Schuld und Sühne

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»Ach, was!« versetzte Ilja Petrowitsch mit nobler Nonchalance (er sagte sogar nicht »was« sondern: »wa-«), indem er mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch ging; dabei zuckte er bei jedem Schritt höchst malerisch die Achseln, so daß jede Schulter die Bewegung des entsprechenden Fußes mitmachte. »Sehen Sie nur den da an: dieser Herr Schriftsteller, ich wollte sagen, das heißt, gewesener Student, zahlt seine Schulden nicht, hat Wechsel ausgestellt, will die Wohnung nicht räumen, fortwährend beklagt man sich über ihn, und dabei rümpft er die Nase, als ich mir erlaubte, mir in seiner Gegenwart eine Zigarette anzustecken! Die Leute begehen selbst allerlei Gemeinheiten; da sehen Sie sich aber den Herrn an: da steht er in seiner ganzen Schönheit!«

»Armut ist keine Schande, Freundchen, was fängt man aber mit dir an! Ich weiß es, du bist wie Schießpulver und kannst keine Beleidigung ertragen. Wahrscheinlich haben Sie sich durch ihn irgendwie verletzt gefühlt und sich nicht beherrschen können«, fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich freundlich an Raskolnikow wendend. »Aber das hätten Sie nicht tun sollen: er ist der e-del-ste Mensch, aber wie Schießpulver, wie Schießpulver! Er braust auf, schäumt, verbrennt und fertig! Und alles ist vorbei! Zuletzt bleibt nur das Gold seines Herzens! Auch im Regiment nannte man ihn ›Leutnant Schießpulver‹ ...«

»Und was war das für ein Rrregiment!« rief Ilja Petrowitsch aus, sehr zufrieden, daß man seinen Ehrgeiz so angenehm kitzelte, doch immer noch schmollend.

Raskolnikow spürte plötzlich Lust, ihnen allen etwas ungemein Angenehmes zu sagen.

»Erlauben Sie mal, Herr Hauptmann«, begann er recht ungezwungen, sich plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend. »Versetzen Sie sich doch mal in meine Lage ... Ich bin sogar bereit, den Herrn um Entschuldigung zu bitten, wenn ich mir zu viel herausgenommen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, niedergedrückt (er gebrauchte diesen Ausdruck: ›niedergedrückt‹) durch Armut. Ich bin augenblicklich nicht mehr Student, weil ich meinen Unterhalt nicht bezahlen kann, ich werde aber Geld bekommen ... Ich habe eine Mutter und eine Schwester im *–schen Gouvernement. Sie werden mir Geld schicken, und dann werde ich bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute Frau, sie ist aber so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren habe und seit vier Monaten nicht mehr zahle, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr gibt ... aber ich kann unmöglich verstehen, was das für ein Wechsel ist! Jetzt verlangt sie von mir Zahlung, aber was kann ich ihr bezahlen, urteilen Sie doch selbst! ...«

»Das ist aber nicht unsere Sache ...« bemerkte wieder der Sekretär.

»Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber lassen Sie mich Ihnen alles erklären«, fiel ihm Raskolnikow wieder ins Wort, sich nicht an den Sekretär, sondern immer noch an Nikodim Fomitsch wendend; dabei bemühte er sich aus aller Kraft, sich auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obwohl jener so tat, als suche er etwas in den Akten und schenke ihm keine Beachtung. »Erlauben Sie mir auch meinerseits zu erklären, daß ich bei ihr schon seit ungefähr drei Jahren wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz, und früher, früher ... warum soll ich es übrigens nicht gestehen, – ich hatte ihr ganz zu Anfang das Versprechen gegeben, ihre Tochter zu heiraten, ein mündliches, durchaus freies Versprechen ... Das Mädchen war ... sie gefiel mir sogar sehr gut ... obwohl ich nicht verliebt war ... mit einem Worte, meine Jugend, das heißt, ich will sagen, daß meine Wirtin mir damals einen großen Kredit einräumte, und ich führte zum Teil so ein Leben ... Ich war sehr leichtsinnig ...«

»Man verlangt von Ihnen keine Intimitäten, sehr verehrter Herr, außerdem haben wir keine Zeit«, versuchte ihn Ilja Petrowitsch roh und triumphierend zu unterbrechen; Raskolnikow fiel ihm aber leidenschaftlich ins Wort, obwohl es ihm gar nicht leicht war, zu sprechen.

»Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir doch, zum Teil alles zu erzählen ... wie die Sache war und ... auch meinerseits ... ich gebe übrigens zu, daß es überflüssig ist, davon zu erzählen ... aber vor einem Jahr ist das Mädchen an Typhus gestorben; ich aber blieb Zimmerherr, und meine Wirtin sagte mir, als sie in die neue Wohnung zog ... sagte mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen vertraue und alles ... ob ich ihr aber nicht einen Schuldschein über die hundertfünfzehn Rubel ausstellen wolle, die ich ihr noch schuldete. Erlauben Sie: sie sagte mir ausdrücklich, daß, wenn ich ihr dieses Papier gebe, sie mir jeden Kredit einräumen würde und daß sie niemals, niemals, – das sind ihre eigenen Worte – von diesem Papier Gebrauch machen werde, bis ich es selbst bezahle ... Und jetzt, wo ich die Stunden verloren und nichts zu essen habe, will sie den Betrag eintreiben lassen. Was soll ich dazu sagen?«

»Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, verehrter Herr«, schnitt Ilja Petrowitsch frech ab. »Sie müssen die Erklärung abgeben und die Verpflichtung unterschreiben; aber daß Sie geruht haben, verliebt zu sein, und alle diese tragischen Stellen gehen uns nichts an.«

»Nun, du, das ist schon ... grausam ...« murmelte Nikodim Fomitsch, indem er sich an den Tisch setzte und gleichfalls Papiere zu unterschreiben begann. Er schämte sich irgendwie.

»Schreiben Sie also«, sagte der Sekretär zu Raskolnikow.

»Was soll ich schreiben?« fragte jener besonders grob.

»Ich werde es Ihnen diktieren.«

Raskolnikow schien es, als hätte der Sekretär angefangen, ihn nach seiner Beichte geringschätziger und verächtlicher zu behandeln; doch seltsam: ihm war es plötzlich ganz gleich, was die andern von ihm hielten, und diese Veränderung vollzog sich in ihm augenblicklich, in einem Nu. Wenn er nur ein wenig nachgedacht hätte, so wäre er erstaunt, wie er es fertiggebracht hatte, mit ihnen vor einer Minute so zu sprechen und sich ihnen sogar mit seinen Gefühlen aufzudrängen. Und woher waren diese Gefühle gekommen? Jetzt aber, selbst wenn das Zimmer plötzlich nicht voller Revieraufseher, sondern voll seiner besten Freunde wäre, so hätte er wohl auch für sie kein einziges menschliches Wort finden können – so leer war plötzlich sein Herz geworden. Das finstere Gefühl einer qualvollen, unendlichen Vereinsamung regte sich plötzlich bewußt in seiner Seele. Es war nicht die Erniedrigung durch die Herzensergüsse vor Ilja Petrowitsch und auch nicht die Erniedrigung durch den Triumph des Leutnants über ihn, was diese Veränderung in seinem Herzen verursacht hatte. Ach, was ging ihn seine eigene Erniedrigung, was gingen ihn alle die Ehrbegriffe, Leutnants, Luisa Iwanownas, Wechselforderungen, Bureaus usw. an! Hätte man ihn jetzt zum Feuertode verurteilt, so hätte er sich auch dann nicht gerührt, hätte auch kaum das Urteil aufmerksam angehört. Mit ihm geschah etwas ihm völlig Unbekanntes, etwas Neues, Plötzliches, Niedagewesenes. Er begriff nicht – er empfand es deutlich, mit der ganzen Kraft seines Empfindens, daß es ihm unmöglich war, sich nicht nur mit Gefühlsausbrüchen, sondern womit es auch sei, an diese Menschen im Polizeibureau zu wenden; und wenn es auch seine leiblichen Brüder und keine Polizeileutnants wären – selbst dann hätte es keinen Sinn, sich an sie, unter welchen Lebensumständen es auch sei, zu wenden; bis zu diesem Augenblick hatte er noch nie diese seltsame und erschreckende Empfindung gehabt. Und was das Qualvollste war, – es war mehr eine Empfindung als eine Erkenntnis, als eine Einsicht; eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von allen, die er bisher im Leben gehabt hatte.

Der Sekretär begann ihm den Text der in solchen Fällen üblichen Erklärung zu diktieren, d.h.: zahlen kann ich nicht, verpflichte mich, dann und dann (später einmal) zu bezahlen; werde die Stadt nicht verlassen und mein Eigentum weder verkaufen noch verschenken usw.

»Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand«, bemerkte der Sekretär, Raskolnikow neugierig anblickend. »Sind Sie krank?«

»Ja ... der Kopf schwindelt mir ... fahren Sie fort!«

»Das ist alles. Unterschreiben Sie nur.«

Der Sekretär nahm ihm das Papier ab und machte sich an eine andere Arbeit.

Raskolnikow gab die Feder zurück, aber statt aufzustehen und wegzugehen, legte er beide Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Es war ihm, als wenn man ihm einen Nagel in den Scheitel hineintriebe. Ein seltsamer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn: sofort aufstehen, auf Nikodim Fomitsch zugehen und ihm alles Gestrige erzählen, alles bis zur letzten Einzelheit; dann mit ihm zusammen in seine Wohnung gehen und ihm die Sachen in der Ecke, im Loch zeigen. Der Drang dazu war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen. »Soll ich es mir nicht noch eine Minute überlegen?« ging es ihm durch den Kopf. »Nein, besser ohne nachzudenken, und die Sache ist erledigt!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Nikodim Fomitsch erzählte etwas mit großem Feuer Ilja Petrowitsch, und folgende Worte erreichten sein Ohr:

»Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens sind zu viel Widersprüche da; urteilen Sie doch selbst: wozu brauchten Sie den Hausknecht zu rufen, wenn es ihr Werk ist? Etwa um sich selbst anzuzeigen? Oder war es eine List? Nein, das wäre schon zu schlau! Schließlich wurde der Student Pestrjakow im selben Augenblick, als er eintrat, dicht vor dem Tore von den beiden Hausknechten und von der Kleinbürgerin gesehen; er ging mit drei Freunden, von denen er sich vor dem Tore trennte, und erkundigte sich in Gegenwart dieser Freunde bei den Hausknechten nach der Wohnung. Nun, wird ein Mensch nach der Wohnung fragen, wenn er mit einer solchen Absicht gekommen ist? Was aber Koch betrifft, so hat er, bevor er zu der Alten hinaufging, eine halbe Stunde unten beim Silberschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht zu der Alten hinaufgegangen. Überlegen Sie es sich jetzt ...«

 

»Aber erlauben Sie, wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sie behaupten selbst, daß sie geklopft haben und daß die Tür verschlossen war, als sie aber nach drei Minuten mit dem Hausknecht kamen, war die Tür plötzlich offen?«

»Das ist eben der Witz: der Mörder hatte sich unbedingt in der Wohnung eingeschlossen, und man hätte ihn dort ganz gewiß erwischt, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte und nicht selbst nach dem Hausknecht gegangen wäre. Er aber ging gerade in der Zwischenzeit die Treppe hinunter und schlüpfte irgendwie an ihnen vorbei. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: ›Wäre ich dort geblieben,‹ sagt er, ›so wäre er herausgesprungen und hätte mich mit einer Axt erschlagen.‹ Er will sogar einen russischen Dankgottesdienst abhalten lassen, ha-ha!..«

»Den Mörder hat aber niemand gesehen?«

»Wie konnte man ihn auch sehen? Das Haus ist eine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platz aus zuhörte.

»Die Sache ist klar, die Sache ist klar!« wiederholte Nikodim Fomitsch mit großem Eifer.

»Nein, die Sache ist sehr unklar«, entgegnete Ilja Petrowitsch.

Raskolnikow hob seinen Hut auf und ging zur Tür, aber er erreichte die Tür nicht ...

Als er zu sich kam, sah er sich auf einem Stuhle sitzen: von rechts stützte ihn irgendein Mann, links stand ein anderer Mann mit einem gelben, mit gelbem Wasser gefüllten Glase in der Hand; Nikodim Fomitsch stand vor ihm und sah ihn unverwandt an. Er erhob sich vom Stuhl.

»Was haben Sie, sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch ziemlich scharf.

»Schon beim Unterschreiben konnte der Herr kaum die Feder bewegen«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder auf seinen Platz setzte und die Akten vornahm.

»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platz, gleichfalls in Akten blätternd.

Auch er hatte selbstverständlich den Kranken betrachtet, als er ohnmächtig war, hatte sich aber sofort zurückgezogen, als jener zu sich kam.

»Seit gestern ...« murmelte Raskolnikow zur Antwort.

»Sind Sie gestern ausgegangen?«

»Ja.«

»Obwohl Sie krank waren?«

»Ja.«

»Um wieviel Uhr?«

»Gegen acht abends.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

»Über die Straße.«

»Kurz und bündig.«

Raskolnikow gab seine Antworten scharf und kurz, so bleich wie ein Taschentuch, ohne seine schwarzen entzündeten Augen vor den Blicken Ilja Petrowitschs zu senken.

»Er steht kaum auf den Beinen, und du ...« bemerkte Nikodim Fomitsch.

»Macht gar nichts!« sagte Ilja Petrowitsch in einem eigentümlichen Tone.

Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, blickte aber den Sekretär an, der ihn gleichfalls sehr aufmerksam ansah, und sagte nichts. Plötzlich waren alle verstummt. Es war sehr sonderbar.

»Nun, schön,« schloß Ilja Petrowitsch, »wir wollen Sie nicht aufhalten.«

Raskolnikow ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Weggehen plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch tönte ...

Auf der Straße kam er ganz zu sich.

»Eine Haussuchung, jetzt gleich kommt die Haussuchung!« wiederholte er vor sich hin und beeilte sich, sein Haus zu erreichen. »Diese Räuber! Sie verdächtigen mich!« Die frühere Angst packte ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen.

II

»Was, wenn die Haussuchung schon gewesen ist? Wenn ich sie bei mir antreffe?«

Da ist aber schon sein Zimmer. Nichts und niemand; niemand hat hereingeblickt. Selbst Nastasja hat nichts angerührt ... Aber, Gott! Wie konnte er bloß vorhin alle diese Sachen in diesem Loche zurücklassen?

Er stürzte in die Ecke, steckte die Hand unter die Tapete und begann die Sachen hervorzuholen und sie sich in die Taschen zu stopfen. Es waren im ganzen, wie er jetzt sah, acht Stück: zwei kleine Schächtelchen mit Ohrringen oder ähnlichen Dingen, – er hatte sie nicht genau untersucht; dann vier kleine Etuis aus Safian. Eine Uhrkette war einfach in Zeitungspapier eingewickelt. Dann war noch ein Gegenstand in Zeitungspapier, wohl ein Orden ...

Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Mantel und in die noch übriggebliebene rechte Hosentasche, wobei er sich Mühe gab, die Sachen so zu verteilen, daß man von außen nichts sehen konnte. Den Beutel nahm er mit den übrigen Sachen mit. Dann ging er aus dem Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offenstehen.

Er ging schnell und sicher, obwohl er sich am ganzen Leibe zerschlagen fühlte, aber sein Bewußtsein war klar. Er fürchtete, daß man ihn verfolgen würde, daß vielleicht schon nach einer Viertelstunde der Befehl ergehen würde, ihn zu beobachten; also mußte er um jeden Preis, noch solange er Zeit hatte, alle Spuren verwischen. Er mußte es erledigen, solange er noch etwas Kraft und Überlegung hatte ... Wohin sollte er aber gehen?

Das war schon längst beschlossen: »Alles in den Kanal werfen, und die Sache ist erledigt.« Das hatte er noch nachts im Fieber beschlossen, in den Augenblicken – er konnte sich ihrer noch erinnern –, als er einige Male aufzustehen und fortzugehen versuchte: »Schneller, schneller, alles fortwerfen!« Es zeigte sich aber, daß es sehr schwer war, die Sachen fortzuwerfen.

Er ging schon seit einer halben Stunde, vielleicht auch länger, am Kai des Katharinenkanals auf und ab und blickte auf die zum Kanal hinabführenden Stufen, sooft er an solchen vorüberging. Er durfte aber nicht mal daran denken, seinen Plan auszuführen: entweder lagen dicht vor den Stufen Flöße, auf denen Wäscherinnen ihre Arbeit verrichteten, oder Kähne, überall wimmelte es von Menschen, und von allen Seiten konnte man es sehen und ihn sich merken; es ist doch verdächtig, daß ein Mensch absichtlich hinabgegangen und stehengeblieben ist und etwas ins Wasser wirft. Und wenn die Etuis nicht untergehen, sondern weiterschwimmen? Natürlich wird es so sein. Ein jeder wird es sehen. Schon ohnehin schauen ihn die Leute so aufmerksam an, als ob sie sich nur für ihn allein interessierten. »Warum ist das so, oder kommt es mir nur so vor?« dachte er.

Endlich fiel es ihm ein, daß es vielleicht besser wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen. Dort sind weniger Menschen, dort ließe es sich weniger auffällig und jedenfalls bequemer machen, und, was wohl das wichtigste ist, das wäre weit weg von hier. Und plötzlich staunte er: eine halbe Stunde war er voller banger Unruhe an dieser gefährlichen Stelle herumgegangen und hatte an diese Möglichkeit gar nicht gedacht. Eine volle halbe Stunde hatte er für dieses unsinnige Beginnen geopfert, nur weil es einmal im Traume, im Fieber so beschlossen war! Er wurde immer zerstreuter und vergeßlicher, und er wußte das. Er mußte sich unbedingt beeilen!

Er ging zur Newa durch den W–schen Prospekt; unterwegs kam ihm aber plötzlich ein neuer Gedanke! »Warum zur Newa? Warum ins Wasser? Wäre es nicht besser, irgendwohin sehr weit hinzugehen, vielleicht wieder auf die Inseln und dort alles im Walde unter einem Busche zu verscharren und sich vielleicht auch den Baum zu merken?« Obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblick nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu überlegen, erschien ihm dieser Gedanke fehlerlos.

Aber es war ihm auch nicht beschieden, auf die Inseln zu kommen, es geschah etwas anderes: als er vom W–schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er plötzlich linker Hand den Eingang in einen von lauter blinden Mauern eingeschlossenen Hof. Rechts, gleich vom Eingange zog sich tief in den Hof hinein die blinde, ungetünchte Mauer eines dreistöckigen Nachbarhauses. Links, parallel zu der blinden Mauer, zog sich, gleichfalls beim Tore beginnend, etwa zwanzig Schritte in die Tiefe des Hofes hinein, ein Bretterzaun, der dann nach links abbog. Es war ein leerer eingezäunter Platz, wo allerlei Materialien lagen. Weiter, in der Tiefe des Hofes, sah hinter dem Zaune die Ecke eines niedrigen, verrauchten, gemauerten Schuppens hervor, offenbar der Teil einer Werkstätte. Hier befand sich wohl eine Wagnerei oder eine Schlosserei oder etwas ähnliches; überall, fast beim Tore beginnend, lag schwarzer Kohlenstaub. »Hier könnte ich es wegwerfen und dann fortgehen!« kam es ihm in den Sinn. Da er im Hofe keinen Menschen bemerkte, schlüpfte er in das Tor und erblickte sofort dicht beim Tore eine am Zaune angebrachte Rinne (solche Rinnen werden oft in den Höfen angebracht, wo es viele Arbeiter, Angestellte, Fuhrleute usw. gibt); über der Rinne war am Zaune mit Kreide höchst unorthographisch der übliche Witz geschrieben: »Hier ist es verboten, stehen zu bleiben.« Das hatte auch den Vorteil, daß es keinen Verdacht erregte: er ist einfach hereingegangen und ist stehengeblieben. »Alles auf einmal in einen Haufen werfen und fortgehen!«

Als er sich noch einmal umgesehen und die Hand schon in die Tasche gesteckt hatte, erblickte er plötzlich dicht an der Außenmauer, zwischen dem Tor und der Rinne, wo der Zwischenraum höchstens einen Arschin breit war, einen großen unbehauenen Stein, der etwa eineinhalb Pud schwer sein mochte und direkt an der Straßenmauer lag. Hinter dieser Mauer lagen die Straße und der Bürgersteig, und er konnte die vielen Leute vorbeigehen hören, die es hier immer gab; doch hinter dem Tore konnte ihn niemand bemerken, höchstens wenn jemand von der Straße hereinkäme, was übrigens leicht passieren konnte, und darum mußte er sich beeilen.

Er beugte sich zum Stein, packte ihn oben fest mit beiden Händen, nahm alle seine Kräfte zusammen und drehte den Stein um. Unter dem Steine bildete sich eine kleine Vertiefung: er begann sofort alle Gegenstände aus seiner Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam ganz oben zu liegen, und doch blieb in der Vertiefung noch Platz. Darauf packte er wieder den Stein, drehte ihn mit einem Ruck um, so daß er wieder an den alten Platz zu liegen kam und vielleicht nur ein wenig in die Höhe geschoben schien. Er scharrte aber etwas Erde zusammen und drückte sie mit dem Fuße am Rande fest. Nun war nichts mehr zu sehen.

Dann verließ er den Hof und ging auf den Platz zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick eine starke, beinahe unerträgliche Freude, wie vorhin im Polizeibureau. »Alle Spuren sind verwischt! Wem wird jetzt einfallen, unter diesem Stein zu suchen? Er liegt hier vielleicht seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebenso lange liegen. Und wenn man es auch findet: wer wird auf mich kommen? Alles ist erledigt! Es gibt keine Indizien!« Und er fing zu lachen an. Ja, er erinnerte sich später, daß er in ein nervöses, vibrierendes, lautloses, langes Lachen ausgebrochen war und so lange gelacht hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K–schen Boulevard erreichte, wo er vorgestern jenem Mädchen begegnet war, verging ihm das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Sinn. Es kam ihm sogar vor, daß es ihm ekelhaft sein müsse, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das Mädchen gegangen war, gesessen und nachgedacht hatte; daß es ihm auch schrecklich sein würde, jenem Schutzmann zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben hatte. »Hol ihn der Teufel!«

Er ging und blickte zerstreut und gehässig um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen Punkt, den Hauptpunkt – und er fühlte selbst, daß es wirklich der Hauptpunkt sei und daß er jetzt, gerade jetzt, vor diesem Hauptpunkte stehe – und das sogar zum erstenmal seit diesen zwei Monaten.

»Hol alles der Teufel!« sagte er sich plötzlich in einem Anfalle unerschöpflicher, Wut. »Nun, wenn es begonnen hat, so hat es eben begonnen, mag der Teufel das neue Leben holen! Mein Gott, wie dumm ist doch das alles! ... Und wieviel habe ich zusammengelogen, wie gemein habe ich mich heute benommen! Wie häßlich habe ich vorhin vor dem niederträchtigen Ilja Petrowitsch scharwenzelt und mich erniedrigt! Übrigens ist alles Unsinn ... Ich spucke auf sie alle und auch auf das, daß ich scharwenzelt und mich erniedrigt habe! Das ist es nicht, das ist es gar nicht!«

Plötzlich blieb er stehen; eine neue, völlig unerwartete und äußerst einfache Frage brachte ihn auf einmal aus der Fassung und verblüffte ihn bitter:

»Wenn du diese ganze Sache wirklich bewußt und nicht wie ein Narr gemacht hast, wenn du wirklich ein bestimmtes und festes Ziel gehabt hast, warum hast du bisher nicht mal in den Beutel hineingeschaut und weißt nicht, was dir zugefallen ist und weswegen du alle Qualen auf dich genommen und dich mit vollem Bewußtsein zu einer so gemeinen, häßlichen und niedrigen Tat entschlossen hast? Du wolltest doch eben den Beutel mit den anderen Sachen, die du gleichfalls nicht gesehen hast, ins Wasser werfen ... Wie ist es nun?«

 

Ja, es ist so; alles ist so. Er hatte es übrigens auch vorher gewußt, und die Frage war für ihn gar nicht neu; und als es damals in der Nacht beschlossen wurde, alles ins Wasser zu werfen, so war es ohne jedes Schwanken und ohne Widerspruch beschlossen worden, vielmehr so, als hätte es so sein müssen, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er hatte das alles gewußt und alles verstanden; vielleicht schon gestern war es so beschlossen, im gleichen Augenblick, als er über der Truhe hockte und aus ihr die Etuis herausholte ... Es ist doch so! ...

»Es kommt daher, weil ich sehr krank bin,« entschied er plötzlich finster, »ich habe mich selbst zermartert, und ich weiß selbst nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit habe ich mich gemartert ... Wenn ich gesund werde, werde ich mich nicht mehr martern ... Wenn ich aber nicht gesund werde? Mein Gott, wie habe ich das alles satt!« Er ging, ohne stehen zu bleiben. Er wollte so furchtbar gern sich irgendwie zerstreuen, wußte aber nicht, was zu tun, was zu unternehmen. Eine neue, unüberwindliche Empfindung bemächtigte sich seiner von Augenblick zu Augenblick stärker; es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel vor allem, was ihm begegnete und ihn umgab, ein hartnäckiger, boshafter, gehässiger Widerwille. Alle Menschen, denen er begegnete, waren ihm ekelhaft – ekelhaft waren ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Er wäre imstande, jeden von ihnen anzuspeien oder zu beißen, der ihn angesprochen hätte ...

Er blieb plötzlich stehen, als er den Kai der Kleinen Newa auf der Wassiljewskij-Insel dicht bei der Brücke erreicht hatte. »Hier wohnt er, in diesem Hause«, sagte er sich. »Was, bin ich gar zu Rasumichin gekommen?! Wieder dieselbe Geschichte wie damals ... Es ist doch immerhin interessant: ob ich mit Absicht hergekommen bin oder mich nur zufällig verirrt habe? Ich habe doch sowieso damals ... vorgestern ... gesagt, daß ich ihn ... am andern Tage nach dem aufsuchen werde; nun, ich werde zu ihm hinaufschauen! Als ob ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen dürfte ...«

Er stieg zu Rasumichin in den vierten Stock hinauf.

Jener war daheim, in seiner Kammer; er war gerade mit Schreiben beschäftigt und hatte ihm selbst geöffnet. An die vier Monate hatten sie sich nicht gesehen. Rasumichin trug zu Hause einen vollkommen zerfetzten Schlafrock und Pantoffeln auf den bloßen Füßen und war zerzaust, unrasiert und ungewaschen. Sein Gesicht drückte großes Erstaunen aus.

»Was hast du?« rief er aus, indem er seinen Freund vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Dann verstummte er und stieß einen Pfiff aus.

»Steht es denn wirklich so schlecht? Du hast unsereins übertroffen, mein Bester«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Setz dich doch, du bist wohl müde!«

Und als jener sich in sein wachstuchüberzogenes türkisches Sofa fallen ließ, das in einem noch schlimmeren Zustande war als das seinige, merkte Rasumichin plötzlich, daß sein Gast krank war.

»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«

Er begann seinen Puls zu fühlen; Raskolnikow entriß ihm aber die Hand.

»Laß das«, sagte er, »ich bin gekommen ... es ist folgendes ... ich habe gar keine Stunden ... ich wollte ... es ist mir übrigens nicht um die Stunden zu tun ...«

»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam betrachtete.

»Nein, ich phantasiere nicht ...«

Raskolnikow erhob sich vom Sofa. Als er zu Rasumichin hinaufging, dachte er nicht daran, daß er ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde. Doch jetzt erfaßte er, durch die Erfahrung belehrt, daß er in diesem Augenblick am allerwenigsten fähig sei, irgend jemand auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine ganze Galle stieg in ihm auf. Er er stickte beinahe vor Wut über sich selbst, daß er über Rasumichins Schwelle getreten war.

»Leb wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.

»Warte doch, warte, du komischer Mensch!«

»Laß das! ...« wiederholte jener und riß wieder seine Hand los.

»Zum Teufel, warum bist du dann hergekommen? Bist du verrückt? Das ist ja ... beinahe beleidigend. Ich lasse dich nicht so ...«

»Also höre: Ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir keinen Menschen kenne, der mir helfen könnte ... anzufangen ... weil du besser, das heißt klüger bist als sie alle und alles erwägen kannst ... Jetzt sehe ich aber, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts ... weder einen Dienst noch Teilnahme ... Ich will selbst ... allein ... Nun, es ist genug! Laß mich in Ruhe!«

»Aber wart' einen Augenblick, du Schornsteinfeger. Du bist ganz von Sinnen! Von mir aus kannst du tun, was du willst. Siehst du, ich habe keine Stunden, und ich pfeife drauf, doch auf dem Trödlermarkte gibt es den Buchhändler Cheruwimow, dieser ist auch eine Stunde seiner Art. Jetzt gebe ich ihn auch für fünf Stunden in Kaufmannshäusern nicht her. Er gibt so allerlei kleine Sachen und naturwissenschaftliche Bücher heraus, und wie die gehen! Was schon die Titel allein wert sind! Du hast immer behauptet, ich sei dumm; bei Gott, Bruder, es gibt Menschen, die noch dümmer sind als ich! Jetzt macht er sogar Tendenzliteratur; er hat davon zwar keinen blauen Dunst, und ich sporne ihn natürlich an. Hier sind etwas mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach die dümmste Scharlatanerie; mit einem Wort, es wird hier die Frage untersucht, ob die Frau ein Mensch sei oder nicht. Natürlich wird zuletzt sehr feierlich erklärt, sie sei ein Mensch. Cheruwimow bringt das als Beitrag zur Frauenfrage; ich mache die Übersetzung; er wird diese zweiundeinhalb Bogen auf sechs Bogen breitziehen, wir werden einen prunkvollen Titel, der eine halbe Seite füllen wird, erfinden und es zu fünfzig Kopeken verkaufen. Es findet schon seinen Absatz! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel für den Bogen, für das Ganze also an die fünfzehn Rubel, sechs Rubel habe ich mir im voraus bezahlen lassen. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, ein Buch über die Walfische zu übersetzen, dann haben wir uns im zweiten Band der ›Confessions‹ einige langweilige Klatschgeschichten angemerkt und werden auch sie übersetzen; dem Cheruwimow hat jemand gesagt, Rousseau sei eine Art Radischtschew. Ich widerspreche ihm natürlich nicht, hol ihn der Teufel! Nun, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du willst, so nimm gleich den Text, auch Papier und Federn – das wird alles vom Verleger beigestellt – nimm auch die drei Rubel: da ich die ganze Übersetzung für den ersten und zweiten Bogen vorausgezahlt bekommen habe, so kommen auf deinen Teil gerade drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, kriegst du noch drei Rubel. Und dann noch eins: halte es bitte nicht für einen Dienst meinerseits. Im Gegenteil: gleich als du hereinkamst, sagte ich mir, womit du mir nützlich sein kannst. Ich bin erstens in der Orthographie nicht ganz sicher und zweitens im Deutschen oft sehr schwach, so daß ich meistens einfach dichte und mich nur damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Wer kann es aber wissen – vielleicht wird es gar nicht besser, sondern schlechter ... Nimmst du es oder nicht?«

Raskolnikow nahm schweigend die deutschen Textseiten, nahm auch die drei Rubel und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Rasumichin sah ihm erstaunt nach. Als Raskolnikow schon bei der Ersten Linie war, kehrte er um, stieg wieder zu Rasumichin hinauf, legte ihm die deutschen Seiten und die drei Rubel auf den Tisch und ging, wieder ohne ein Wort zu sagen, hinaus.