Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Oh ja, sehr wohl«, antwortete der Fürst. »Gleich am Anfang, als ich hereingekommen und mit den Damen bekannt geworden war, sprachen wir über die Schweiz.«

»Ach, hol die Schweiz der Teufel!«

»Dann über die Todesstrafe.«

»Über die Todesstrafe?«

»Ja, das Gespräch führte uns darauf ... Dann erzählte ich ihnen, wie ich dort vier Jahre gelebt habe, und eine Geschichte von einem armen Bauernmädchen ...«

»Ach, zum Teufel mit dem armen Bauernmädchen! Weiter!« drängte Ganja ungeduldig.

»Dann, wie Schneider mir seine Ansicht über meinen Charakter aussprach und mich nötigte ...«

»Hol Ihren Schneider der Henker; was scheren mich seine Ansichten! Weiter!«

»Dann fing ich bei irgendeinem Anlaß an, von Gesichtern zu sprechen, das heißt von dem Ausdruck der Gesichter, und sagte, Aglaja Iwanowna sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna. Und da kam ich denn auch auf das Bild zu sprechen ...«

»Aber Sie haben nichts von dem mitgeteilt, Sie haben doch nichts von dem mitgeteilt, was Sie vorher im Arbeitszimmer gehört hatten? Nein? Nein?«

»Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht getan habe.«

»Aber woher dann, zum Teufel ... Ha! Hat Aglaja den Brief etwa der Alten gezeigt?«

»Was das betrifft, kann ich Ihnen bestimmt garantieren, daß sie ihn ihr nicht gezeigt hat. Ich war die ganz Zeit dabei; sie hatte auch gar keine Zeit dazu.«

»Aber vielleicht haben Sie selbst etwas nicht bemerkt ... Oh, dieser ver-r-dammte Idiot!« schrie er auf einmal ganz außer sich, »er kann nicht einmal etwas erzählen!«

Ganja, der nun einmal ins Schimpfen hineingeraten war und keinen Widerstand fand, verlor allmählich alle Selbstbeherrschung, wie das bei manchen Menschen immer so geht. Es fehlte nicht viel, und er hätte vielleicht zu spucken begonnen, so wütend war er. Aber eben infolge dieser Wut war er auch wie blind; sonst hätte er längst bemerken müssen, daß dieser »Idiot«, den er so verächtlich behandelte, manche Dinge sehr schnell und genau durchschaute und außerordentlich klar darzustellen wußte. Aber auf einmal begab sich etwas Unerwartetes.

»Ich muß Ihnen bemerken, Gawrila Ardalionowitsch«, sagte der Fürst plötzlich, »daß ich zwar früher in der Tat so krank war, daß ich wirklich fast einem Idioten glich; aber jetzt bin ich schon längst wiederhergestellt, und daher ist es mir einigermaßen unangenehm, wenn man mich, mir ins Gesicht, einen Idioten nennt. Allerdings kann man Ihre Mißerfolge als Entschuldigung für Sie geltend machen; aber Sie haben mich in Ihrem Ärger schon zweimal mit Schimpfnamen belegt. Das mißfällt mir sehr, namentlich auch, da Sie es so ohne weiteres gleich beim Beginn unserer Bekanntschaft tun; und da wir uns jetzt gerade an einer Straßenkreuzung befinden, so ist es wohl das beste, wenn wir uns trennen: gehen Sie rechts nach Ihrer Wohnung, und ich werde nach links gehen. Ich bin im Besitz von fünfundzwanzig Rubeln und werde wohl irgendein Hotel garni finden.«

Ganja wurde höchst verlegen und errötete sogar vor Scham darüber, daß ihm sein Fehler so unerwartet vorgehalten wurde.

»Verzeihen Sie, Fürst!« rief er eifrig, indem er seinen scheltenden Ton schnell mit einem äußerst höflichen vertauschte, »ich bitte Sie inständig, verzeihen Sie mir! Sie sehen, in welcher entsetzlichen Lage ich mich befinde! Sie wissen noch fast nichts darüber; aber wenn Sie alles wüßten, würden Sie mich gewiß wenigstens einigermaßen entschuldigen, wiewohl selbstverständlich mein Verhalten unentschuldbar ist ...«

»Oh, ich beanspruche gar nicht so lange Entschuldigungen«, beeilte sich der Fürst zu erwidern. »Ich begreife ja, daß Ihnen Ihre Lage sehr unangenehm ist und Sie deswegen schimpfen. Nun, dann wollen wir nach Ihrer Wohnung gehen. Ich tue es nun mit Vergnügen ...«

»Nein, so darf ich ihn jetzt nicht davonlassen«, sagte sich Ganja im stillen, während er unterwegs dem Fürsten grimmige Blicke zuwarf. »Dieser schlaue Patron hat mir alle meine Geheimnisse entlockt und nun auf einmal die Maske abgeworfen ... Das hat etwas zu bedeuten. Nun, wir wollen sehen! Es wird sich alles entscheiden, alles, alles! Noch heute!«

Sie standen schon gerade vor dem Haus.

VIII

Ganjas Wohnung befand sich im dritten Stock, zu dem man auf einer sehr sauberen, hellen, breiten Treppe hinaufstieg, und bestand aus sechs oder sieben Stuben und Stübchen, die zwar nur ganz gewöhnlicher Art waren, aber doch jedenfalls nicht recht im Einklang standen mit dem Portemonnaie eines Beamten, der Familie hatte, auch wenn er zweitausend Rubel Gehalt bezog. Bei der Wohnung war jedoch die Aufnahme von Untermietern mit Beköstigung und Bedienung in Aussicht genommen, und sie war von Ganja und seiner Familie erst vor zwei Monaten gemietet worden; und zwar war dies zu Ganjas eigenem größten Mißvergnügen geschehen, auf die inständigen Bitten seiner Mutter Nina Alexandrowna und seiner Schwester Warwara Ardalionowna hin, die den Wunsch hatten, sich für ihrem Teil nützlich zu machen und die Einnahmen der Familie wenigstens um eine Kleinigkeit zu vermehren. Ganja ärgerte sich darüber und nannte das Halten von Untermietern eine Unanständigkeit; er schämte sich dessen gewissermaßen in der Gesellschaft, in der er als ein junger, eleganter Mann mit einer bedeutenden Zukunft sich zu bewegen pflegte. Dieser Druck der Verhältnisse und diese ganze widerwärtige Beengtheit bereiteten ihm tiefe seelische Schmerzen. Seit einiger Zeit regte er sich über jede Kleinigkeit maßlos und viel mehr, als sie wert war, auf, und wenn er sich dazu verstand, vorläufig noch nachzugeben und zu dulden, so tat er dies nur deshalb, weil er bereits entschlossen war, dies alles in nächster Zeit umzuändern und umzugestalten. Indessen stellten ihm gerade diese Umgestaltung, gerade der Ausweg, den er vor sich hatte, eine nicht leichte Aufgabe, eine Aufgabe, deren bevorstehende Lösung mühsamer und qualvoller zu werden drohte als alles Vorhergegangene.

Die Wohnung wurde von einem Korridor durchschnitten, der gleich beim Vorzimmer begann. Auf der einen Seite des Korridors befanden sich die drei Zimmer, die zum Vermieten an »gut empfohlene« Untermieter bestimmt waren; außerdem lag auf derselben Seite des Korridors, ganz am Ende, bei der Küche, ein viertes Zimmerchen, enger als alle übrigen, in welchem das Oberhaupt der Familie, der General a.D. Iwolgin, selbst wohnte; er schlief dort auf einem breiten Sofa und war verpflichtet, wenn er die Wohnung verließ und wiederkam, seinen Weg durch die Küche und über die Hintertreppe zu nehmen. In demselben Zimmerchen wohnte auch Gawrila Ardalionowitschs fünfzehnjähriger Bruder, der Gymnasiast Kolja; auch er mußte sich in diesem engen Raum behelfen, mußte hier seine Schulaufgaben erledigen und auf einem andern sehr alten, schmalen, kurzen Sofa und einem zerrissenen Laken schlafen; vor allen Dingen aber mußte er den Vater versorgen und beaufsichtigen; denn der Aufsicht wurde dieser von Tag zu Tag mehr bedürftig. Dem Fürsten wurde das mittlere der drei Zimmer angewiesen; in dem ersten Zimmer, rechts davon, wohnte Ferdyschtschenko, und das dritte, links, stand noch leer. Aber Ganja führte den Fürsten zunächst nach der von der Familie eingenommenen Wohnungshälfte. Diese Hälfte bestand aus einem Wohnzimmer, das sich, so oft es nötig war, in ein Eßzimmer verwandelte, ferner aus einem Salon, der jedoch Salon nur vormittags war und sich am Abend in Ganjas Arbeitszimmer und in sein Schlafzimmer verwandelte, und endlich aus einem dritten, engen und stets geschlossen gehaltenen Zimmer: dies war Nina Alexandrownas und Warwara Ardalionownas Schlafzimmer. Mit einem Wort: alles in dieser Wohnung war beengt und zusammengedrängt; Ganja knirschte im stillen nur so mit den Zähnen; obgleich er gegen seine Mutter respektvoll war und zu sein wünschte, so konnte man doch beim ersten Blick, den man in dieses Familienleben tat, bemerken, daß er hier einen argen Despotismus ausübte.

Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn, begriffen. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich und etwas vergrämt; aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck; gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen; aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre gesamten Manieren bekundeten eine Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte.

Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Kunst besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, nämlich gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber gewissermaßen allzu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten; ja, sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in der letzten Zeit sogar angefangen, ihm viel Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet.

 

Ganja, der seine Mutter in sehr trockener Manier und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohn Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen.

»Wo ist denn Ihr Gepäck?« fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte.

»Ich habe nur ein Bündelchen; das habe ich im Vorzimmer gelassen.«

»Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?«

»Ja.«

»Ist es in der Schweiz schön?«

»Ja, sehr schön.«

»Sind da Berge?«

»Ja.«

»Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.«

Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer.

»Matrona wird Ihnen sofort das Bett überziehen. Haben Sie einen Koffer?«

»Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen; es ist im Vorzimmer.«

»Es sind keine Bündel da außer diesem kleinen; wo haben Sie sie denn hingelegt?« fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte.

»Außer diesem habe ich überhaupt keins«, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm.

»So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.«

»Schwatz keinen Unsinn!« sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur soeben noch höflichen Redeweise.

»Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen; ich bin ja nicht Ptizyn.«

»Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!«

»Nun, dann wollen wir gehen, du resolute Person!«

Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen.

»Ist der Vater zu Hause?« fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr.

Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus.

»Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen ... Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Sie nicht zu große Anstrengung kostet, so plaudern Sie weder hier von dem, was soeben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden; denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel! ... Halten Sie wenigstens heute damit zurück!«

»Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben«, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe.

Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter und schlechter.

»Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Wort, ich bitte Sie darum.«

»Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: Wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bild zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.«

»Pfui, was für ein häßliches Zimmer!« bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. »So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen ... Na, das ist nicht meine Sache; das Zimmervermieten ist nicht mein Ressort.«

Ptizyn blickte herein und rief Ganja ab; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, trotzdem er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen; aber er hatte damit gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit gehabt.

Kaum hatte sich der Fürst gewaschen und seine Toilette einigermaßen in Ordnung gebracht, als sich die Tür von neuem öffnete und eine neue Gestalt hereinschaute.

Dies war ein Herr von etwa dreißig Jahren, ziemlich groß gewachsen, breitschultrig, mit großem Kopf und krausem, rötlichem Haar. Sein Gesicht war fleischig und gerötet, die Lippen dick, die Nase breit und platt; die kleinen, verschwommenen, spöttischen Augen blinzelten fortwährend. Im ganzen machte sein Wesen den Eindruck ziemlicher Frechheit. Seine Kleidung war unsauber. Er öffnete die Tür anfangs nur so weit, daß er den Kopf hindurchstecken konnte. Dieser hindurchgesteckte Kopf sah sich etwa fünf Sekunden lang im Zimmer um; dann öffnete sich die Tür langsam weiter, und die ganze Gestalt wurde auf der Schwelle sichtbar; aber der Besucher trat noch nicht herein, sondern fuhr von der Schwelle aus fort, den Fürsten mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Endlich machte er die Tür hinter sich zu, trat näher, setzte sich auf einen Stuhl, ergriff den Fürsten kräftig bei der Hand und zog ihn, sich schräg gegenüber, auf das Sofa nieder. »Mein Name ist Ferdyschtschenko«, sagte er, indem er dem Fürsten unverwandt und forschend ins Gesicht blickte.

»Nun, und?« antwortete der Fürst beinahe lachend.

»Ich bin hier Untermieter«, fuhr Ferdyschtschenko fort, ihn wie vorher anstarrend.

»Wünschen Sie mit mir bekannt zu werden?«

»Ach was!« brummte der Gast, wühlte sich in den Haaren, seufzte und blickte in die entgegengesetzte Ecke.

»Haben Sie Geld?« fragte er plötzlich, sich zum Fürsten hinwendend.

»Nur wenig.«

»Also wieviel?«

»Fünfundzwanzig Rubel.«

»Zeigen Sie mal her!«

Der Fürst zog den Fünfundzwanzigrubelschein aus der Westentasche und reichte ihn Ferdyschtschenko hin. Dieser faltete ihn auseinander, besah ihn, drehte ihn dann auf die andere Seite und hielt ihn gegen das Licht.

»Es ist doch recht merkwürdig«, sagte er wie in Nachdenken versunken; »woher werden sie nur so braun? Diese Fünfundzwanzigrubelscheine werden manchmal schrecklich braun, während andere im Gegenteil ganz ausbleichen. Da, nehmen Sie!«

Der Fürst nahm seine Banknote zurück. Ferdyschtschenko stand von seinem Stuhl auf.

»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen: Erstens, leihen Sie mir niemals Geld; denn ich werde Sie unfehlbar darum bitten.«

»Gut.«

»Beabsichtigen Sie, hier zu bezahlen?«

»Allerdings.«

»Ich beabsichtige es nicht; fällt mir nicht ein. Ich wohne hier rechts von Ihnen, die erste Tür; haben Sie gesehen? Geben Sie sich nicht zu oft die Mühe, mich zu besuchen; ich werde schon zu Ihnen kommen; da können Sie unbesorgt sein. Haben Sie den General schon gesehen?«

»Nein.«

»Auch noch nicht gehört?«

»Natürlich nicht.«

»Na, Sie werden ihn ja noch zu sehen und zu hören bekommen; der versucht sogar, mich anzupumpen! Avis au lecteur! Leben Sie wohl! Kann man etwa leben, wenn man Ferdyschtschenko heißt? Wie?«

»Warum denn nicht?«

»Adieu!«

Er ging zur Tür. Der Fürst erfuhr später, daß dieser Herr es sich gewissermaßen zur pflichtmäßigen Aufgabe gemacht habe, alle Leute durch seine Originalität und Spaßhaftigkeit in Erstaunen zu versetzen, daß ihm das aber so gut wie nie gelang. Auf manche machte er sogar einen recht unangenehmen Eindruck, was ihm ein wirklicher Schmerz war; indes wurde er seiner Aufgabe darum doch nicht untreu. In der Tür gelang es ihm noch, eine besondere Leistung hinzuzufügen: er stieß nämlich dort auf einen eintretenden Herrn, ließ diesen neuen, dem Fürsten noch unbekannten Gast an sich vorbei ins Zimmer gehen und zwinkerte hinter dessen Rücken ein paarmal warnend nach ihm hin. So erreichte er doch noch einen effektvollen Abgang.

Der neue Herr war von hohem Wuchs, etwa fünfundfünfzig Jahre alt oder noch etwas darüber, ziemlich wohlbeleibt, mit einem purpurroten, fleischigen, aufgedunsenen Gesicht, das von einem dichten grauen Backenbart umrahmt war, mit einem Schnurrbart und großen, stark hervorstehenden Augen. Seine Erscheinung wäre recht stattlich gewesen, wenn sie nicht etwas Nachlässiges, Verlebtes und sogar Unsauberes gehabt hätte. Er trug einen alten, an den Ellbogen beinah schon durchgestoßenen Oberrock; auch seine Wäsche war schmutzig; außerhalb des Hauses konnte er sich so nicht sehen lassen. Um ihn herum roch es ein wenig nach Schnaps; aber sein Benehmen war eindrucksvoll, wiewohl etwas studiert und offenbar veranlaßt von dem leidenschaftlichen Wunsch, durch Würde zu imponieren. Der Herr näherte sich dem Fürsten langsam mit einem freundlichen Lächeln, ergriff schweigend seine Hand, die er dann in der seinigen behielt, und blickte ihm eine Weile ins Gesicht, wie wenn er wohlbekannte Züge darin wiederfände.

»Er ist es! Er ist es!« sprach er leise, aber in feierlichem Ton. »Als stände er leibhaftig vor mir! Ich hörte, wie da mehrmals ein mir bekannter, teurer Name genannt wurde, und erinnerte mich an die unwiederbringlich dahingeschwundene Vergangenheit ... Sie sind Fürst Myschkin?«

»Ganz richtig.«

»General a.D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?«

»Ljow Nikolajewitsch.«

»Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!«

»Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.«

»Lwowitsch«, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff auch den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. »Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.«

»In der Tat?« fragte der Fürst. »Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.«

»Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.«

»Mein Vater war ebenfalls beim Militär; er war Leutnant im Wasilkowschen Regiment.«

»Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tod. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter ...«

Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt.

»Auch sie«, sagte der Fürst, »starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.«

»Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! Oh Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.«

Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören.

»Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens (es war noch nicht sieben Uhr) kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begreife alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Taschentuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen stromweise aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ›Sie sei dein!‹ Ich rief: ›Sie sei dein!‹ Mit einem Wort ... mit einem Wort ... Sie wollen bei uns wohnen ... bei uns wohnen?«

 

»Ja, vielleicht, für einige Zeit«, antwortete der Fürst, etwas stockend.

»Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten«, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte.

Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen; aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder.

»Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen«, sagte der General. »Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten; aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau, und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer – ein unerhörter Niedergang der Familie! So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen ...! Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Haus eine schlimme Tragödie ab!«

Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an.

»Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten ...! Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht; ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt ...«

»Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.

»Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!«

Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.

»Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon lange nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt ... in Twer?«

»Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.

»Jawohl; aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zum General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört ...«

»Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tod stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, wiewohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.«

»Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«

»Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tod Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbett ...«

»Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, »wiewohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.«

»Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«

»So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.

»Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging dann auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst (notabene, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals) macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich; aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr später, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Division gehörte wie unser Regiment!«

»Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.

»Es verhält sich nicht so; das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn ordentlich kummervoll ansah. »Mon mari se trompe.«

»Aber liebe Frau, ›se trompe‹, das ist leicht gesagt; aber kläre du doch selbst einmal einen solchen Fall auf! Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich würde der erste sein, der da sagte, qu'on se trompe. Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu; aber ...«

»Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt«, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat.

»Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger ... Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite ...«

»Die Suppe wird wieder kalt werden«, drängte Warwara ungeduldig.

»Gleich, gleich!« murmelte der General und verließ das Zimmer. »Und trotz aller Nachforschungen ...«, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen.

»Sie werden meinem Mann Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben«, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. »Er wird Sie übrigens nicht zu viel belästigen; er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine ... besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: Sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Logis wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt in Ansatz gebracht werden; aber ich bitte Sie einzig um der guten Ordnung willen darum ... Was ist das, Warja?«