Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Das heißt, ich wohne nicht auf der Petersburger Seite, sondern war jetzt nur dort und bin von da hierhergekommen.«

Er fuhr fort, schweigend in einer bedeutsamen Weise zu lächeln; dieses Lächeln mißfiel mir außerordentlich. In diesem Zuzwinkern lag etwas Dummes.

»Bei Herrn Dergatschew?« sagte er endlich.

»Was ist bei Dergatschew?« fragte ich, die Augen aufreißend.

Er sah mich triumphierend an.

»Ich kenne ihn gar nicht.«

»Hm.«

»Wie es Ihnen beliebt!« antwortete ich.

Er wurde mir geradezu widerwärtig.

»Hm, ja. Nein, erlauben Sie; Sie kaufen in einem Laden eine Ware; in einem andern Laden nebenan kauft ein anderer Käufer eine andere Ware; was meinen Sie, was das für eine Ware ist? Sie kaufen Geld bei einem Kaufmann, den man einen Darleiher nennt ... denn das Geld ist ebenfalls eine Ware, und ein Darleiher ist ebenfalls ein Kaufmann ... Folgen Sie meiner Darlegung?«

»Meinetwegen, ich folge.«

»Ein dritter Käufer geht vorbei, zeigt auf den einen der beiden Läden und sagt: »Das ist ein gediegenes Geschäft«, und dann zeigt er auf den andern Laden und sagt: »Das ist kein gediegenes Geschäft.« Was kann ich daraus in bezug auf diesen Käufer für einen Schluß ziehen?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Nein, erlauben Sie! Ich will Ihnen ein Beispiel anführen; es geht nichts über ein gutes Beispiel. Ich gehe auf dem Newskij Prospekt und bemerke, daß auf der anderen Seite der Straße auf dem Gehsteig ein Herr geht, über dessen Charakter ich gern Klarheit haben möchte. Wir gehen auf den gegenüberliegenden Seiten bis dicht an die Kreuzung mit der Morskaja-Straße, und gerade da, wo sich das Englische Magazin befindet, bemerken wir einen dritten Fußgänger, der soeben von einem Pferdefuhrwerk überfahren worden ist. Nun passen Sie einmal recht auf: es geht ein vierter Herr vorüber und wünscht über den Charakter von uns allen dreien, den Überfahrenen eingeschlossen, Klarheit zu haben, was praktische Tüchtigkeit und Gediegenheit anlangt ... Folgen Sie auch?«

»Entschuldigen Sie, nur mit großer Mühe.«

»Gut; das hatte ich mir auch gedacht. Ich wechsle jetzt das Thema. Ich bin in einem deutschen Badeort mit Mineralquellen; ich bin schon wiederholt dagewesen; wie der Ort heißt, das ist ganz egal. Ich gehe in dem Badeort umher und sehe Engländer. Mit einem Engländer läßt sich, wie Sie wissen, nur schwer Bekanntschaft anknüpfen; aber siehe da, nach zwei Monaten haben wir unsere Kur beendet und befinden uns alle in den Bergen; wir steigen in größerer Gesellschaft hinauf, mit spitzen Bergstöcken, auf irgendeinen Berg; wie er heißt, das ist ganz egal. An einem Kreuzweg, das heißt an einem Rastort, gerade da, wo die Mönche den Chartreuse fabrizieren (beachten Sie das wohl!), treffe ich einen Einheimischen, der allein dasteht und schweigend vor sich hin blickt. Ich möchte etwas über seine Solidität erfahren: was meinen Sie, könnte ich mich wohl um Auskunft an den Trupp Engländer wenden, mit dem ich zusammen gehe, einzig und allein deswegen, weil ich in dem Badeort nicht verstanden habe, mit ihnen ein Gespräch anzuknüpfen?«

»Wie soll ich das wissen? Entschuldigen Sie, es fällt mir sehr schwer, Ihnen zu folgen.«

»Es fällt Ihnen schwer?«

»Ja, Sie ermüden mich.«

»Hm.« Er zwinkerte mir zu und machte mit der Hand eine Bewegung, die wahrscheinlich zum Ausdruck bringen sollte, daß er sich als triumphierenden Sieger fühle; dann zog er sehr ernst und ruhig aus der Tasche eine Zeitung, die er offenbar erst gekauft hatte, faltete sie auseinander und begann die letzte Seite zu lesen; mich schien er nun vollständig in Ruhe lassen zu wollen. Etwa fünf Minuten lang sah er nicht nach mir hin.

»Brest-Grajewo sind ja nicht gefallen, was? Sie sind ja gestiegen, sie steigen ja! Ich kenne viele Leute, die dadurch hereingefallen sind.«

Er sah mich mit lebhaftem Interesse an.

»Ich verstehe vorläufig von diesen Börsengeschäften nur sehr wenig«, antwortete ich.

»Sie lehnen es ab?«

»Was?«

»Das Geld.«

»Nicht, daß ich Geld ablehnte, aber ... aber meines Erachtens muß zuerst eine Idee da sein, dann kommt auch das Geld.«

»Das heißt, erlauben Sie ... da ist zum Beispiel ein Mensch, der sozusagen ein eigenes Kapital besitzt ...«

»Zuerst muß eine höhere Idee da sein, dann kommt das Geld, aber ohne eine höhere Idee geht die menschliche Gesellschaft mitsamt dem Geld zugrunde.«

Ich weiß nicht, warum ich anfing, hitzig zu werden. Er sah mich in einer etwas stumpfsinnigen Weise an, als würde er nicht daraus klug, aber auf einmal überzog ein sehr vergnügtes, listiges Lächeln sein ganzes Gesicht.

»Aber Wersilow, wie ist's mit dem? Der hat's ja gekriegt, der hat's gekriegt! Gestern hat das Gericht es ihm zuerkannt, wie?«

Ich sah auf einmal zu meiner Überraschung, daß er schon längst wußte, wer ich war, und vielleicht auch sonst noch sehr vieles wußte. Ich verstehe nur nicht, warum ich plötzlich errötete und ihn höchst dumm anblickte, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Er triumphierte offenbar und schaute mich vergnügt an, als hätte er mich auf eine recht schlaue Weise ertappt und überführt.

»Nein«, sagte er und zog beide Augenbrauen in die Höhe, »wenn Sie etwas über Herrn Wersilow wissen wollen, so müssen Sie mich fragen! Was habe ich Ihnen jetzt eben über Gediegenheit gesagt? Vor anderthalb Jahren hätte er mit diesem kleinen Kind ein kolossales Geschäft machen können – jawohl, aber er griff es falsch an, jawohl.«

»Mit was für einem kleinen Kind?«

»Mit dem Säugling, den er jetzt heimlich aufzieht, aber er profitiert dadurch nichts ... denn ...«

»Was ist das für ein Säugling? Was heißt das?«

»Natürlich sein Kind, sein eigenes Kind, das ihm Mademoiselle Lidija Achmakowa geboren hat ... »Es hatte eine schöne Maid in Liebe mir ihr Herz geweiht« ... Phosphorzündhölzchen – wie?«

»Was ist das für dummes Zeug, was für ein Unsinn! Die Achmakowa hat nie ein Kind von ihm gehabt!«

»Oho! Als ob ich bei der Geschichte nicht dabeigewesen wäre! Ich bin ja doch Arzt und Geburtshelfer. Mein Name ist Stebelkow; haben Sie nicht von mir gehört? Praktiziert habe ich allerdings schon damals lange nicht mehr, aber einen praktischen Rat in einem praktischen Fall zu geben, dazu war ich imstande.«

»Sie sind Geburtshelfer ... haben Sie denn die Achmakowa entbunden?«

»Nein, ich habe bei der Achmakowa nichts gemacht. Es wohnte da in der Vorstadt ein Doktor Granz, der eine große Familie hatte; man bezahlte ihm einen halben Taler, das ist da so die Taxe bei den Ärzten, und außerdem kannte ihn niemand; der tat es denn an meiner Stelle ... Ich hatte ihn empfohlen, damit die Sache im Dunkel des Geheimnisses bliebe. Folgen Sie auch? Ich aber gab nur auf eine Frage Wersilows, auf eine Frage Andrej Petrowitschs, einen praktischen Rat; es war eine ganz geheime Frage, unter vier Augen. Aber Andrej Petrowitsch zog es vor, auf zwei Hasen Jagd zu machen.«

Ich hörte mit größtem Erstaunen zu.

»»Wer zwei Hasen zugleich jagt, bekommt keinen«, sagen die Leute oder richtiger die gewöhnlichen Leute. Ich aber sage so: Ausnahmen, die sich fortwährend wiederholen, verwandeln sich in eine allgemeine Regel. Er machte noch auf einen andern Hasen Jagd, das heißt, ins Russische übersetzt, noch auf eine andere Dame – und er erreichte gar nichts. Wenn man etwas gegriffen hat, dann muß man es auch festhalten. Wo schnelles Handeln nötig ist, da zaudert er. Wersilow ist ein »Weiberprophet«, so hat ihn der junge Fürst Sokolskij damals in meiner Gegenwart sehr hübsch charakterisiert. Nein, zu mir müssen Sie kommen! Wenn Sie viel über Wersilow erfahren wollen, dann müssen Sie zu mir kommen!«

Es machte ihm augenscheinlich das größte Vergnügen zu sehen, wie ich vor Erstaunen den Mund aufriß. Von einem Säugling hatte ich bisher noch nie etwas gehört. Und gerade in diesem Augenblick wurde bei den Nachbarinnen plötzlich die Tür heftig zugeschlagen, und es trat jemand schnell in ihr Zimmer.

»Wersilow wohnt im Semjonowskij Polk, in der Moshaiskaja-Straße, im Hause der Frau Litwinowa, Wohnung Nummer dreizehn; ich bin selbst auf dem Adreßbüro gewesen!« schrie eine Frauenstimme im Ton höchster Aufregung; wir konnten jedes Wort verstehen; Stebelkow zog die Augenbrauen in die Höhe und hob einen Finger über seinen Kopf.

»Wir reden hier von ihm, und da ist auch etwas mit ihm los ... Da haben wir die Ausnahmen, die sich fortwährend wiederholen! Quand on parle d'une corde ...«

Mit einem schnellen Sprung kniete er sich auf das Sofa und horchte an der Tür, an der es stand.

Auch ich war aufs äußerste überrascht. Ich sagte mir, daß das wahrscheinlich dasselbe junge weibliche Wesen sein mußte, das vorher in solcher Aufregung weggelaufen war. Aber in welcher Weise war Wersilow auch hierbei beteiligt? Auf einmal erscholl wieder ein ebensolches Kreischen wie vorher, das Kreischen eines vor Wut ganz sinnlos gewordenen Menschen, dem man etwas nicht gibt oder den man von etwas zurückhält. Der Unterschied gegen vorhin war nur der, daß das Geschrei und Gekreisch noch länger dauerte. Es war ein Kampf zu hören sowie hastig wiederholte Worte: »Ich will es nicht, ich will es nicht; geben Sie es wieder her, geben Sie es gleich wieder her!« oder so ähnlich – ich kann mich nicht genau darauf besinnen. Darauf lief ebenso wie vorher jemand eilig zur Tür und öffnete sie. Beide Nachbarinnen liefen auf den Flur hinaus; die eine suchte wie vorher offenbar die andere zurückzuhalten. Stebelkow, der schon längst vom Sofa heruntergesprungen war und mit Genuß lauschte, stürzte nur so zur Tür hin und rannte ganz ungeniert auf den Flur, gerade auf die Nachbarinnen los. Selbstverständlich lief ich ebenfalls zur Tür. Aber sein Erscheinen auf dem Flur wirkte wie ein Guß kalten Wassers: die Nachbarinnen verschwanden schleunigst wieder und schlugen die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Stebelkow wollte ihnen nachstürzen, blieb jedoch stehen, hob einen Finger in die Höhe, lächelte und überlegte; diesmal bemerkte ich in seinem Lächeln einen außerordentlich häßlichen, hinterlistigen, boshaften Ausdruck. Als er die Wirtin erblickte, die wieder an ihrer Tür stand, lief er schnell auf Zehenspitzen den Flur entlang zu ihr; nachdem er dann ein paar Minuten mit ihr geflüstert und offenbar die gewünschte Auskunft erhalten hatte, kehrte er, nunmehr in würdevoller, entschlossener Haltung, in das Zimmer zurück, nahm seinen Zylinderhut vom Tisch, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, strich sich das Haar in die Höhe und begab sich mit selbstbewußter Würde, ohne mich auch nur noch anzusehen, zu den Nachbarinnen. Einen Augenblick lauschte er an der Tür, indem er das Ohr heranhielt und siegesgewiß über den Flur hin der Wirtin zublinzelte, die ihm mit dem Finger drohte und den Kopf schüttelte, als ob sie sagen wollte: ›Oh, Sie Schwerenöter, Sie Schwerenöter!‹. Endlich klopfte er mit einem Ausdruck von Entschiedenheit und höchstem Taktgefühl, wobei er sich vor Taktgefühl geradezu krümmte, mit den Fingerknöcheln bei den Nachbarinnen an. Eine Stimme rief:

 

»Wer ist da?«

»Möchten Sie mir nicht gestatten, in einer sehr wichtigen Angelegenheit einzutreten?« sagte Stebelkow laut und würdevoll.

Die Nachbarinnen zauderten, öffneten dann aber doch, anfangs nur ein klein wenig, etwa zu einem Viertel; aber Stebelkow faßte sofort mit kräftigem Griff die Klinke und verhinderte, daß die Tür wieder geschlossen würde. Es entspann sich ein Gespräch. Stebelkow sprach laut und suchte dabei immer mehr ins Zimmer einzudringen; ich erinnere mich nicht mehr der Worte, aber er sprach von Wersilow, er könne ihnen Mitteilungen machen, ihnen alles erklären: »Nein, wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie mich fragen«, »nein, wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie zu mir kommen« – in dieser Art. Sie ließen ihn sehr bald herein. Ich kehrte zu dem Sofa zurück und fing an zu horchen, aber ich konnte nicht alles verstehen, ich hörte nur, daß häufig der Name Wersilow vorkam. An dem Tonfall der Stimme erkannte ich, daß Stebelkow bereits das Gespräch beherrschte, daß er nicht mehr einschmeichelnd sprach, sondern herrisch und lässig, in der Art, wie er vorher zu mir gesagt hatte: »Folgen Sie auch?« »Nun passen Sie einmal recht auf!« und so weiter. Übrigens mußte er sich wohl alle Mühe geben; gegenüber den Frauenspersonen liebenswürdig zu sein. Schon zweimal war er in ein lautes Gelächter ausgebrochen, und sicherlich bei ganz unpassender Gelegenheit, denn zugleich mit seiner Stimme und manchmal sogar dieselbe übertönend, waren die beiden weiblichen Stimmen zu vernehmen, die durchaus keinen lustigen Klang hatten, am wenigsten die der jungen Frauensperson, derjenigen, die vorher so gekreischt hatte. Sie sprach viel, nervös und hastig; offenbar erhob sie gegen jemand irgendwelche Beschuldigung und Anklage und suchte Recht und Gericht. Aber Stebelkow gab nicht nach; er erhob seine Stimme immer lauter und lauter und lachte immer öfter und öfter; Menschen von diesem Schlage verstehen es nicht, andere anzuhören. Ich ging bald vom Sofa wieder weg, weil ich mich des Horchens zu schämen anfing, und setzte mich wieder auf meinen alten Platz am Fenster, auf den Rohrstuhl. Ich war davon überzeugt, daß Wassin von diesem Herrn überhaupt nichts hielt, daß er aber, wenn ich dieselbe Meinung ausspräche, sofort mit würdevollem Ernst für ihn eintreten und belehrend bemerken würde, das sei eben »ein Mann der Praxis, einer der jetzigen Geschäftsleute«, den dürfe man »nicht von unseren allgemeinen, abstrakten Gesichtspunkten aus beurteilen«. In diesem Augenblick fühlte ich mich übrigens, wie ich mich erinnere, seelisch ganz zerschlagen, das Herz klopfte mir heftig, und ich erwartete mit Bestimmtheit etwas Ungewöhnliches. Es vergingen ungefähr zehn Minuten, und auf einmal, mitten in einem schmetternden Gelächter Stebelkows, sprang jemand gerade wie vorher vom Stuhl auf, dann ertönte Geschrei der beiden Frauenspersonen; es war zu hören, daß auch Stebelkow aufsprang, daß er etwas in jetzt ganz anders klingendem Ton sagte, wie wenn er sich rechtfertigte und bäte, ihn zu Ende anzuhören. Aber sie hörten ihn nicht zu Ende an, sondern schrien zornig: »Hinaus! Sie sind ein Schurke, ein schamloser Mensch!« Kurz, es war klar, daß er hinausgeworfen wurde. Ich öffnete die Tür gerade in dem Augenblick, als er aus dem Zimmer der Nachbarinnen auf den Flur hinaussprang; es machte sogar den Eindruck, als ob sie ihn buchstäblich mit den Händen hinausstießen. Als er mich erblickte, schrie er auf einmal los, indem er auf mich zeigte:

»Da ist ein Sohn Wersilows! Wenn Sie mir nicht glauben, da ist ein Sohn von ihm, sein eigener Sohn! Bitte sehr!« Er packte mich ohne weiteres am Arm. »Das ist ein Sohn von ihm, sein leiblicher Sohn!« wiederholte er, indem er mich zu den Damen hinzog, ohne übrigens ein Wort der Erklärung für mich hinzuzufügen.

Die Junge stand auf dem Flur, die Ältere einen Schritt hinter ihr in der Tür. Ich erinnere mich nur, daß dieses arme Mädchen ungefähr zwanzig Jahre alt, ganz hübsch, aber mager und von kränklichem Aussehen war; sie hatte rötliches Haar und im Gesicht eine ziemliche Ähnlichkeit mit meiner Schwester; dieser letztere Umstand fiel mir beim ersten flüchtigen Blick auf, und er ist in meinem Gedächtnis haftengeblieben; nur hat sich Lisa niemals in einer solchen zornigen Wut befunden – das war auch bei ihrem Charakter vollständig ausgeschlossen – wie das junge Mädchen, das vor mir stand: ihre Lippen waren weiß, die hellgrauen Augen funkelten, und sie zitterte am ganzen Leib vor Empörung. Ich erinnere mich auch noch, daß ich meine eigene Lage als recht dumm und unwürdig empfand, da ich absolut nicht wußte, was ich sagen sollte. Das verdankte ich diesem unverschämten Menschen!

»Was geht mich das an, daß er ein Sohn von ihm ist! Wenn er mit Ihnen zusammen ist, so ist er ein Schurke. Wenn Sie ein Sohn Wersilows sind«, wandte sie sich plötzlich an mich, »so bestellen Sie Ihrem Vater von mir, daß er ein Schurke ist, ein gemeiner, schamloser Mensch, und daß ich sein Geld nicht will ... Da, da, da, geben Sie ihm dieses Geld zurück!«

Sie zog schnell einige Banknoten aus der Tasche, aber die Ältere (das heißt ihre Mutter, wie sich später herausstellte) faßte sie an der Hand.

»Olga, aber vielleicht ist es gar nicht wahr, vielleicht ist er gar nicht sein Sohn!«

Olga sah sie schnell an, überlegte einen Augenblick, warf mir einen verächtlichen Blick zu und wendete sich nach dem Zimmer zurück, aber bevor sie die Tür zuschlug, schrie sie, auf der Schwelle stehend, noch einmal wütend Stebelkow zu:

»Verschwinden Sie!«

Sie stampfte dabei sogar mit dem Fuß. Dann wurde die Tür zugeschlagen und von innen verschlossen. Stebelkow, der mich immer noch an der Schulter gefaßt hielt, hob einen Finger in die Höhe, zog den Mund zu einem langen, nachdenklichen Lächeln auseinander und richtete einen starken, fragenden Blick auf mich.

»Ich finde Ihr Benehmen mir gegenüber lächerlich und unwürdig«, murmelte ich entrüstet.

Aber er hörte gar nicht, was ich sagte, obgleich er mich unverwandt ansah.

»Das müßte man un-ter-su-chen!« sagte er nachdenklich.

»Aber wie konnten Sie sich erdreisten, mich hinzuzuziehen? Wer war das? Was war das für eine Frauensperson? Sie haben mich an der Schulter gefaßt und herangeholt; was soll das heißen?«

»Ach, hol's der Teufel! Das ist so ein Mädchen, dem die Unschuld geraubt ist ... eine sich ›oft wiederholende Ausnahme‹. Sie folgen doch?«

Er setzte mir den Finger auf die Brust.

»Ach, hol's der Teufel!« rief ich und stieß seinen Finger weg.

Aber plötzlich und ganz unerwartet begann er zu lachen, leise, unhörbar, lange und vergnügt. Endlich setzte er seinen Hut auf und bemerkte mit schnell verändertem, jetzt finster aussehendem Gesichtsausdruck und zusammengezogenen Brauen:

»Man müßte der Wirtin Mitteilung machen ... sie müßten hinausgesetzt werden, – das müßte geschehen, und zwar so schnell wie möglich, sonst werden sie hier noch ... Na, Sie werden sehen! Denken Sie an das, was ich gesagt habe; Sie werden sehen! Hol's der Teufel, ja!« fuhr er, auf einmal wieder heiter werdend, fort. »Sie wollen ja wohl auf Grischa warten?«

»Nein, ich werde nicht länger auf ihn warten«, antwortete ich in bestimmtem Ton.

»Na, es ist ja auch ganz egal ...«

Und ohne einen Laut weiter hinzuzufügen, wandte er sich um, ging hinaus und stieg die Treppe hinunter; auch die Wirtin, die offenbar Erklärungen und Mitteilungen von ihm erwartete, würdigte er keines Blickes. Ich nahm ebenfalls meinen Hut, bat die Wirtin, zu bestellen, daß ich, Dolgorukij, dagewesen sei, und lief die Treppe hinab.

III

Ich hatte mit diesem Besuch nur Zeit verloren. Als ich aus dem Hause heraustrat, machte ich mich sofort daran, mir eine Wohnung zu suchen; aber ich war zerstreut, lief ein paar Stunden lang durch die Straßen, und obgleich ich mir fünf oder sechs möblierte Zimmer ansah, bin ich doch überzeugt, daß ich an zwanzig anderen vorbeilief, ohne sie zu bemerken. Mein Ärger war um so größer, als ich mir gar nicht vorgestellt hatte, daß es so schwer sei, eine Wohnung zu finden. Überall Zimmer wie das Wassinsche, ja sogar noch weit schlechter, und dabei kolossale Preise, das heißt für meine Verhältnisse. Ich forderte ein Kämmerchen, nur so groß, daß ich mich darin umdrehen könnte, und man gab mir geringschätzig zu verstehen, dann müsse ich mich an Vermieter von Schlafstellen wenden. Außerdem fand sich überall eine Menge von sonderbaren Untermietern, mit denen ich mich, schon allein nach ihrem Äußern zu urteilen, nie hätte einleben können, – ich hätte sogar noch etwas zugezahlt, um nicht neben ihnen wohnen zu müssen. Da waren Herren ohne Röcke, in bloßen Westen, mit ungekämmten Bärten und mit sehr zwanglosem, neugierigem Benehmen. In einem winzigen Zimmerchen saßen ihrer zehn beim Kartenspiel und beim Bier, und daneben wurde mir ein Zimmer angeboten. An anderen Stellen gab ich selbst auf die Fragen der Vermieter so ungeschickte Antworten, daß sie mich verwundert ansahen, und in einer Wohnung geriet ich mit ihnen sogar in Streit. Übrigens hat es keinen Zweck, alle diese unbedeutenden Vorgänge zu schildern; ich will nur sagen, daß ich furchtbar müde wurde und, als es schon ganz dunkel geworden war, in einem Restaurant etwas aß. Ich war nun endgültig dazu entschlossen, sogleich hinzugehen und Wersilow in eigener Person und allein (ohne alle Erklärungen) den Brief über die Erbschaft zu übergeben; dann wollte ich oben meine Sachen in einen Koffer und in ein Bündel packen und für die Nacht meinetwegen in ein Gasthaus gehen. Ich wußte, daß es am Ende des Obuchowskij Prospektes beim Triumphbogen Herbergen gab, wo man für dreißig Kopeken sogar ein besonderes Zimmer bekommen konnte; für eine Nacht wollte ich diese Summe opfern, um nur nicht länger bei Wersilow übernachten zu müssen. Aber als ich schon beim Technologischen Institut vorbeiging, kam mir auf einmal, ich weiß nicht woher, der Einfall, zu Tatjana Pawlowna zu gehen, die dort, dem Institut gegenüber, wohnte. Als Vorwand für diesen Besuch bei ihr benutzte ich mir selbst gegenüber wieder denselben Brief über die Erbschaft, aber mein unbezwingliches Verlangen, zu ihr zu gehen, hatte natürlich andere Gründe, die ich übrigens auch jetzt nicht klarzulegen vermag: es ging in meinem Kopf allerlei bunt durcheinander, von einem »Säugling«, von »Ausnahmen, die zur allgemeinen Regel werden«. Ob ich Lust hatte, mich auszusprechen oder wichtig zu tun oder mich herumzustreiten oder gar zu weinen, – ich weiß es nicht; jedenfalls stieg ich zu Tatjana Pawlowna hinauf. Ich war bisher nur ein einziges Mal bei ihr gewesen, bald nach meiner Ankunft aus Moskau, und zwar mit einem Auftrag von meiner Mutter, und ich erinnere mich noch, daß, nachdem ich hingekommen war und meinen Auftrag ausgerichtet hatte, ich sogleich wieder weggegangen war, ohne mich hingesetzt zu haben, wozu sie mich übrigens auch nicht aufgefordert hatte.

Ich klingelte, und die Köchin öffnete mir sogleich und ließ mich schweigend in die Wohnung. Die Erwähnung all dieser Einzelheiten ist nämlich notwendig, damit man verstehen kann, auf welche Weise sich ein so verrücktes Ereignis zutragen konnte, das einen so gewaltigen Einfluß auf alles Folgende hatte. Erstens also über die Köchin. Dies war eine boshafte, stupsnasige Finnin, die, wie ich glaube, ihre Herrin Tatjana Pawlowna haßte; diese dagegen konnte sich nicht von ihr trennen, wohl infolge einer Leidenschaft, wie alte Jungfern sie für alte, feuchtnasige Möpse oder immerzu schlafende Katzen empfinden. Die Finnin führte entweder wütende, grobe Reden, oder sie schwieg nach einem Zank wochenlang, um ihre Herrin damit zu bestrafen. Ich mußte wohl einen solchen schweigsamen Tag getroffen haben, denn auf meine Frage, ob das Fräulein zu Hause sei – daß ich diese Frage an sie richtete, darauf besinne ich mich ganz genau –, antwortete sie überhaupt nicht und ging schweigend wieder in ihre Küche. Ich nahm infolgedessen natürlich an, daß das Fräulein zu Hause sei, ging in das Zimmer, und da ich dort niemanden fand, so wartete ich, in der Annahme, Tatjana Pawlowna werde sogleich aus ihrer Schlafstube hereinkommen; denn warum hätte mich sonst die Köchin hereingelassen? Ohne mich hinzusetzen, wartete ich zwei, drei Minuten lang; es war schon stark dämmerig, und Tatjana Pawlownas kleine dunkle Wohnung erschien noch unfreundlicher durch die endlose Menge von Kattun, der überall umherhing. Zwei Worte über diese häßliche, kleine Wohnung, damit man die Örtlichkeit kennt, in der sich die Sache abspielte. Infolge ihres eigensinnigen, herrischen Charakters und der alten herrschaftlichen Neigungen konnte Tatjana Pawlowna das Wohnen in möblierten Zimmern nicht leiden und hatte sich diese Parodie von Wohnung gemietet, um nur für sich allein zu leben und ihre eigene Herrin zu sein. Die zwei Zimmer hatten die größte Ähnlichkeit mit zwei aneinandergerückten Kanarienvogelbauern, eines noch enger als das andere; sie lagen im dritten Stock, und die Fenster gingen auf den Hof. Beim Eintreten in die Wohnung kam man zuerst auf einen kleinen, engen Flur, anderthalb Ellen breit; links davon lagen die beiden oben gekennzeichneten Kanarienvogelbauer, und geradeaus, am Ende des Flures, befand sich der Eingang zu der winzigen Küche. Der Kubikraum Luft, den ein Mensch für zwölf Stunden notwendig gebraucht, war in diesen Zimmerchen vielleicht vorhanden, aber kaum mehr. Sie waren schauderhaft niedrig, aber was das Allerdümmste war, die Fenster, die Türen, die Möbel, alles, alles war mit Kattun, mit schönem französischem Kattun behangen oder überzogen und mit Festons verziert; aber davon erschien das Zimmer noch einmal so dunkel und glich dem Innern eines Reisewagens. In dem Zimmer, in welchem ich wartete, konnte man sich noch allenfalls umdrehen, obgleich alles mit Möbeln vollgestopft war; beiläufig bemerkt: es waren sehr schöne Möbel: da waren allerlei Tischchen mit eingelegter Arbeit und Bronzeverzierungen, hübsche Schatullen, ein eleganter, kostbarer Toilettentisch. Aber das folgende Zimmerchen, aus dem sie, wie ich meinte, herauskommen mußte, das Schlafzimmer, das von diesem Zimmer durch einen dichten Vorhang abgetrennt war, wurde, wie sich nachher herausstellte, vollständig durch ein Bett ausgefüllt. Alle diese Einzelheiten sind zu wissen notwendig, damit man die Dummheit verstehen kann, die ich nun machte.

 

Ich wartete also, ohne daß mir irgendein Zweifel gekommen wäre; da ertönte die Klingel. Ich hörte, wie die Köchin mit langsamen Schritten über den Flur ging und schweigend, gerade wie vorher mich, die Ankömmlinge hereinließ. Dies waren zwei Damen, die laut miteinander sprachen, aber wie groß war mein Erstaunen, als ich an den Stimmen in der einen Tatjana Pawlowna erkannte und in der anderen eben jene Frau, der jetzt zu begegnen ich am allerwenigsten vorbereitet war, und noch dazu unter solchen Umständen! Ein Irrtum war nicht möglich: ich hatte diese klangreiche, kräftige, metallische Stimme am vorhergehenden Tag allerdings nur drei Minuten lang gehört, aber ihr Ton haftete in meiner Seele. Ja, das war »die Frau von gestern«. Was sollte ich tun? Ich lege diese Frage keineswegs dem Leser vor; ich vergegenwärtige mir nur den damaligen Augenblick und bin auch jetzt absolut nicht imstande, zu erklären, wie es zuging, daß ich auf einmal hinter den Vorhang sprang und mich in Tatjana Pawlownas Schlafzimmer befand. Kurz gesagt, ich versteckte mich und hatte das Zimmer kaum verlassen, als die beiden Damen eintraten. Warum ich ihnen nicht entgegenging, sondern mich versteckte, das weiß ich nicht; alles begab sich von ungefähr und ohne die geringste Überlegung.

Als ich in das Schlafzimmer gesprungen und gegen das Bett angerannt war, merkte ich sofort, daß von dem Schlafzimmer eine Tür nach der Küche führte; es gab also noch einen Ausweg aus der peinlichen Lage, und ich hatte die Möglichkeit, mich ganz und gar davonzumachen, aber – o Schrecken! – die Tür war verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. Voller Verzweiflung sank ich auf das Bett; es stand mir klar vor Augen, daß ich jetzt würde den Horcher spielen müssen, und schon aus den ersten Worten, aus den ersten Sätzen des Gesprächs konnte ich entnehmen, daß es sich um einen geheimen, heiklen Gegenstand handelte. O natürlich, ein ehrenhafter, anständig denkender Mensch mußte auch jetzt noch aufstehen, hinaustreten, laut sagen: »Ich bin hier, halten Sie ein!« und trotz seiner komischen Situation an ihnen vorbei und davongehen; aber ich stand nicht auf und trat nicht hinaus, ich wagte es nicht; ich benahm mich in schmählichster Weise feige.

»Meine liebe Katerina Nikolajewna, Sie betrüben mich wirklich sehr«, sagte Tatjana Pawlowna in bittendem Ton. »Beruhigen Sie sich doch ein für allemal; das paßt ja auch gar nicht zu Ihrem ganzen Wesen. Überall, wo Sie sind, herrscht Freude, und nun auf einmal ... Aber mir, denke ich, werden Sie auch weiter Vertrauen schenken; Sie wissen ja doch, wie sehr ich Ihnen ergeben bin. Ich hänge an Ihnen nicht weniger als an Andrej Petrowitsch, denn daß ich dem lebenslänglich ergeben sein werde, das verheimliche ich nicht ... Na, also glauben Sie mir, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dieses Schriftstück befindet sich nicht in seinen Händen und vielleicht in niemandes Händen; er ist auch zu solchen Intrigen gar nicht fähig, es ist eine Sünde von Ihnen, ihn in Verdacht zu haben. Diese Feindschaft ist weiter nichts als ein Hirngespinst, das Sie sich beide selbst ersonnen haben ...«

»Das Schriftstück ist vorhanden, und er ist zu allem fähig. Und was sagen Sie dazu: gestern komme ich herein, und das erste, was ich sehe, ist ce petit espion, den er dem Fürsten angehängt hat.«

»Ach was, ce petit espion! Erstens ist er überhaupt kein Spion, denn ich, ich selbst habe darauf gedrungen, daß er die Anstellung beim Fürsten bekam, sonst wäre er in Moskau übergeschnappt oder verhungert, so ist uns von dort aus über ihn berichtet worden; und was die Hauptsache ist: dieser unartige Junge ist ein vollständiger kleiner Dummkopf; wie kann der ein Spion sein?«

»Ja, ein kleiner Dummkopf ist er, was ihn aber nicht hindern würde, ein Schurke zu sein. Ich war gestern nur zu ärgerlich, sonst hätte ich mich totgelacht: er wurde ganz blaß, kam herangelaufen, machte Verbeugungen und fing an, französisch zu sprechen. Und in Moskau hatte mir Marja Iwanowna versichert, er sei ein Genie! Daß aber der unselige Brief noch existiert und sich irgendwo an einer sehr gefährlichen Stelle befindet, das habe ich aus Marja Iwanownas Gesichtsausdruck geschlossen.«

»Meine Beste! Sie sagen ja selbst, daß sie nichts in Händen hat!«

»Das ist es eben, daß es sich doch anders verhält; sie lügt nur, und ich kann Ihnen sagen: mit der größten Meisterschaft! Bevor ich nach Moskau fuhr, hatte ich immer noch die Hoffnung, daß sich vielleicht keine Papiere in der Hinterlassenschaft befunden hätten, aber nun, nun ...«