Schuld und Sühne

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»Hast du das Delirium, oder was?!« brüllte Rasumichin, der schließlich rasend wurde. »Was spielst du Komödie! Selbst mich hast du ganz konfus gemacht ... Was bist du dann hergekommen, der Teufel noch einmal?«

»Ich brauche ... keine Übersetzungen ...« murmelte Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging.

»Was brauchst du denn, zum Teufel?« schrie ihm Rasumichin von oben nach.

Jener ging stumm hinunter.

»He, du! Wo wohnst du?«

Eine Antwort erfolgte nicht.

»Dann hol dich der Teufel!«

Raskolnikow trat aber schon auf die Straße. Auf der Nikolaibrücke mußte er infolge eines für ihn recht unangenehmen Zwischenfalles noch einmal zur Besinnung kommen. Der Kutscher einer Equipage versetzte ihm einen heftigen Peitschenhieb auf den Rücken, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, obwohl der Kutscher ihn drei- oder viermal angeschrien hatte. Der Peitschenhieb erboste ihn so, daß er zum Brückengeländer sprang (er ging, er wußte selbst nicht warum, in der Mitte der Brücke, wo gefahren wird, und nicht auf dem Bürgersteig) und zornig mit den Zähnen knirschte und klapperte. Ringsherum erklang natürlich Lachen.

»Ganz recht geschehen!«

»Ist wohl ein Spitzbube!«

»Man kennt es ja: stellt sich betrunken und läuft absichtlich unter die Räder, und unsereins muß dafür auf kommen.«

»Davon leben sie, Verehrtester, davon leben sie ...«

Doch in dem Augenblick, als er am Geländer stand und, sich den Rücken reibend, ganz dumm und gehässig der davonrollenden Equipage nachsah, fühlte er plötzlich, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf: eine ältere Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche und in Bocklederschuhen und neben ihr ein junges Mädchen mit Hut und grünem Schirm, wahrscheinlich die Tochter. »Nimm's, Väterchen, um Christi willen.« Er nahm das Geld, und die beiden Frauen gingen weiter. Es war ein Zwanzigkopekenstück. Der Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn gut für einen Bettler, für einen echten Kupfergeldsammler von der Straße halten, die zwanzig Kopeken hatte er aber dem Peitschenhieb zu verdanken, der sie mitleidig gestimmt hatte.

Er drückte das Zwanzigkopekenstück fest in der Hand zusammen, ging an die zehn Schritte weiter und wandte sich mit dem Gesicht zur Newa, in der Richtung zum Palais. Kein Wölkchen stand am Himmel, und das Wasser war fast blau, was auf der Newa so selten vorkommt. Die Kuppel der Kathedrale, die von keinem Punkt so gut zu sehen ist wie von dieser Brücke, etwa zwanzig Schritte vor der Kapelle, leuchtete und strahlte, und durch die reine Luft konnte man jede ihrer Verzierungen deutlich unterscheiden. Der Schmerz vom Peitschenhiebe hatte nachgelassen, und Raskolnikow hatte den Hieb vergessen; ihn beschäftigte ausschließlich ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke. Er stand da und blickte lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle war ihm besonders gut bekannt. Als er noch zur Universität ging, so geschah es vielleicht hundertmal, daß er, meistens auf dem Heimwege, an dieser Stelle stehenblieb, aufmerksam dieses prachtvolle Panorama betrachtete und jedesmal über einen unklaren und unerklärlichen Eindruck staunte. Das prachtvolle Panorama wehte ihn immer mit einer unerklärlichen Kälte an; das prunkvolle Bild war für ihn von einem stummen und dumpfen Geiste erfüllt ... Jedesmal staunte er über diesen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die Lösung, da er dem Eindruck nicht traute, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich plötzlich deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es kam ihm vor, als hätte er sich ihrer nicht ganz zufällig erinnert. Schon dies allein erschien ihm befremdend und erstaunlich, daß er auf der gleichen Stelle stehenblieb wie einst, als hätte er sich tatsächlich eingebildet, daß er imstande sei, auch jetzt ebenso zu denken wie einst und sich für die gleichen Themen und Bilder zu interessieren, für die er sich ... noch vor so kurzer Zeit interessiert hatte. Das kam ihm beinahe komisch vor, zugleich preßte es ihm die Brust zusammen. Er glaubte, unten in der Tiefe, irgendwo kaum sichtbar unter seinen Füßen diese ganze Vergangenheit zu sehen, die früheren Gedanken, die früheren Aufgaben, die früheren Probleme, die früheren Eindrücke, das frühere Panorama, und sich selbst; und alles, alles ... Es war ihm, als fliege er irgendwo hinauf und als verschwinde alles vor seinen Augen. Bei einer unwillkürlichen Handbewegung fühlte er plötzlich in seiner Faust das Zwanzigkopekenstück. Er öffnete die Hand, sah die Münze aufmerksam an, schwang den Arm und warf sie ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien es, als hätte er sich in diesem Augenblick selbst mit einer Schere von allen und von allem abgeschnitten.

Er kam erst gegen Abend heim, also war er wohl an die sechs Stunden herumgegangen. Auf welchem Wege er zurückgegangen war, wußte er nicht mehr. Er zog sich aus, legte sich, wie ein abgehetztes Pferd am ganzen Leibe zitternd, aufs Sofa, zog den Mantel über sich und schlief sofort ein.

Er kam zur Besinnung in völliger Dämmerung, von einem furchtbaren Schrei geweckt. Gott, was war das für ein Schrei! Solche unnatürlichen Laute, solches Heulen, Jammern, Zähneknirschen, Schluchzen, solche Schläge und Schimpfworte hatte er noch nie erlebt und nie gehört. Er konnte sich eine solche Roheit, eine solche Raserei nicht mal vorstellen. Von Entsetzen gepackt, erhob er sich und setzte sich auf seinem Lager auf; jeden Augenblick erstarb er vor schmerzvollem Grauen. Doch die Schläge, das Jammern und Fluchen wurden immer stärker und stärker. Und plötzlich erkannte er zu seinem größten Erstaunen die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, kreischte und jammerte, brachte die Worte in solcher Hast heraus, daß man nichts verstehen konnte, sie flehte um etwas, – natürlich, daß man sie zu schlagen aufhöre, denn sie wurde auf der Treppe von jemand erbarmungslos geschlagen. Die Stimme des Schlagenden war vor Wut und Raserei so schrecklich, daß sie nur noch röchelte, aber auch der Schlagende sagte etwas, ebenso hastig, unverständlich und sich überstürzend. Plötzlich erbebte Raskolnikow wie Espenlaub: er erkannte die Stimme; es war die Stimme von Ilja Petrowitsch. Ilja Petrowitsch ist hier und schlägt seine Wirtin! Er tritt sie mit den Füßen, schlägt sie mit dem Kopf gegen die Stufen – das ist klar, das kann man an den Lauten, den Schreien, den Schlägen erkennen! Geht die Welt unter? Es war zu hören, wie sich die Leute aus allen Stockwerken auf der Treppe versammelten, man hörte Stimmen und Ausrufe, sie gingen hinauf, klopften, schlugen die Türen zu, liefen zusammen. »Aber wofür, wofür, wie kann man das nur!« wiederholte er vor sich hin, ernsthaft davon überzeugt, daß er den Verstand verloren hätte. Aber nein, er hört es zu deutlich! ... Also wird man wohl gleich auch zu ihm kom men, wenn es sich wirklich so verhält, – denn das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Mein Gott! – Er wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht heben ... das wäre ja auch nutzlos! Die Angst legte sich um seine Seele wie Eis, sie zermarterte ihn, sie ließ ihn vor Kälte erstarren ... Endlich schien dieser ganze Lärm, der mindestens zehn Minuten gedauert hatte, allmählich aufzuhören. Die Wirtin stöhnte und ächzte. Ilja Petrowitsch drohte und fluchte noch immer ... Endlich schien auch er ruhiger zu werden; nun ist er nicht mehr zu hören. »Ist er denn wirklich fortgegangen? Mein Gott!« Ja, da entfernt sich, noch immer stöhnend und weinend, die Wirtin ... da fällt auch schon ihre Tür ins Schloß ... Da zieht sich auch schon die Menge von der Treppe in ihre Wohnungen zurück, – die Leute jammern, streiten, wechseln Bemerkungen, die Stimmen bald zum Geschrei erhebend, bald zum Flüstertone dämpfend. Es waren ihrer wohl viele gewesen; fast das ganze Haus war zusammengelaufen. »Aber, mein Gott, ist denn das möglich! Und wozu, wozu war er hergekommen?«

Raskolnikow fiel entkräftet auf das Sofa, konnte aber die Augen nicht mehr schließen; so lag er etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, von einem so grenzenlosen Schrecken gepackt, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Plötzlich wurde sein Zimmer von einem grellen Schein erleuchtet: Nastasja kam mit einer Kerze und einem Teller Suppe zu ihm herein. Nachdem sie ihn aufmerksam betrachtet und festgestellt hatte, daß er nicht schlief, stellte sie die Kerze auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: Brot, Salz, einen Teller und Löffel ...

»Hast wohl seit gestern nichts gegessen. Hast dich den ganzen Tag herumgetrieben, im Fieber und Schüttelfrost.«

»Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?«

Sie sah ihn unverwandt an.

»Wer hat die Wirtin geschlagen?«

»Soeben ... vor einer halben Stunde, Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geprügelt? Und ... warum war er hergekommen?«

Nastasja betrachtete ihn schweigend mit gerunzelter Stirn und sah ihn lange so an. Dies wurde ihm unangenehm, es erschreckte ihn sogar.

»Nastasja, was schweigst du?« fragte er schließlich ängstlich mit schwacher Stimme.

»Das ist das Blut«, antwortete sie endlich leise wie vor sich hin.

»Blut! ... Was für ein Blut? ...« murmelte er erbleichend und zur Wand rückend.

Nastasja sah ihn noch immer schweigend an.

»Niemand hat die Wirtin geschlagen«, sagte sie wieder streng und bestimmt.

Er sah sie an und atmete kaum.

»Ich habe es selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich habe gesessen«, sagte er noch ängstlicher. »Ich habe lang zugehört ... Der Gehilfe des Revieraufsehers war hier ... Alle Leute aus allen Wohnungen waren auf der Treppe zusammengelaufen ...«

»Niemand war hier. Es ist das Blut, das aus dir schreit. Wenn es keinen Ausweg hat und gerinnt, so kommt einem mancherlei vor ... Wirst du essen, wie?«

 

Er gab keine Antwort. Nastasja stand noch immer vor ihm, sah ihn unverwandt an und ging nicht.

»Gib mir zu trinken ... Nastasjuschka.«

Sie ging hinunter und brachte nach zwei Minuten Wasser in einem weißen tönernen Becher; was weiter kam, erinnerte er sich nicht mehr. Er erinnerte sich nur noch, wie er einen Schluck kalten Wassers getrunken und den Inhalt des Bechers auf die Brust verschüttet hatte. Dann wurde er bewußtlos.

III

Man kann jedoch nicht sagen, daß er während seiner ganzen Krankheit bewußtlos geblieben wäre: es war ein fieberhafter Zustand mit Delirien und halbem Bewußtsein. An vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammele sich um ihn eine Menge von Menschen, die ihn nehmen und irgendwohin forttragen wollten; als stritten und zankten sie sich seinetwegen. Bald sah er sich allein im Zimmer; alle sind weggegangen und fürchten sich vor ihm und öffnen nur zuweilen die Tür, um nach ihm zu sehen; sie drohen ihm, vereinbaren etwas unter sich, lachen und necken ihn. Er erkannte oft Nastasja in seiner Nähe; er unterschied auch noch einen anderen Menschen, der ihm bekannt vorkam, wer es aber war, darauf konnte er unmöglich kommen; er litt darunter und weinte sogar. Zuweilen schien es ihm, daß er schon seit einem Monat liege: zuweilen aber, es sei noch immer der gleiche Tag. Aber jenes hatte er vollkommen vergessen; dafür war er sich fortwährend bewußt, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte vergessen dürfen, – er zermarterte sich und quälte sich, indem er sich dessen zu erinnern bemühte, er stöhnte, ihn packte Raserei oder eine schreckliche, unerträgliche Angst. Dann wollte er aufstehen, wollte weglaufen, doch jemand hielt ihn jedesmal mit Gewalt zurück, und er fiel wieder in Ohnmacht und Bewußtlosigkeit. Endlich kam er aber ganz zu sich.

Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde pflegte die Sonne an heiteren Tagen immer einen langen Streifen auf seiner rechten Wand zu malen und die Ecke an der Tür zu beleuchten. Vor seinem Bette standen Nastasja und noch ein Mensch, der ihn sehr neugierig betrachtete und den er gar nicht kannte. Es war ein junger Bursche in einem langen Rock, mit kleinem Bärtchen, dem Aussehen nach ein Kontordiener. Durch die halbgeöffnete Tür blickte die Wirtin herein. Raskolnikow erhob sich.

»Wer ist das, Nastasja?« fragte er, auf den Burschen zeigend.

»Schau, er ist zu sich gekommen!« sagte sie.

»Der Herr sind zu sich gekommen«, wiederholte der Kontordiener.

Als die Wirtin, die hereinblickte, merkte, daß er zu sich gekommen war, schloß sie sofort die Tür und verschwand. Sie war immer schüchtern gewesen, und alle Gespräche und Auseinandersetzungen waren ihr eine Last; sie war gegen vierzig, sehr dick und fett, hatte schwarze Augen und schwarze Brauen und war vor lauter Dicke und Faulheit gutmütig; ihr Gesicht war gar nicht übel. Dabei war sie von einer übertriebenen Schamhaftigkeit.

»Wer sind ... Sie?« fragte er weiter, sich an den Kontordiener selbst wendend. Doch im gleichen Augenblick wurde die Tür wieder weit geöffnet, und herein trat, ein wenig gebückt, da er sehr groß war, Rasumichin.

»Diese Schiffskajüte!« rief er beim Eintreten. »Jedesmal stoße ich mit der Stirn an. Das nennt sich auch Wohnung! Du bist aber zu dir gekommen, Bruder? Ich habe es eben von Paschenjka gehört.«

»Eben ist er zu sich gekommen«, sagte Nastasja.

»Eben sind der Herr zu sich gekommen«, bestätigte der Kontordiener mit einem Lächeln.

»Wer sind Sie?« fragte ihn plötzlich Rasumichin. »Ich, zum Beispiel, sehen Sie, ich bin Wrasumichin, nicht Rasumichin, wie mich alle nennen, sondern Wrasumichin, Student, Sohn eines Adligen, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?«

»Ich bin Diener in unserem Kontor, vom Kaufmann Schelopajew, ich komme in Geschäften.«

»Setzen Sie sich, bitte, auf diesen Stuhl.« Rasumichin selbst setzte sich auf den anderen Stuhl, an der anderen Seite des Tischchens. »Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist«, fuhr er fort, sich an Raskolnikow wendend. »Den vierten Tag ißt und trinkst du fast nichts. Wirklich, man mußte dir Tee mit einem Löffelchen eingeben. Ich brachte zweimal Sossimow her. Kannst du dich an Sossimow erinnern? Er hat dich aufmerksam untersucht und gleich gesagt, daß es nichts von Belang sei, – das Blut sei dir irgendwie in den Kopf gestiegen. Irgendeine Dummheit mit den Nerven, die Ration war ungenügend, sagt er, du hättest zu wenig Bier und Meerrettich bekommen, daher auch die Krankheit; es mache aber nichts, alles werde schon gut werden. Ein tüchtiger Kerl dieser Sossimow! Er fängt an, glänzender Arzt zu werden. Nun, ich halte Sie aber auf,« wandte er sich wieder an den Kontordiener, »wollen Sie erklären, was Sie wünschen? Ich muß dir sagen, Rodja, daß man schon zum zweitenmal aus dem Kontor kommt; nur ist es das vorige Mal nicht dieser gewesen, sondern ein anderer, und ich habe mit dem anderen gesprochen. Wer war denn vor Ihnen dagewesen?«

»Ich meine, es war vorgestern. Das war Alexej Ssemjonowitsch; er ist auch an unserem Kontor angestellt.«

»Er wird wohl etwas tüchtiger sein als Sie, was meinen Sie?«

»Jawohl, er ist wirklich etwas solider.«

»Das ist lobenswert. Nun, fahren Sie fort.«

»Sie bekommen durch unser Kontor von Afanassij Iwanowitsch Wachruschin, von dem Sie wohl mehr als einmal gehört haben, auf Wunsch Ihrer Frau Mama eine Geldüberweisung«, begann der Kontordiener, sich direkt an Raskolnikow wendend. »Falls Sie bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig Rubel einhändigen, da Ssemjon Ssemjonowitsch von Afanassij Iwanowitsch auf Wunsch Ihrer Frau Mama auf die gleiche Weise wie früher darüber benachrichtigt worden ist. Belieben Sie ihn zu kennen?«

»Ja ... ich weiß ... Wachruschin ...« sagte Raskolnikow nachdenklich.

»Hören Sie: er kennt den Kaufmann Wachruschin!« schrie Rasumichin. »Und er sollte nicht bei Bewußtsein sein? Übrigens merke ich jetzt, daß auch Sie ein tüchtiger Mensch sind. Nun! Kluge Reden hört man gern.«

»Ja, es stimmt, es ist von Wachruschin, Afanassij Iwanowitsch, auf Wunsch Ihrer Frau Mama, die Ihnen schon einmal auf die gleiche Weise Geld überwiesen hat; er hat es ihr auch diesmal nicht abgeschlagen und unseren Ssemjon Ssemjonowitsch von seiner Stadt aus beauftragt, Ihnen fünfunddreißig Rubel auszuzahlen, in Erwartung besserer Zeiten.«

»Dieses ›in Erwartung besserer Zeiten‹ ist Ihnen am besten gelungen; auch das von der ›Frau Mama‹ ist nicht übel. Nun, wie glauben Sie, ist er bei vollem Bewußtsein oder nicht, wie?«

»Mir kann es gleich sein. Wenn ich nur eine Quittung haben könnte.«

»Die wird er schon hinkritzeln. Haben Sie ein Buch mit, wie?«

»Jawohl, ein Buch, hier ist es.«

»Geben Sie es her. Nun Rodja, steh etwas auf. Ich werde dich stützen; schreib ihm den Raskolnikow hin, nimm die Feder, denn wir brauchen jetzt das Geld dringender als Sirup, Bruder.«

»Nicht nötig«, sagte Raskolnikow, die Feder von sich stoßend.

»Was ist nicht nötig?«

»Ich werde nicht unterschreiben.«

»Pfui Teufel, das geht doch nicht ohne Unterschrift!«

»Ich will ... das Geld nicht ...«

»Das Geld willst du nicht? Nein, Bruder, das ist Unsinn, ich bin Zeuge! Achten Sie bitte nicht darauf, daß er schon wieder ... voyagiert. Das kommt bei ihm übrigens auch im wachen Zustande vor ... Sie sind ein vernünftiger Mensch, und wir wollen ihn leiten, das heißt einfach seine Hand leiten, dann wird er schon unterschreiben. Nun, fassen Sie an ...«

»Ich kann übrigens auch ein anderes Mal kommen.«

»Nein, nein, warum sollen Sie sich die Mühe machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mensch ... Nun, Rodja, halt den Gast nicht auf ... du siehst doch, er wartet.« Und er schickte sich ernsthaft an, Raskolnikows Hand zu führen.

»Laß, ich will selbst ...« sagte jener, ergriff die Feder und setzte seine Unterschrift ins Buch.

Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging.

»Bravo! Und nun, Bruder, willst du essen?«

»Ich will«, antwortete Raskolnikow.

»Habt ihr Suppe?«

»Von gestern«, antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei gestanden hatte.

»Mit Kartoffeln und Reis?«

»Mit Kartoffeln und Reis.«

»Das weiß ich auswendig. Bring's her, bring auch Tee.«

»Ich bring es gleich.«

Raskolnikow verfolgte alles mit tiefem Erstaunen und einer stumpfen, sinnlosen Angst. Er entschloß sich zu schweigen und zu warten: was wird wohl weiter kommen? »Ich glaube, es ist kein Fiebertraum,« dachte er sich, »mir scheint, es ist Wirklichkeit ...«

Nach zwei Minuten kam Nastasja mit der Suppe und erklärte, daß gleich auch der Tee kommen würde. Zur Suppe brachte sie zwei Löffel, zwei Teller und alles, was dazu gehört: ein Salzfaß, eine Pfefferbüchse, Senf für das Fleisch und alles andere, in einer Ordnung, wie sie Raskolnikow schon lange nicht gesehen hatte. Das Tischtuch war sauber.

»Es wäre nicht schlecht, Nastasjuschka, wenn Praskowja Pawlowna an die zwei Flaschen Bier kommandieren wollte. Wir trinken sie schon aus.«

»Du bist mir gar zu fix!« brummte Nastasja und ging, den Befehl auszuführen.

Raskolnikow fuhr fort, mit gespannten, beinahe wahnsinnigen Blicken zu beobachten. Rasumichin setzte sich indessen zu ihm aufs Sofa herüber, umfaßte so plump wie ein Bär mit der linken Hand seinen Kopf, obwohl er sich selbst erheben konnte, und führte mit der Rechten einen Löffel Suppe an seinen Mund, nachdem er vorher ein paarmal darauf geblasen hatte, damit er sich nicht verbrühe. Die Suppe war aber nur lauwarm. Raskolnikow verschlang voll Gier erst einen Löffel, dann einen zweiten und einen dritten. Rasumichin hielt aber, nachdem er ihm einen Löffel gereicht hatte, plötzlich inne und erklärte, daß er sich wegen des ferneren mit Sossimow beraten müsse.

Nastasja brachte zwei Flaschen Bier.

»Willst du auch Tee?«

»Ja.«

»Bring mal schnell Tee her, Nastasja, denn Tee kann man ihm wohl auch ohne ein Fakultätsgutachten geben. Da ist aber auch das Bier!« Er setzte sich auf seinen Stuhl herüber, rückte die Suppe und das Fleisch zu sich heran und begann mit solchem Appetit zu essen, als hätte er seit drei Tagen nichts im Munde gehabt.

»Ich esse jetzt jeden Tag hier bei euch zu Mittag, Rodja«, murmelte er, soweit es ihm sein mit Fleisch vollgestopfter Mund erlaubte. »Und das ist alles ein Werk Paschenjkas, deiner lieben Wirtin, sie bezeugt mir ihre Achtung von ganzem Herzen. Ich bestehe natürlich nicht darauf, protestiere aber auch nicht. Da kommt aber schon Nastasja mit dem Tee! Wie fix die ist! Nastenjka, willst du Bier?«

»Zum Kuckuck!«

»Und Tee?«

»Tee – vielleicht.«

»Schenk ein. Wart, ich schenk dir selbst ein; setz dich an den Tisch.«

Er fing sofort zu wirtschaften an; er schenkte ein, schenkte dann auch noch eine zweite Tasse ein, ließ sein Essen stehen und setzte sich wieder aufs Sofa. Wie früher umschlang er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, hob ihn und fing an, ihm den Tee mit dem Löffelchen einzugeben, wobei er wieder fortwährend und besonders eifrig auf den Löffel blies, als liege in diesem Prozeß des Blasens das wichtigste und heilsame Moment der Genesung. Raskolnikow schwieg und wehrte sich nicht, obwohl er sich stark genug fühlte, um ohne fremde Hilfe aufzustehen und auf dem Sofa zu sitzen, vielleicht auch herumzugehen, und nicht nur, seine Hände so weit zu gebrauchen, um einen Löffel oder eine Tasse festhalten zu können. Aber aus einer seltsamen, beinahe tierischen Schlauheit heraus, kam ihm der Gedanke, vorderhand seine Kräfte zu verheimlichen, sich auf die Lauer zu legen; sich wenn nötig sogar so zu stellen, als verstünde er nichts, indessen aber zuzuhören und auszukundschaften, was eigentlich vorging. Übrigens konnte er seinen Widerwillen nicht zurückhalten: nachdem er an die zehn Löffel Tee getrunken hatte, befreite er plötzlich den Kopf, stieß den Löffel trotzig von sich und ließ sich wieder auf das Kissen fallen. Unter seinem Kopf lagen jetzt wirklich Kissen, – richtige Daunenkissen mit sauberen Überzügen; das merkte er gleich und nahm es zur Kenntnis.

»Paschenjka soll uns heute noch Himbeersaft schicken, damit wir ihm einen Trank bereiten«, sagte Rasumichin. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und machte sich an die Suppe und das Bier.

 

»Wo soll sie dir denn den Himbeersaft hernehmen?« fragte Nastasja, indem sie die Untertasse auf fünf gespreizten Fingern hielt und den Tee »durch den Zucker« schlürfte.

»Den Himbeersaft bekommt sie im Laden, mein Schatz. Siehst du, Rodja, als du noch bewußtlos warst, hat sich hier eine ganze Geschichte abgespielt. Als du in einer solchen verbrecherischen Weise von mir durchbranntest und mir deine Adresse nicht sagtest, packte mich solche Wut, daß ich beschloß, dich aufzusuchen und zu bestrafen. Am gleichen Tage machte ich mich ans Werk. Ich ging und ging und fragte und fragte. Deine jetzige Adresse hatte ich vergessen, ich hatte sie auch niemals gewußt. Und von deiner früheren Wohnung wußte ich nur, daß sie irgendwo an den Fünf Ecken im Hause Charlamow lag. Nun suchte und suchte ich dieses Charlamowsche Haus, und später zeigte es sich, daß es nicht von Charlamow, sondern von Buch war, – wie leicht kann man sich am Klange irren! Nun wurde ich böse. Ich wurde böse und ging am nächsten Tag auf gut Glück aufs polizeiliche Auskunftsbureau, und denk dir nur: in zwei Minuten hatten sie dich gefunden. Du bist dort eingetragen.«

»Eingetragen?!«

»Gewiß! Aber den General Kobeljow, den sie in meiner Gegenwart suchten, konnten sie unmöglich finden. Nun, davon könnte ich noch lange erzählen. Kaum war ich hier eingebrochen, als ich sofort alle deine Angelegenheiten kennen lernte; alles, Bruder, alles weiß ich jetzt; auch sie hat es gesehen: den Nikodim Fomitsch lernte ich kennen, auch den Ilja Petrowitsch zeigte man mir, den Hausknecht, den Herrn Samjotow, Alexander Grigorjewitsch, den Sekretär im hiesigen Polizeibureau und zuletzt Paschenjka – das war schon die Krone. Auch Nastasja weiß es ...«

»Hat sich bei ihr eingeschmeichelt«, murmelte Nastasja mit einem verschmitzten Lächeln.

»Tun Sie doch Zucker in Ihren Tee, Nastasja Nikiforojowna!«

»Hör auf, Hund!« rief plötzlich Nastasja schier berstend vor Lachen. »Ich heiße Petrowna und nicht Nikiforojowna«, fügte sie hinzu, als sie aufgehört hatte zu lachen.

»Das werden wir nach Gebühr schätzen. Also, Bruder, um es kurz zu sagen, – ich wollte hier zuerst einen elektrischen Strom loslassen, um alle Vorurteile in der hiesigen Gegend auf einmal auszurotten, aber Paschenjka hat gesiegt. Ich hatte gar nicht erwartet, Bruder, daß sie so ... einnehmend sei ... wie? Nun, was meinst du?«

Raskolnikow schwieg, obwohl er für keinen Augenblick seinen unruhigen Blick von ihm gewandt hatte und ihn auch jetzt noch starr ansah.

»Und zwar sehr einnehmend«, fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch sein Schweigen aus der Fassung bringen zu lassen, als stimme er einer erhaltenen Antwort zu. »Und sogar in bester Ordnung, in jeder Beziehung.«

»Ist das ein Kerl!« rief wieder Nastasja, der dieses Gespräch eine unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien.

»Schlimm ist es, Bruder, daß du die Sache nicht gleich von Anfang an richtig angepackt hast. Mit ihr hättest du ganz anders verfahren sollen. Sie hat ja sozusagen einen ganz unberechenbaren Charakter! Doch vom Charakter später ... Aber wie hast du es nur so weit bringen können, daß sie zum Beispiel wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel das mit dem Wechsel? Bist du von Sinnen, daß du Wechsel unterschreibst! Oder zum Beispiel diese beabsichtigte Heirat, als ihre Tochter Natalja Jegorowna noch am Leben war ... Ich weiß alles! Übrigens sehe ich, daß es ein heikles Thema ist und daß ich ein Esel bin; entschuldige! Doch zum Kapitel Dummheit: wie glaubst du, Praskowja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie man es auf den ersten Blick annimmt, wie?«

»Ja ...« sagte Raskolnikow durch die Zähne, auf die Seite blickend, doch einsehend, daß es für ihn vorteilhafter war, bei dem Thema zu bleiben.

»Nicht wahr?« rief Rasumichin, sichtlich erfreut, daß man ihm geantwortet hatte. »Aber sie ist auch nicht klug, nicht wahr? Ein vollkommen, vollkommen unberechenbarer Charakter! Ich bin zum Teil selbst verwirrt, ich versichere dir ... Ihre Vierzig hat sie sicher. Sie spricht von sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens schwöre ich dir, daß ich sie mehr geistig, bloß metaphysisch beurteile; zwischen uns ist so ein Emblem entstanden, schwieriger als jede Algebra! Ich verstehe gar nichts! Das sind aber Dummheiten; doch als sie sah, daß du kein Student mehr bist, daß du keine Stunden und keinen Anzug mehr hast und daß sie dich nach dem Tode ihrer Tochter nicht mehr verwandtschaftlich zu behandeln braucht, bekam sie plötzlich Angst; und da du deinerseits dich in dein Schneckenhaus verkrochst und alles Frühere abbrachst, fiel es ihr ein, dich aus der Wohnung hinauszuwerfen. Schon lange hatte sie diese Absicht, aber der Wechsel tat ihr leid. Zudem hattest du ja selbst versichert, daß deine Mama bezahlen wird ...«

»Das sagte ich aus lauter Niedertracht ... Meine Mutter muß beinahe selbst betteln ... und ich log, damit sie mich in der Wohnung behält und ... verpflegt«, sagte Raskolnikow laut und deutlich.

»Ja, das war vernünftig von dir. Die Sache war aber die, daß sie auf einen Herrn Tschebarow stieß, einen Hofrat und Geschäftsmann. Paschenjka hätte ohne seinen Rat nichts unternommen, denn sie ist gar zu schamhaft; der Geschäftsmann ist aber gar nicht schamhaft und stellte darum natürlich sofort die Frage: ist Hoffnung vorhanden, für den Wechsel Geld zu bekommen? Die Antwort lautete: es ist wohl Hoffnung vorhanden, denn es gibt eine solche Mama, die von ihren hundertfünfundzwanzig Rubeln Pension ihren lieben Rodja retten wird, selbst wenn sie verhungern müßte; außerdem gibt es noch ein Schwesterchen, das fürs Brüderchen jedes Joch auf sich nehmen wird. Darauf stützte er sich ... Was zappelst du? Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erforscht, nicht umsonst hast du alles selbst der Paschenjka ausgeplaudert, als du noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standst, ich aber sage dir das alles aus Liebe ... So ist es immer: der ehrliche und gefühlvolle Mensch erzählt offenherzig alle seine Geheimnisse, und der Geschäftsmann hört zu und verschlingt ihn zuletzt. So trat sie diesen Wechsel, angeblich gegen Bezahlung, diesem Tschebarow ab, und er klagte ihn in aller Form ein, genierte sich gar nicht. Als ich dies alles erfuhr, wollte ich ihm zur Beruhigung meines Gewissens auch einen Streich spielen, aber da entstand gerade zwischen mir und Paschenjka die Harmonie, und ich ließ diese ganze Affäre gleich im Keim unterdrücken, indem ich mich verbürgte, daß du zahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du es? Man ließ den Tschebarow kommen und gab ihm zehn Rubel, nahm ihm das Papierchen ab, und nun habe ich die Ehre, es Ihnen vorzulegen, – man glaubt Ihnen jetzt aufs Wort, – nehmen Sie es in Empfang, ich habe es, wie es sich gehört, eingerissen.«

Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikow sah ihn an und wandte sich, ohne ein Wort zu sagen, zur Wand. Das machte selbst auf Rasumichin einen unangenehmen Eindruck.

»Ich sehe, Bruder,« sagte er nach einer Minute, »daß ich wieder ein Dummkopf war. Ich wollte dich nur zerstreuen und mit dem Geplauder unterhalten, habe aber, wie es scheint, deine Galle in Wallung gebracht.«

»Warst du es, den ich im Fieber nicht erkennen konnte?« fragte Raskolnikow, ohne den Kopf zu wenden, nachdem auch er eine Weile geschwiegen hatte.

»Ja, mich, und Sie gerieten sogar aus diesem Anlasse in Wut, besonders, als ich einmal Samjotow herbrachte.«

»Samjotow? ... Den Sekretär? ... Wozu?« Raskolnikow wandte sich rasch um und bohrte seinen Blick in Rasumichin.

»Was hast du bloß ... Was bist du so aufgeregt? Er wollte dich kennen lernen ... er äußerte selbst den Wunsch, denn wir hatten viel über dich gesprochen ... Von wem hätte ich denn sonst so viel über dich erfahren können? Ein reizender Bursche ist er, Bruder, ein wundervoller Mensch ... in seiner Art, versteht sich. Jetzt sind wir Freunde und sehen uns beinahe jeden Tag. Ich bin ja in das gleiche Revier gezogen. Weißt du es noch nicht? Soeben bin ich umgezogen. Zweimal war ich mit ihm bei der Lawisa. Erinnerst du dich noch an die Lawisa Iwanowna?«