Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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V

Und all das wäre gut gewesen; nur eines war nicht gut: ein schwerer Gedanke bohrte schon seit der Nacht in meinem Kopf herum und wollte nicht herausgehen. Es war dies der Gedanke daran, daß ich, als ich gestern abend an unserem Tor mit der Unglücklichen zusammengetroffen war, zu ihr gesagt hatte, ich würde selbst das Haus, die Familie verlassen; von schlechten Menschen müsse man fortgehen und sich ein eigenes Nest bauen, und Wersilow habe viele illegitime Kinder. Solche Worte, von einem Sohn über den Vater gesprochen, mußten ihr natürlich als eine Bestätigung ihres ganzen Verdachtes gegen Wersilow erscheinen, sie in dem Glauben bestärken; daß er sie beleidigt habe. Ich hatte Stebelkow beschuldigt, Öl ins Feuer gegossen zu haben, aber vielleicht hatte gerade ich es ganz besonders getan. Dieser Gedanke war mir schrecklich und ist es auch jetzt noch... Damals aber, an jenem Vormittag, hatte ich zwar schon angefangen, mich damit zu quälen; aber es schien mir doch noch, daß das nur Torheit sei: »Ach was«, sagte ich mir von Zeit zu Zeit, »da war auch schon ohne mich viel ins Brennen und Sieden geraten; ach was, es hat nichts zu bedeuten; es wird vorübergehen! Ich werde mich bessern! Ich werde das irgendwie wieder gutmachen... durch irgendeine gute Tat... Ich habe noch fünfzig Jahre vor mir!«

Aber der Gedanke bohrte doch in mir weiter.

Zweiter Teil
Erstes Kapitel
I

Ich überspringe einen Zeitraum von beinahe zwei Monaten; aber der Leser kann unbesorgt sein: es wird alles aus der weiteren Darlegung klarwerden. Scharf herausheben möchte ich einen bestimmten Tag, den 15. November, einen für mich aus vielen Gründen sehr denkwürdigen Tag. Erstens bemerke ich: niemand, der mich vor zwei Monaten gesehen hat, würde mich wiedererkennen, wenigstens nicht dem Äußeren nach; das heißt, er würde mich wohl wiedererkennen, aber nicht imstande sein, sich die mit mir vorgegangene Veränderung zu erklären. Ich bin stutzerhaft gekleidet - das ist das erste. Jener »gewissenhaft und geschmackvoll arbeitende französische Schneider«, den mir Wersilow früher einmal hatte empfehlen wollen, hat mir nicht nur einen ganzen Anzug gemacht, sondern ist für mich schon ein überwundener Standpunkt: für mich arbeiten jetzt ganz andere Schneider, vornehmere, vom allerersten Rang, und ich habe bei ihnen sogar eine laufende Rechnung. Auch in einem feinen Restaurant habe ich eine laufende Rechnung, aber da bin ich noch ängstlich, und sobald ich Geld habe, bezahle ich immer gleich, obwohl ich weiß, daß das mauvais ton ist und ich mich dadurch kompromittiere. Auf dem Newskij Prospekt bin ich ein guter Kunde eines französischen Friseurs, und wenn er mich frisiert, so erzählt er mir Anekdoten. Und ich muß gestehen, ich übe mich bei ihm im Französischen. Obgleich ich die Sprache kann und sogar ganz gut, bin ich in großer Gesellschaft doch immer noch ängstlich, wenn ich anfangen soll, französisch zu sprechen; und auch meine Aussprache ist gewiß nicht die Pariser. Ich habe meinen Kutscher Matwej, der mit seinem eleganten Trabergefährt zu meinen Diensten steht, sobald ich es bestimme. Er hat einen hellbraunen Hengst (ich kann Grauschimmel nicht leiden).

Indessen ist bei mir auch einiges nicht so, wie es sein sollte: wir haben den 15. November, und es ist schon vor drei Tagen Winter geworden, aber ich trage einen alten, von Wersilow abgelegten Schuppenpelz; wenn ich ihn verkaufen wollte, würde ich fünfundzwanzig Rubel dafür bekommen. Ich muß mir einen neuen anschaffen, aber meine Taschen sind leer, und außerdem muß ich mir um jeden Preis zu heute abend Geld verschaffen, sonst bin ich »unglücklich und verloren«; das sind meine eigenen Ausdrücke von damals. Welch eine unwürdige Lage! Nun aber: woher waren auf einmal diese Tausende von Rubeln, diese Traber und diese feinen Restaurants gekommen? Wie war es möglich gewesen, daß ich so schnell alles vergessen und mich so verändert hatte? O Schmach! Ja, lieber Leser, ich beginne jetzt die Geschichte meiner Schmach und Schande, und nichts im Leben kann für mich beschämender sein als diese Erinnerungen.

Ich rede wie ein Richter und weiß, daß ich schuldig bin. In jenem Strudel, in dem ich damals herumgewirbelt wurde, war ich zwar allein, ohne Führer und Ratgeber, aber ich kann beschwören, daß ich mir auch schon damals meines Falles bewußt war und daher keine Entschuldigung habe. Und doch war ich während dieser ganzen zwei Monate fast glücklich, – warum sage ich »fast«? Ich war überglücklich! So glücklich, daß das Bewußtsein meiner Schande, das mitunter (ach, wie oft, wie oft!) in meiner Seele aufblitzte und sie erzittern ließ – daß dieses Bewußtsein – sollte man es glauben? – mich noch mehr berauschte: »Ach was, falle ich, so falle ich; umkommen werde ich ja nicht; ich komme schon wieder in die Höhe! Ich habe meinen guten Stern!« - Ich ging auf einem schmalen Brückchen aus dünnen Stäben, ohne Geländer, über einem Abgrund, und es machte mir Vergnügen, daß ich so ging; ich blickte sogar in den Abgrund hinunter. Es war gefährlich und zugleich vergnüglich. Und die »Idee«? Die »Idee« verschob ich auf eine spätere Zeit, die Idee konnte warten; alles, was jetzt geschah, »war nur eine Art Seitensprung«: »Warum soll man sich nicht amüsieren?«

Ich sage es noch einmal: das ist eben eine schlechte Eigenschaft an »meiner Idee«, daß sie ohne weiteres alle möglichen Seitensprünge zuläßt; wäre sie nicht so fest und radikal, so hätte ich vielleicht doch Scheu gehabt, solche Seitensprünge zu machen.

Einstweilen hatte ich noch immer meine kleine Wohnung; ich hatte sie, wohnte aber nicht in ihr; dort lagen nur mein Koffer, meine Reisetasche und andere Sachen; meine Hauptresidenz hatte ich beim Fürsten Sergej Sokolskij. Ich hielt mich bei ihm den Tag über auf, ich übernachtete bei ihm, und das gleich ganze Wochen lang... Wie es dazu gekommen war, das werde ich sogleich sagen; vorher nur noch ein paar Worte über diese meine kleine Wohnung. Sie war mir bereits lieb geworden: hier hatte mich Wersilow von selbst zum erstenmal nach unserm damaligen Streit besucht und war dann noch viele Male gekommen. Ich wiederhole: es war dies für mich eine Zeit furchtbarer Schmach, aber auch gewaltigen Glückes... Und alles gelang mir damals so gut, alles lächelte mir nur so zu! »Und wozu auch diese ganze Düsterkeit«, dachte ich manchmal in meinem Wonnerausch, »wozu diese alten, schmerzenden Wunden, meine einsame, traurige Kindheit, meine dummen Träumereien unter der Bettdecke, meine Schwüre, meine Spekulationen und sogar meine »Idee«? Das sind alles nur Gebilde meiner Phantasie gewesen, und nun stellt es sich heraus, daß es in der Welt ganz anders aussieht; mir ist so froh und leicht zumute: ich habe einen Vater – Wersilow; ich habe einen Freund – den Fürsten Serjosha, und ich habe noch ...« aber dieses »noch« wollen wir beiseite lassen. O weh, alles geschah im Namen der Liebe, der Hochherzigkeit und der Ehre, aber nachher erwies es sich als schändlich, frech und ehrlos.

Genug davon!

II

Zum erstenmal kam er zu mir am dritten Tag nach unserm damaligen Bruch. Ich war nicht zu Hause, und er blieb da und wartete auf mich. Als ich in mein winziges Kämmerchen trat, ging es mir seltsam: obgleich ich ihn alle diese drei Tage erwartet hatte, umflorten sich mir doch die Augen, und mein Herz klopfte so stark, daß ich sogar einen Augenblick in der Tür stehenbleiben mußte. Zum Glück saß er mit meinem Wirt zusammen da, der, damit dem Gaste das Warten nicht langweilig würde, es für nötig gefunden hatte, sich schleunigst mit ihm bekannt zu machen, und ihm nun mit großem Eifer zu erzählen angefangen hatte. Er war Titularrat, etwa vierzig Jahre alt, sehr pockennarbig, sehr arm, mit einer schwindsüchtigen Frau und einem kranken Kind belastet; von Charakter war er überaus mitteilsam, friedlich, übrigens auch recht taktvoll. Ich freute mich über seine Anwesenheit, und er half mir sogar aus der Verlegenheit, denn was hätte ich zu Wersilow sagen sollen? Ich hatte gewußt, hatte diese ganzen drei Tage bestimmt gewußt, daß Wersilow von selbst als erster kommen würde, genauso wie ich es mir wünschte, denn um keinen Preis der Welt wäre ich zuerst zu ihm gegangen, und zwar nicht aus Trotz, sondern gerade aus Liebe zu ihm, aus einer Art Eifersucht der Liebe, – ich verstehe das nicht auszudrücken. Und überhaupt wird der Leser Redegewandtheit bei mir vergebens suchen. Aber obgleich ich ihn diese ganzen drei Tage lang erwartet und es mir fortwährend ausgemalt hatte, wie er hereintreten würde, so hatte ich mir doch trotz aller Anstrengungen absolut nicht im voraus vorstellen können, wovon wir beide nach allem Vorhergegangenen auf einmal sprechen sollten.

»Ach, da bist du ja auch!« sagte er und streckte mir, ohne von seinem Platz aufzustehen, freundschaftlich die Hand entgegen. »Setz dich zu uns; Pjotr Ippolitowitsch erzählt hier eine sehr interessante Geschichte von dem Stein bei den Pawlowskijschen Kasernen... oder da in der Gegend...«

»Ja, ich kenne den Stein«, antwortete ich schnell und setzte mich neben sie auf einen Stuhl. Sie saßen am Tisch. Das ganze Zimmer war nur zwei Sashen im Quadrat groß. Ich holte nur mühsam Atem.

Ein Schimmer von Befriedigung leuchtete in Wersilows Augen auf; er schien seine Zweifel gehabt und gedacht zu haben, ich würde mich theatralisch benehmen. Jetzt, war er beruhigt.

»Fangen Sie lieber noch einmal von vorn an, Pjotr Ippolitowitsch!« Die beiden waren schon dahin gelangt, einander mit Vor- und Vatersnamen anzureden.

»Nämlich, das hat sich noch zu Lebzeiten des seligen Kaisers zugetragen«, begann Pjotr Ippolitowitsch, indem er sich zu mir wandte; er sprach nervös und in einer Art von peinlicher Spannung, als litte er schon im voraus unter der Befürchtung eines Mißerfolges seiner Erzählung. »Sie kennen ja diesen Stein – ein dummer Stein auf der Straße; wozu? warum? er stört nur den Verkehr, nicht wahr? Der Kaiser fuhr oftmals da vorbei, und jedesmal lag dieser Stein da. Endlich erregte das das Mißfallen des Kaisers, und es war ja auch richtig: ein Ding wie ein Berg, wie ein ordentlicher Berg, liegt da auf der Straße und verdirbt die ganze Straße. »Der Stein soll da weg!« sagte der Kaiser. Na, er hatte also gesagt, der Stein soll da weg – Sie verstehen wohl, was das zu bedeuten hat: »Er soll da weg!« Erinnern Sie sich noch, wie der Selige war? Was sollte man mit dem Stein anfangen? Sie wußten sich alle keinen Rat: da war die Duma, und da war ganz besonders, ich erinnere mich nicht mehr, wer es eigentlich war, aber es war einer von den allerersten, damaligen Würdenträgern, dem der Auftrag zugefallen war. Also dieser große Herr hörte sich nun um, und da wurde ihm gesagt, fünfzehntausend Rubel werde die Sache wohl kosten, unter dem nicht, und in Silber (denn das Papiergeld war unter dem seligen Kaiser gerade in Silber umgewandelt worden). »Wie kann das fünfzehntausend Rubel kosten!« rief er. »Das ist ja Unsinn!« Die Engländer wollten nämlich anfangs Schienen bis heran legen, den Stein auf die Schienen heben und ihn dann mit Dampfkraft fortschaffen: aber was würde das gekostet haben? Eisenbahnen gab es damals noch nicht; nur nach Zarskoje Selo ging schon eine...«

 

»Na, man konnte den Stein doch zersägen«, sagte ich und machte dabei ein finsteres Gesicht, ich ärgerte mich gewaltig und genierte mich vor Wersilow; der aber hörte mit sichtlichem Vergnügen zu. Ich begriff, daß auch er sich über die Anwesenheit des Wirtes freute, weil ihm das Zusammensein mit mir ebenfalls peinlich war, das sah ich; ich erinnere mich, daß mir dieses sein Verhalten geradezu rührend vorkam.

»Ganz richtig, zersägen, ganz richtig, gerade auf diesen Gedanken verfielen sie dann, und besonders Montferrand, der damals gerade die Isaakskathedrale baute. »Man muß ihn zersägen«, sagte er, »und dann wegschaffen.« Jawohl, aber was hätte das gekostet?«

»Das macht gar keine Kosten; man zersägt den Stein einfach und schafft die Stücke fort.«

»Nicht doch, erlauben Sie, da muß man ja doch eine Maschine aufstellen, eine Dampfmaschine, und dann: wohin sollte man die Stücke schaffen? Und dann ein Ding wie ein Berg? »Zehntausend Rubel«, sagte man, »unter dem wird es nicht gut zu machen sein, zehn- oder zwölftausend Rubel.««

»Hören Sie mal, Pjotr Ippolitowitsch, das ist aber doch Unsinn, so kann das nicht gewesen sein ...« Aber in diesem Augenblick zwinkerte mir Wersilow unmerklich zu, und in diesem Zuzwinkern erkannte ich eine so zartfühlende Rücksichtnahme auf den Wirt, ja ein solches Mitleid mit ihm, daß mir das außerordentlich gefiel und ich zu lachen anfing.

»Na also, na also«, fuhr der Wirt erfreut fort; er hatte nichts bemerkt und schwebte, wie diese Erzähler immer, in der größten Angst, man könnte ihn durch Zwischenfragen aus dem Konzept bringen, »da kommt nun gerade ein Kleinbürger daher, ein noch junger Mensch, na, wissen Sie, so ein echter Russe: mit keilförmigem Bart, mit einem langschößigen Kaftan und beinah ein bißchen angetrunken ... übrigens, nein, angetrunken war er nicht. Und da steht nun dieser Kleinbürger, während sie da so miteinander sprechen, die Engländer und Montferrand, und der hohe Herr, der den Auftrag bekommen hatte, kam auch in seiner Kutsche angefahren, hörte zu und ärgerte sich darüber, daß sie da redeten und redeten und zu keinem Resultat kommen konnten. Und auf einmal bemerkt er von ferne, wie dieser Kleinbürger dasteht und so falsch lächelt, das heißt, nicht falsch, ich drücke mich nicht richtig aus, sondern gewissermaßen ...«

»Spöttisch«, warf Wersilow behutsam ein.

»Spöttisch, das heißt ein bißchen spöttisch; so dieses gutmütige russische Lächeln, wissen Sie. Na, der hohe Herr wurde darüber natürlich ärgerlich, wissen Sie, und sagte: »Du da mit dem Bart, worauf wartest du? Was bist du für einer?«

»Ich?« sagt er, »ich sehe mir das Steinchen an, Durchlaucht.«

Denn ich glaube, es war eine Durchlaucht; ob es am Ende Fürst Suworow Italijskij war, ein Nachkomme des berühmten Feldherrn? ... Aber nein, ein Suworow war es nicht; wie schade, daß ich vergessen habe, wer es eigentlich war, aber wissen Sie, wenn er auch eine Durchlaucht war, so war er doch ein echter Russe, so ein russischer Typ, ein Patriot mit einem klugen russischen Kopf und einem braven russischen Herzen. Na, er erriet denn auch, wie es stand:

»Na, wie ist's?« sagte er, »willst du den Stein fortschaffen? Was schmunzelst du?«

»Mehr über die Engländer, Durchlaucht; die wollen doch einen unmäßigen Preis nehmen, weil der russische Beutel dick ist und sie zu Hause nichts zu essen haben. Wenn Sie hundert Rubel aussetzen wollen, Durchlaucht, dann schaffen wir bis morgen abend das Steinchen weg.«

Na, was sagen Sie zu einem solchen Vorschlag? Die Engländer hätten ihn natürlich vor Wut am liebsten aufgefressen; Montferrand lachte; aber diese Durchlaucht mit dem russischen Herzen sagte: »Man gebe ihm hundert Rubel! Aber wirst du ihn auch wirklich fortschaffen?«

»Morgen gegen Abend sind wir damit fertig, Durchlaucht.«

»Aber wie wirst du es denn anfangen?«

»Das ist nun schon, wenn Euer Durchlaucht es nicht übelnehmen wollen, unser Geheimnis«, sagte er, und, wissen Sie, er sagte das in so einer echt russischen Art. Dem hohen Herrn gefiel das: »Man gebe ihm alles, was er verlangt!« befahl er. Na, da überließ man ihn nun sich selbst. Und was meinen Sie, was er tat?«

Der Wirt machte eine Pause und ließ seine gerührten Blicke von einem zum andern gehen.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Wersilow lächelnd. Ich machte ein sehr finsteres Gesicht.

»Nun, dann hören Sie, was er tat!« sagte der Wirt in einem solchen triumphierenden Ton, als hätte er es selbst ausgeführt: »Er holte sich Bauern mit Spaten, ganz einfache russische Bauern, und ließ sie dicht bei dem Stein, ganz nahe an seinem Rand, eine Grube graben; die ganze Nacht über gruben sie; eine gewaltige Grube stellten sie her, genau von der Größe des Steins, nur noch einen Werschok tiefer, und als sie die Grube fertiggegraben hatten, da befahl er ihnen, ganz allmählich und behutsam die Erde unter dem Stein selbst wegzugraben. Na, natürlich, als sie die weggruben, da hatte der Stein keine rechte Unterlage mehr, und das Gleichgewicht kam ins Wanken; und als nun das Gleichgewicht ins Wanken kam, da stemmten sie sich von der andern Seite alle mit den Armen gegen den Stein, so mit Hurra, auf russische Art: und bautz! fiel der Stein in die Grube! Dann schaufelten sie Erde darüber, stampften sie mit Rammen fest, pflasterten mit kleinen Steinen – und alles sah glatt aus, der Stein war verschwunden!«

»Nun denken Sie mal an!« sagte Wersilow.

»Na, und eine Menge Volks lief da zusammen, eine Menge Volks, nicht zu zählen! Diese Engländer hatten schon längst erraten, wie es zugehen würde, und waren nun wütend. Montferrand kam herbei: »Das ist auf Bauernart gemacht«, sagte er, »gar zu einfach!« Aber das war ja eben der Witz, daß es so einfach war, und ihr wart nicht darauf verfallen, ihr Dummköpfe! Und ich kann Ihnen sagen, dieser hohe Chef, dieser vornehme Beamte, umarmte und küßte ihn: »Wo bist du denn her, du kluger Kerl?« fragte er. – »Aus dem Gouvernement Jaroslawl, Durchlaucht; ich bin meinem Handwerk nach eigentlich Schneider, im Sommer aber komme ich nach der Hauptstadt und handle mit Obst.« Na, die Sache gelangte zur Kenntnis der Obrigkeit, und die Obrigkeit befahl, ihm eine Medaille umzuhängen; so ging er denn mit der Medaille um den Hals umher, aber dann trank er sich zu Tode, wie man sagt; wissen Sie, der Russe kann sich eben nicht beherrschen! Daher saugen uns auch bis auf den heutigen Tag die Ausländer aus, jawohl, so ist das!«

»Ja, gewiß, der russische Verstand ...«, begann Wersilow.

Aber hier wurde der Erzähler von seiner kranken Frau abgerufen und lief glücklicherweise davon, denn ich hätte mich sonst nicht mehr halten können.

Wersilow lachte.

»Mein Lieber, er hat mich vor deiner Ankunft schon eine ganze Stunde lang amüsiert. Dieser Stein ... das alles ist ein typisches Beispiel von verkehrtem Patriotismus, aber wie kann man ihn unterbrechen? Du hast es ja selbst gesehen, wie er vor Wonne geradezu zerschmolz. Und außerdem liegt, glaube ich, dieser Stein noch jetzt da, wenn ich mich nicht irre, und ist nie in einer Grube vergraben worden ...«

»Ach, mein Gott!« rief ich, »das ist ja wahr! Wie durfte er dann so etwas erzählen! ...«

»Was ist dir? Du scheinst ja ganz aufgebracht zu sein. Laß nur gut sein! Er hat da tatsächlich etwas verwechselt; ich habe eine derartige Erzählung von einem Stein schon in meiner Kindheit gehört, nur lautete sie natürlich etwas anders und bezog sich nicht auf diesen Stein. Ich bitte dich: »Die Sache gelangte zur Kenntnis der Obrigkeit.« Sein ganzes Herz schwamm ja in Entzücken bei diesem »gelangte zur Kenntnis der Obrigkeit«. Für diese klägliche Sorte von Menschen sind solche Anekdoten unentbehrlich. Diese Leute haben ihrer eine große Menge, und das ist bei ihnen in der Hauptsache die Folge ihrer Unmäßigkeit. Sie haben nichts gelernt, wissen nichts ordentlich; na, da möchten sie mal von etwas anderem reden als von Kartenspiel und ihrem Gewerbe, von etwas allgemein Menschlichem, Poetischem ... Was ist eigentlich dieser Pjotr Ippolitowitsch für ein Mensch?«

»Ein ganz armer Mensch und sogar ein unglücklicher Mensch.«

»Na, siehst du, dann spielt er vielleicht nicht einmal Karten? Ich wiederhole es: mit der Erzählung dieses törichten Zeugs tut er seiner Nächstenliebe Genüge: er wollte ja auch uns damit glücklich machen. Auch sein patriotisches Gefühl hat er damit befriedigt; so gibt es zum Beispiel noch eine Anekdote, daß die Engländer dem Fabrikanten Sawjalow eine Million geboten hätten, wenn er seine Fabrikate nicht mehr mit seiner Firmenmarke versehen würde.«

»Ach Gott, ja, diese Anekdote habe ich auch gehört!«

»Wer hätte sie nicht gehört? Und wenn er sie erzählt, so weiß er sogar ganz genau, daß du sie sicherlich schon gehört hast, aber er erzählt sie doch, indem er sich absichtlich einbildet, du hättest sie nicht gehört. Die Vision des Königs von Schweden – diese Geschichte scheint bei ihnen schon überholt zu sein; aber in meiner Jugend wurde sie noch mit dem größten Genuß und in geheimnisvollem Flüsterton erzählt, ganz ebenso wie die Geschichte, daß zu Anfang des Jahrhunderts jemand im Senat vor den Senatoren auf den Knien gelegen habe. Über den Kommandanten Baschuzkij gab es ebenfalls eine Menge Anekdoten, wie das Denkmal weggeschafft worden sei. Eine besondere Vorliebe haben sie für Anekdoten über Vorgänge bei Hofe; ich erwähne zum Beispiel die Erzählungen von dem Minister Tschernyschow unter der vorigen Regierung, wie er als siebzigjähriger Greis sein Äußeres so hergerichtet habe, daß er wie ein Mann von dreißig Jahren ausgesehen und der selige Kaiser sich bei den großen Empfängen immer über ihn gewundert habe ...«

absichtlich

»Auch das habe ich gehört.«

»Wer hätte es nicht gehört? Alle diese Anekdoten sind der Gipfel der Unordentlichkeit; aber du mußt wissen, daß dieser Typ von Unordentlichkeit viel tiefer sitzt und sogar viel weiter verbreitet ist, als wir denken. Die Lust zu schwindeln, um seinen Nächsten dadurch glücklich zu machen, triffst du sogar in unserer besten Gesellschaft, denn wir alle leiden an dieser Unmäßigkeit des Herzens. Nur gehören unsere Erzählungen einem anderen Gebiet an; was wird bei uns nicht allein schon über Amerika erzählt, das ist ja enorm, und sogar Staatsmänner tragen solche Erzählungen vor! Auch ich selbst gehöre, wie ich gestehen muß, zu diesem unordentlichen Typ und habe mein ganzes Leben darunter gelitten ...«

»Die Geschichte von Tschernyschow habe ich selbst schon ein paarmal erzählt.«

»Du hast sie selbst schon erzählt?«

»Hier ist außer mir noch ein Untermieter, ein Beamter, ebenfalls pockennarbig und schon bejahrt, aber ein furchtbar prosaischer Mensch, und sowie Pjotr Ippolitowitsch zu erzählen beginnt, unterbricht er ihn sofort und widerspricht. Und er hat es dadurch so weit gebracht, daß dieser ihm wie ein Sklave dient und ihm alles zu Gefallen tut, nur damit er zuhört.«

»Das ist wieder ein anderer Typ der Unordentlichkeit, und er ist sogar vielleicht häßlicher als der erste. Der erste ist ganz Begeisterung: »Laß mich nur schwindeln – du wirst sehen, wie gut es ausläuft!« Der zweite ist ganz Mißmut und Prosa: »Ich lasse mich nicht beschwindeln; wo, wann, in welchem Jahr hat es sich zugetragen?« Kurz, ein Mensch ohne Herz. Mein Freund, laß deinen Nächsten nur immer ein bißchen schwindeln – das ist ein harmloses Vergnügen. Laß ihn sogar viel schwindeln! Erstens beweist du damit dein Zartgefühl, und zweitens lassen andere zum Dank dafür dich ebenfalls schwindeln – zwei gewaltige Vorteile auf einmal. Que diable, man muß seinen Nächsten lieben. Aber es ist Zeit, daß ich aufbreche. Du hast dich sehr nett eingerichtet«, fügte er, sich vom Stuhle erhebend, hinzu. »Ich werde Sofja Andrejewna und deiner Schwester erzählen, daß ich hiergewesen bin und dich bei guter Gesundheit angetroffen habe. Auf Wiedersehen, mein Lieber!«

 

Wie, war das wirklich alles? Aber das war ja gar nicht das, was ich brauchte; ich hatte etwas anderes erwartet, die Hauptsache, obgleich ich vollkommen einsah, daß es gar nicht anders sein konnte. Ich begleitete ihn mit der Kerze auf die Treppe; der Wirt kam herbeigelaufen, aber ich packte ihn, ohne daß es Wersilow merkte, mit aller Kraft am Arm und stieß ihn heftig zurück. Er sah mich erstaunt an, verschwand aber sofort.

Hauptsache

»Diese Treppen!« murmelte Wersilow, die Worte dehnend; er wollte offenbar nur etwas sagen und fürchtete offenbar, daß ich etwas sagen würde. »Diese Treppen! Ich bin nicht mehr daran gewöhnt, und du wohnst im dritten Stock. Übrigens, jetzt werde ich meinen Weg schon allein finden ... Bemühe dich nicht weiter, mein Lieber; du wirst dich noch erkälten.«

Aber ich verließ ihn nicht. Wir stiegen schon die zweite Treppe hinab.

»Ich habe Sie diese ganzen drei Tage erwartet«, sagte ich; die Worte fuhren mir plötzlich wie von selbst aus dem Mund, ich konnte kaum atmen.

»Ich danke dir, mein Lieber.«

»Ich wußte, daß Sie bestimmt kommen würden.«

»Und ich wußte, daß du weißt, daß ich bestimmt kommen würde. Ich danke dir, mein Lieber.«

Er verstummte. Wir waren schon bis zur Haustür gelangt, aber ich ging immer noch hinter ihm her. Er öffnete die Tür; der schnell hereinfahrende Wind löschte meine Kerze aus. Da ergriff ich plötzlich seine Hand; es war ganz dunkel. Er zuckte zusammen, aber er schwieg. Ich beugte mich zu seiner Hand herab und küßte sie leidenschaftlich, mehrere Male, viele Male.

»Mein lieber Junge, womit habe ich das verdient, daß du mich so liebst?« sagte er, aber seine Stimme hatte jetzt einen ganz anderen Klang. Die Stimme zitterte ihm; es lag in ihr ein neuer Ton, als ob gar nicht er es wäre, der da redete.

Ich wollte etwas erwidern, vermochte es aber nicht und lief nach oben. Er jedoch blieb immer noch auf demselben Fleck stehen, und erst als ich bei meiner Wohnung angelangt war, hörte ich, wie unten die Haustür geöffnet wurde und dann geräuschvoll zuschlug. An dem Wirt vorbei, der, ich weiß nicht warum, wieder auftauchte, schlüpfte ich in mein Zimmer, schloß mich ein und warf mich, ohne die Kerze wieder anzuzünden, auf mein Bett, mit dem Gesicht auf das Kissen, und – weinte, weinte! Es war seit der Zeit bei Touchard das erstemal, daß ich Tränen vergoß! Das Schluchzen brach aus mir mit unwiderstehlicher Kraft hervor, und ich fühlte mich so glücklich ... aber wozu soll ich das beschreiben!

Ich habe das jetzt niedergeschrieben, ohne mich zu schämen, weil das alles vielleicht trotz seiner Albernheit doch im Grunde gut war.