erwägung, daß man nie so handle. Kurz gesagt, ich erklärte ihm mit wenigen, deutlichen Worten, daß ich außer ihm in Petersburg absolut niemand hätte, den ich in einer ungewöhnlichen Ehrensache als Sekundanten schicken könne; er sei ein alter Schulkamerad von mir und daher nicht einmal berechtigt, sich zu weigern; fordern wolle ich den Gardeleutnant Fürst Sokolskij, weil er vor mehr als einem Jahre in Ems meinem Vater Wersilow eine Ohrfeige gegeben habe. Ich bemerke hierbei, daß Jefim über alle meine Familienverhältnisse, über meine Beziehungen zu Wersilow und beinahe über alles, was ich selbst von Wersilows Vorleben wußte, sehr genaue Kenntnisse besaß; ich hatte es ihm zu verschiedenen Zeiten selbst mitgeteilt, natürlich mit Ausnahme gewisser Geheimnisse. Er saß da und hörte zu, wie es seine Gewohnheit war, – schweigsam und ernsthaft, mit seinem struppigen weißen Haar sah er aus wie ein Sperling, der im Käfig sein Gefieder sträubt. Ein unbewegliches, spöttisches Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Dieses Lächeln war um so häßlicher anzusehen, als es ganz unbeabsichtigt, unwillkürlich war; man sah, daß er sich wirklich und wahrhaftig mir in diesem Augenblick an Verstand und Charakter weit überlegen vorkam. Auch hatte ich den Verdacht, daß er mich außerdem wegen der gestrigen Szene bei Dergatschew verachtete; das konnte ja auch nicht anders sein: Jefim gehörte zur großen Masse, zur Straße, und diese beugt sich nur vor dem Erfolg.

»Und Wersilow weiß nichts davon?« fragte er.

 

»Selbstverständlich nicht.«

»Was hast du dann also für ein Recht, dich in seine Angelegenheiten einzumischen? Das ist das eine. Und zweitens: was willst du denn damit beweisen?«

Ich hatte diese Einwände vorhergesehen und setzte ihm sofort auseinander, daß mein Verfahren durchaus nicht so dumm sei, wie er meine: Erstens werde diesem frechen Fürsten dadurch der Beweis geliefert werden, daß es auch in unserem Stand noch Menschen gebe, die ein Gefühl für Ehre hätten, und zweitens werde Wersilow beschämt werden und eine gute Lektion erhalten. Drittens aber – und das sei die Hauptsache –, selbst wenn Wersilow recht daran getan haben sollte, daß er auf Grund irgendwelcher moralischer Anschauungen den Fürsten nicht gefordert und sich dafür entschieden habe, die Ohrfeige einzustecken, so werde er doch wenigstens einsehen, daß es ein Wesen gebe, das die zugefügte Beleidigung so stark wie eine eigene empfinde, als sei sie ihm selbst widerfahren, und für seine (Wersilows) Interessen sogar das Leben hinzugeben bereit sei ... obwohl es sich von ihm für immer trennen werde.

»Warte mal, schrei nicht so! Meine Tante mag das nicht. Sag mal, mit diesem selben Fürsten Sokolskij prozessiert Wersilow ja wohl wegen einer Erbschaft? Wenn das zutrifft, dann wäre es ja ein neues, originelles Mittel, einen Prozeß zu gewinnen: man tötet den Prozeßgegner im Duell.«

Ich erklärte ihm en toutes lettres, daß er ein Dummkopf und ein Frechling sei; wenn sein spöttisches Lächeln immer ärger werde, so beweise das nur seine Selbstgefälligkeit und seine ordinäre Denkweise; er könne doch nicht annehmen, daß der Gedanke an den Prozeß nicht auch mir gekommen sei, und zwar gleich zu Anfang, sondern nur in seinem geistvollen Kopf aufgeblitzt sei. Darauf setzte ich ihm auseinander, daß der Prozeß bereits gewonnen sei; überdies sei er nicht mit dem einen Fürsten Sokolskij, sondern mit mehreren Fürsten dieses Namens geführt, so daß, wenn der eine Fürst im Duell falle, die andern übrigblieben; aber ohne Zweifel werde es notwendig sein, die Forderung bis zum Ablauf der Appellationsfrist zu verschieben, obgleich die Fürsten wohl nicht appellieren würden, aber einzig und allein des Anstandes wegen. Nach Ablauf der Frist werde dann das Duell stattfinden; ich sei jetzt auch mit dem Gedanken zu ihm gekommen, daß das Duell nicht gleich stattfinden solle, aber ich müsse mich doch sichern, da ich keinen Sekundanten hätte, ich sei mit niemand bekannt; so würde ich doch wenigstens noch Zeit haben, einen zu finden, falls er, Jefim, ablehne. Das sei der Grund, weswegen ich gekommen wäre.

»Na, komm doch, wenn's soweit ist, und sag es mir dann; so bist zu zehn Werst vergebens gelaufen.«

Er stand auf und griff nach seiner Mütze.

»Wirst du denn nachher einwilligen?«

»Nein, ich werde nicht einwilligen, selbstverständlich nicht.«

»Warum nicht?«

»Jetzt sage ich schon allein darum nicht ja, weil du sonst während der ganzen Appellationsfrist alle Tage würdest zu mir gelaufen kommen. Und vor allen Dingen: die ganze Geschichte ist dummes Zeug, weiter nichts. Soll ich mir etwa deinetwegen meine Karriere verderben? Der Fürst wird mich fragen: »Wer hat Sie geschickt?« – »Dolgorukij.« – »Was hat denn Dolgorukij mit Wersilow zu tun?« Dann muß ich ihm ja wohl deinen Stammbaum erklären, nicht wahr? Er wird mir ins Gesicht lachen!«

»Dann hau ihm eins in die Fresse!«

»Ach, dummes Zeug!«

»Hast du Angst? Du bist doch so ein großer Kerl; du warst auf dem Gymnasium der Stärkste.«

»Ich habe Angst, natürlich habe ich Angst. Und der Fürst wird sich mit dir schon deshalb nicht schlagen, weil man sich nur mit seinesgleichen schlägt.«

»Ich bin meiner Bildung nach ebenfalls ein Gentleman; ich gehöre zu den privilegierten Ständen; ich bin seinesgleichen ... im Gegenteil, er ist nicht meinesgleichen.«

»Nein, du bist ein Kleiner.«

»Wieso ein Kleiner?«

»Na, eben ein Kleiner; wir beide sind Kleine, und er ist ein Großer.«

»Du Schafskopf! Nach dem Gesetz kann ich schon seit einem Jahr heiraten.«

»Na, dann heirate, aber du bist doch noch ein grüner Junge: du wächst ja noch!«

Ich merkte natürlich, daß er sich über mich lustig machen wollte. Ohne Zweifel hätte ich diese ganze dumme Geschichte hier nicht zu erzählen brauchen, und es wäre sogar besser gewesen, wenn sie der Vergangenheit anheimgefallen wäre; überdies macht sie in ihrer Kleinlichkeit und Überflüssigkeit einen widerwärtigen Eindruck, obgleich sie ziemlich ernste Folgen hatte.

Aber um mich noch mehr zu bestrafen, will ich sie ganz zu Ende erzählen. Als ich durchschaut hatte, daß Jefim sich über mich lustig machte, erlaubte ich mir, ihn mit der rechten Hand gegen die Schulter zu stoßen, oder richtiger gesagt, mit der rechten Faust. Da faßte er mich bei den Schultern, drehte mich mit dem Gesicht nach dem Fußboden zu und – bewies mir durch die Tat, daß er wirklich bei uns auf dem Gymnasium der Stärkste gewesen war.

II

Der Leser denkt gewiß, ich hätte mich, als ich aus Jefims Wohnung herauskam, in der schrecklichsten Gemütsverfassung befunden, aber er irrt sich. Ich begriff sehr wohl, daß das nur ein Vorgang gewesen war, wie er zwischen Gymnasiasten nicht selten ist, daß aber der Ernst der Sache dadurch nicht berührt wurde. Meinen Kaffee trank ich erst auf der Wassilij-Insel; ich vermied absichtlich mein gestriges Restaurant auf der Petersburger Seite; dieses Restaurant und die Nachtigall waren mir doppelt verhaßt geworden. Ich besitze eine sonderbare Eigenheit: ich bin imstande, Orte und Gegenstände ebenso zu hassen, als wären sie Personen. Dafür habe ich in Petersburg auch einige glückliche Orte, das heißt solche, wo ich aus irgendeinem Grunde einmal glücklich gewesen bin, – und was tue ich? Ich spare mir diese Orte auf und vermeide sie absichtlich möglichst lange, um später, wenn ich ganz allein und unglücklich sein werde, hinzugehen, dort zu trauern und mich meinen Erinnerungen zu überlassen. Während des Kaffeetrinkens ließ ich Jefim und seinem gesunden Menschenverstand volle Gerechtigkeit widerfahren. Ja, er war praktischer als ich, aber schwerlich realistischer. Ein Realismus, der nicht über die eigene Nasenspitze hinausreicht, ist gefährlicher als die unverständigste Phantasterei, weil er blind ist. Aber obgleich ich Jefim alle Gerechtigkeit widerfahren ließ (er dachte wahrscheinlich in diesem Augenblick, ich ginge auf der Straße und schimpfte auf ihn), so gab ich darum doch nicht das geringste von meinen Überzeugungen preis, wie ich es auch heute nicht tue. Ich habe Menschen kennengelernt, die bei dem ersten Eimer kalten Wassers, den sie über den Kopf bekamen, nicht nur von ihren Unternehmungen, sondern auch von ihren Ideen zurücktraten und selbst über das zu lachen anfingen, was sie eine Stunde vorher für heilig gehalten hatten; oh, wie leicht geht ein solcher Meinungswechsel bei ihnen vor! Mochte auch Jefim sogar im Kern der -Sache mehr recht gehabt haben als ich und mochte ich auch dümmer als dumm gewesen sein und nur geschauspielert haben, so befand sich doch in der tiefsten Tiefe der Sache ein Punkt, in welchem auch ich recht hatte; in gewisser Hinsicht war die Gerechtigkeit auch auf meiner Seite, und vor allen Dingen war auf meiner Seite etwas, was diese Menschen niemals begreifen konnten.

Bei Wassin, an der Fontanka, bei der Semjonowskij-Brücke, war ich beinahe Punkt zwölf Uhr, traf ihn aber nicht zu Hause an. Seine Beschäftigung hatte er auf der Wassilij-Insel; nach Hause aber pflegte er zu genau festgesetzten Stunden zu kommen, unter anderm fast immer um zwölf. Da überdies noch irgendein Feiertag war, so hatte ich geglaubt, ich würde ihn bestimmt zu Hause finden; da dies aber nicht der Fall war, beschloß ich, auf ihn zu warten, obwohl ich zum erstenmal bei ihm war.

Meine Erwägungen waren folgende. Die Sache mit dem Brief über die Erbschaft war eine Gewissenssache, und wenn ich Wassin zum Richter erwählte, so bewies ich ihm eben dadurch die ganze Größe meiner Hochachtung, was ihm natürlich schmeicheln mußte. Selbstverständlich machte mir dieser Brief wirklich schwere Sorgen, und ich war in der Tat der Ansicht, daß die Entscheidung seitens eines unbeteiligten Dritten erforderlich sei; aber doch vermute ich, daß ich auch damals ohne jede fremde Hilfe mich hätte aus der Klemme ziehen können. Und die Hauptsache war: ich wußte das selbst; ich brauchte ja den Brief nur Wersilow einzuhändigen, dann konnte er tun, was er wollte, das war die Lösung der Frage. Selbst in einer solchen Sache als höchster Richter aufzutreten und die Entscheidung zu treffen, wäre sogar ganz falsch gewesen. Wenn ich durch die schweigende Einhändigung des Briefes für meine Person aus der Sache ausschied, so hatte ich schon allein dadurch sofort gewonnenes Spiel, daß ich mich auf einen Standpunkt stellte, der den Wersilowschen bedeutend überragte, denn indem ich, soweit es mich anging, auf alle Vorteile aus der Erbschaft verzichtete (da mir als dem Sohn Wersilows sicherlich etwas von diesem Geld zugefallen wäre, wenn nicht sogleich, so doch später), sicherte ich mir für das ganze Leben das Recht, Wersilows künftige Handlungen von einem höheren moralischen Gesichtspunkt aus zu beurteilen. Mir aber einen Vorwurf zu machen, als hätte ich die Fürsten zugrunde gerichtet, dazu würde auch wieder niemand berechtigt sein, da das Schriftstück keine entscheidende juristische Bedeutung hatte. Das alles überlegte ich mir und machte ich mir vollkommen klar, während ich in Wassins Abwesenheit in seinem Zimmer saß, und es kam mir sogar auf einmal der Gedanke in den Kopf, ich, der ich anscheinend so begierig war, mir von ihm Ratschläge für mein Verhalten geben zu lassen, wäre einzig und allein in der Absicht zu ihm gekommen, damit er sähe, was für ein edler, selbstloser Mensch ich selbst sei, und damit ich auf diese Weise die gestrige Selbsterniedrigung ihm gegenüber wieder quitt machte.

Als mir das alles zum Bewußtsein kam, empfand ich einen starken Ärger; trotzdem aber ging ich nicht fort, sondern blieb da, obgleich ich mit Sicherheit wußte, daß mein Ärger von Minute zu Minute wachsen würde.

Zunächst begann mir Wassins Zimmer sehr zu mißfallen. »Zeige mir dein Zimmer, und ich kenne deinen Charakter«, könnte man wirklich sagen. Wassin wohnte in einem möblierten Zimmer als Untermieter bei Leuten, die offenbar arm waren, aus dem Vermieten ein Geschäft machten und außer ihm noch andere Untermieter hatten. Ich kenne diese engen, nur notdürftig möblierten Zimmerchen, die doch komfortabel scheinen möchten; da steht regelmäßig ein gepolstertes Sofa vom Trödelmarkt, das von der Stelle zu rücken gefährlich ist, ferner ein Waschtisch und hinter einem Wandschirm ein eisernes Bett. Wassin war offenbar der beste, zuverlässigste Untermieter: einen solchen »besten« Untermieter hat unfehlbar jede Wirtin, und dafür wird er auch besonders gut behandelt: es wird bei ihm mit besonderer Sorgfalt ausgefegt und aufgeräumt, eine Lithographie über das Sofa gehängt, ein schwindsüchtiger kleiner Teppich unter den Tisch gelegt. Menschen, die diese muffige Sauberkeit und vor allem diesen respektvollen Diensteifer der Wirtinnen lieben, sind von vornherein verdächtig. Ich war überzeugt, daß Wassin selbst sich durch den Ruf, der beste Untermieter zu sein, geschmeichelt fühlte. Ich weiß nicht warum, aber der Anblick dieser beiden mit Büchern bepackten Tische versetzte mich allmählich in Wut. Die Bücher, die Papiere, das Tintenfaß, alles befand sich in der widerwärtigsten Ordnung, deren Ideal mit der Weltanschauung einer deutschen Wirtin und ihres Dienstmädchens zusammenfällt. Bücher waren in Menge vorhanden, und nicht etwa Zeitungen und Journale, sondern richtige Bücher, – und er las sie augenscheinlich und machte wahrscheinlich, wenn er sich zum Lesen hinsetzte oder sich anschickte zu schreiben, eine höchst wichtige, eifrige Miene. Ich weiß nicht, aber ich habe es lieber, wenn die Bücher unordentlich umhergeworfen sind; da sieht man wenigstens, daß ihr Besitzer aus der Beschäftigung mit ihnen nicht eine gottesdienstliche Handlung macht. Wahrscheinlich war dieser Wassin gegen einen Besucher außerordentlich höflich, aber gewiß sagte jede seiner Bewegungen zu dem Besucher: »Ich will also jetzt so ein, anderthalb Stunden mit dir zusammensitzen und reden, aber dann, wenn du gegangen sein wirst, werde ich mich wieder an meine Arbeit machen.« Sicherlich konnte man mit ihm ein höchst interessantes Gespräch führen und von ihm viel Neues hören, aber – »ich unterhalte mich jetzt mit dir und will schon dein lebhaftes Interesse erwecken, aber wenn du gegangen bist, dann werde ich Dinge vornehmen, die für mich interessanter sind ...« Und trotzdem ging ich nicht fort, sondern blieb sitzen. Daß ich seines Rates eigentlich gar nicht bedurfte, davon war ich bereits endgültig überzeugt.

 

Ich saß schon ungefähr eine Stunde und länger, und zwar am Fenster auf einem der beiden dort stehenden Rohrstühle. Wütend machte mich auch der Umstand, daß die Zeit verging und ich mir noch vor dem Abend eine Wohnung suchen mußte. Ich wollte schon vor Langeweile ein Buch in die Hand nehmen, tat es aber doch nicht: bei dem bloßen Gedanken an eine Zerstreuung verdoppelte sich bei mir das Gefühl des Widerwillens. Über eine Stunde hatte schon die tiefe Stille gedauert, da vernahm ich plötzlich irgendwo ganz in der Nähe hinter der Tür, die durch das Sofa verstellt war, unwillkürlich ein allmählich immer lauter werdendes Geflüster. Es sprachen zwei Stimmen, offenbar Frauenstimmen, das war zu hören, aber die Worte zu verstehen war ganz unmöglich, trotzdem jedoch begann ich aus Langeweile hinzuhorchen. Es war klar, daß sie lebhaft und leidenschaftlich redeten und daß es sich nicht um Schnittmuster handelte. Sie suchten sich über etwas zu einigen oder stritten miteinander, oder die eine Stimme redete zu und bat, die andere aber wollte nicht darauf hören und widersprach. Jedenfalls waren es andere Untermieter. Bald wurde mir die Geschichte langweilig, und mein Ohr gewöhnte sich daran, so daß ich zwar noch weiter hinhörte, aber nur mechanisch, und manchmal ganz vergaß, daß ich etwas hörte; da begab sich plötzlich etwas Ungewöhnliches: es klang, als sei jemand mit beiden Beinen von einem Stuhl herabgesprungen oder als sei er auf einmal von seinem Platz aufgesprungen und stampfe mit den Füßen. Dann ertönte ein Stöhnen und auf einmal ein Schreien, oder vielmehr nicht ein Schreien, sondern ein tierisches, wütendes Kreischen, als wäre es der betreffenden Person schon ganz gleichgültig, ob Fremde es hörten oder nicht. Ich stürzte zur Tür und öffnete sie; gleichzeitig mit meiner Tür wurde auch eine andere Tür am Ende des Flurs geöffnet, die Tür der Wirtin, wie ich später erfuhr, und zwei neugierige Köpfe blickten heraus. Das Schreien verstummte jedoch sogleich wieder, und plötzlich öffnete sich die Tür der Nachbarinnen neben der meinigen, und eine, wie es mir schien, noch junge Frauensperson stürzte schnell heraus und lief die Treppe hinunter. Eine andere, ältere Frau wollte sie zurückhalten, aber es gelang ihr nicht, und sie stöhnte nur hinter ihr her:

»Olga, Olga, wo willst du hin? Ach mein Gott!«

Aber als sie unsere beiden Türen offen sah, machte sie die ihrige eilig wieder zu, ließ jedoch eine Ritze offenstehen und horchte durch diese hindurch nach der Treppe hin, bis die Schritte der hinunterlaufenden Olga ganz verstummt waren. Ich kehrte zu meinem Fenster zurück. Alles war wieder still geworden. Ein bedeutungsloser, vielleicht auch lächerlicher Vorfall; ich hörte bald auf, an ihn zu denken.

Ungefähr eine Viertelstunde darauf erscholl auf dem Flur dicht vor Wassins Tür recht laut und ungezwungen eine Männerstimme. Jemand faßte die Türklinke und öffnete die Tür so weit, daß ich auf dem Flur einen hochgewachsenen Mann erkennen konnte, der offenbar auch mich erblickt hatte und mich sogar musterte, aber noch nicht ins Zimmer hereinkam, sondern sich, die Klinke in der Hand haltend, über den ganzen Flur hin mit der Wirtin unterhielt. Die Wirtin rief ihm lustig mit ihrer Diskantstimme ihre Antworten zurück, und es war schon an ihrem Ton zu hören, daß sie den Besucher bereits lange kannte, schätzte und verehrte, sowohl als soliden Gast wie als lustigen Herrn. Der lustige Herr rief ihr seine Scherze zu, aber es handelte sich nur darum, daß Wassin nicht zu Hause sei, daß er ihn nie antreffen könne, daß ihm das schon bei der Geburt so beschieden sei und daß er wieder wie das letztemal warten wolle; alles das schien die Wirtin für höchst witzig zu halten. Endlich kam der Gast herein und riß dabei die Tür sperrangelweit auf.

Es war ein Herr, der offenbar bei einem recht guten Schneider arbeiten ließ und daher gut, was man »herrschaftlich« nennt, gekleidet war, aber dabei hatte er doch absolut nichts Herrschaftliches in seiner Erscheinung, obwohl das entschieden sein Wunsch war. Wodurch er sich auszeichnete, das war nicht so sehr Ungezwungenheit als vielmehr eine natürliche Unverschämtheit, die aber doch weniger Beleidigendes hat als diejenige Unverschämtheit, die sich jemand vor dem Spiegel einübt. Sein dunkelblondes, leicht angegrautes Haar, die schwarzen Brauen, der große Bart und die großen Augen verliehen ihm nichts Charakteristisches, sondern gaben seiner Physiognomie vielmehr einen allgemein üblichen Ausdruck, wie man ihn bei sehr vielen Menschen findet. Ein solcher Mensch ist lachlustig und lacht, aber merkwürdigerweise wird man in seiner Gesellschaft nie vergnügt. Von der komischen Miene geht er schnell zu einer ernsten über, von der ernsten wieder zu einer spaßigen oder lustig zwinkernden, aber alles ohne Zusammenhang und Anlaß ... Übrigens hat es keinen rechten Sinn, ihn im voraus zu schildern. Ich habe diesen Herrn später weit genauer und näher kennengelernt, und daher schildere ich ihn jetzt unwillkürlich auf Grund eingehenderer Kenntnis, als ich sie damals hatte, wo er die Tür öffnete und ins Zimmer trat. Aber auch jetzt würde es mir schwerfallen, etwas Genaues und Bestimmtes über ihn zu sagen, weil das Hauptcharakteristikum dieser Menschen gerade der Mangel an Regelmäßigkeit, Konsequenz und Bestimmtheit ist.

Er hatte sich noch nicht hingesetzt, als mir auf einmal der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß dies gewiß Wassins Stiefvater sei, ein gewisser Herr Stebelkow, über den ich schon etwas gehört hatte, aber nur so flüchtig, daß ich keineswegs sagen konnte, was es eigentlich gewesen war: ich erinnerte mich nur, daß es nichts Gutes gewesen war. Ich wußte, daß Wassin lange als Waise unter seiner Vormundschaft gestanden, sich aber schon längst von seinem Einfluß frei gemacht hatte, daß ihre Ziele und Interessen ganz verschieden waren und daß sie in jeder Hinsicht voneinander getrennt lebten. Ich erinnerte mich auch, daß dieser Stebelkow einiges Kapital besaß und ein Spekulant und Hans in allen Gassen war; kurz, ich hatte über ihn wohl schon allerlei Details gewußt, sie aber wieder vergessen. Er maß mich mit einem Blick, übrigens ohne mir eine Verbeugung zu machen, stellte seinen Zylinderhut auf den Sofatisch, den er mit dem Fuße energisch wegschob; dann setzte er sich nicht eigentlich, sondern flegelte sich geradezu auf das Sofa hin, auf das ich mich nicht zu setzen gewagt hatte, so daß es nur so krachte, streckte die Beine aus, hob die Spitze seines rechten Lackstiefels in die Höhe und begann sie wohlgefällig zu betrachten. Natürlich wandte er sich dann sogleich zu mir hin und maß mich mit seinen großen, etwas starren Augen.

»Ich treffe ihn nie zu Hause an!« sagte er und nickte mir flüchtig mit dem Kopf zu.

Ich schwieg.

»Er ist unpünktlich! Hat seine eigenen Ansichten über Geschäftsangelegenheiten. Von der Petersburger Seite?«

»Das heißt, Sie sind von der Petersburger Seite gekommen?« fragte ich zurück.

»Nein, das frage ich Sie.«

»Ich ... ich bin von der Petersburger Seite gekommen, aber wie haben Sie das erfahren?«

»Wie ich es erfahren habe? Hm! ...« Er zwinkerte mit den Augen, ließ sich aber nicht dazu herbei, mir eine Erklärung zu geben.