Als der Bär am Zelt anklopfte

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

ALS WIR UNSERE LEKTION LERNTEN

Flo: Okay. Wir haben es anscheinend etwas übertrieben – alle Anzeichen sprechen dafür, auch wenn wir diese im derzeitigen Zustand nicht mehr richtig deuten können: Klaras Sinne sind nicht mehr fähig einzuordnen, ob sie sich auf oder neben der Piste befindet, während mir nicht mehr auffällt, dass ich gleichzeitig bremse und in die Pedale trete. Im trüben Licht der Mitternachtssonne streunen wir über das isländische Hochland, um die rettenden heißen Quellen des einzigen Camps weit und breit, Hveravellir, und vor allem das dringend benötigte Trinkwasser zu erreichen. In die missliche Lage haben wir uns wieder mal höchstpersönlich manövriert, da wir als vermeintliche Radreiseprofis keine genaue Routenplanung vorgenommen hatten (sehr schlau, ich weiß). „Schließlich sind wir sowieso nur zwei Wochen hier, was soll da schon großartig passieren?“, dachten wir hochnäsig. So fahren wir also von Abenteuerlust getrieben ein Stückchen in die Kjölur hinein, um zu schauen, wie so eine isländische Hochlandpiste aussieht. Mit ein bisschen weniger Luft in den Reifen, um etwas mehr Dämpfung zu erzeugen, so reden wir uns ein, würde das schon gehen – ein Stückchen zumindest und dann könnten wir ja jederzeit auch wieder umdrehen. So ignorieren wir unsere mickrigen Essensvorräte und die Tatsache, keine Ahnung über die Trinkwasserversorgung entlang der Route zu haben.

„Schön ist es hier schon“, stellen wir nach den ersten Kilometern steil bergauf und bei Nieselregen fest und negieren unsere Zweifel. Als wir zwei anderen Radfahrern begegnen, fragen wir sie etwas blauäugig, ob es auf dem Weg etwas zu essen gäbe und sich die Strecke tatsächlich lohnen würde. Die beiden sehen uns kritisch-irritiert an, doch davon lassen wir uns nicht einschüchtern. Das angepriesene Café, einige Kilometer entfernt, verleiht uns zusätzlichen Elan, zumindest psychisch. Denn rein aus physikalischen Gründen entspricht ein Tempo von 7 km/h hier schon fast Lichtgeschwindigkeit – und zwar bergauf und bergab (!). Schließlich ist die rutschige Wellblechpiste teilweise mit kopfgroßen Steinen und unzähligen Schlaglöchern ausgestattet.

Das Café, ein besonders niedliches aus weißen Holzlatten, gibt es zum Glück tatsächlich. Eine Oase inmitten wilder Natur, umgeben von reißenden Bächen, weiten Ebenen und den mächtigen Felsen des Langjökulls und des Hofsjökulls, zwei Bergmassive, deren Gletscher milchig graue Seen speisen. Und das Beste am Café: Wir erleben unsere fünf Minuten Ruhm! Wir fühlen uns wie Helden – zumindest für einen kurzen Moment. Dann nämlich, als eine Gruppe österreichischer Bustouristen zu uns stößt und uns, ob unserer – zugegebenermaßen noch nicht ganz vollbrachten Leistung – in den Himmel lobt. Ein mitgereister Hobbyjournalist interviewt uns sogar für seine Zeitung und notiert eifrig unsere Antworten. Anfangs ist uns der Rummel etwas peinlich, aber nach kurzer Zeit fühlt es sich nach den Strapazen doch recht angenehm an, so im Mittelpunkt zu stehen. Wir werden ganz überdreht und flicken vor den Augen unserer Bewunderer auch noch bestens gelaunt einen platten Reifen. „Alles kein Problem für uns!“, denken wir motiviert. Als sich die Gruppe dann verabschiedet, wird es still und wir sind wieder allein. Der Gegenwind ist nebensächlich, da wir die magische Schallmauer von 10 km/h ja sowieso nicht durchbrechen können. Schnell werden wir auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt und wissen wieder, dass wir diese Reise sicher nicht für die Anerkennung anderer machen wollen, sondern nur für uns. Schließlich haben wir uns zu dieser Auszeit entschlossen, um viel Zeit draußen in der Natur genießen zu können.

Und diese Zeit brauchen wir auch dringend, um heute noch vor Mitternacht die heißen Quellen und den angrenzenden Campingplatz zu erreichen. Wir holpern weiter entlang der Hochlandpiste, über große Steine und durch tiefe Furten, ohne zu wissen, wann das Martyrium endlich ein Ende haben wird. Mehrmals sind wir knapp davor, für diesen Tag aufzugeben und das Zelt einfach im Nirgendwo aufzubauen, weil wir keine Kraft mehr haben. Als wir am Straßenrand unsere letzten Reserven verkochen, setzt nach einer kurzen Trockenphase auch noch starker Regen ein. Es ist kalt, es ist nass und wir fragen uns ernsthaft, was wir uns hier eingebrockt haben. Eigentlich reicht es uns jetzt endgültig, denn wir sind körperlich und nervlich fertig und können kaum noch klar denken. Doch uns bleibt keine Wahl: Das Wissen um die Wasserknappheit treibt uns voran. Und auch die Aussicht auf ein wärmendes Bad kann uns noch ein letztes Mal motivieren. Wir legen den Schalter im Kopf um, stellen auf Automatikmodus und wissen nicht mehr, was unser Körper eigentlich genau macht. So nehme ich auch die Vollkörperdusche eines durch eine riesige Pfütze vorbeifahrenden Geländewagens gelassen hin. Nach elf Stunden Anstrengung kostet mich das nur noch einen kurzen Seufzer (na ja, genug Kraft, um ihm den Mittelfinger zu zeigen, ist dann doch noch vorhanden).

Mittlerweile tut mir Klara schon leid. Für sie ist dieser Beginn der Reise ja noch viel anstrengender als für mich, schließlich haben wir ja eine etwas unterschiedliche sportliche Vergangenheit. Lief ich zuvor als semiprofessioneller Läufer an die 200 Kilometer wöchentlich, begnügte sich Klaras Training mit dem geradelten Arbeitsweg und sporadischen Laufeinheiten entlang der Donau. Wie sie die konditionelle Herausforderung während der ganzen Reise meistert, ist mir sowieso ein Rätsel. Zu Beginn frage ich mich des Öfteren, ob ich etwas falsch gemacht habe, da sie so locker mithält – wenn auch meist im Windschatten (diesen auszunutzen hat sie perfektioniert). Jetzt leidet sie aber und erste Tränen fließen. Ich merke, wie sie sich anstrengt und sich zusammenreißt – wie gerne würde ich ihr jetzt helfen und kann doch nichts für sie tun.

Endlich mache ich im seichten Licht die Silhouetten der dampfenden Quellen aus und versuche, sie damit zu trösten. Und tatsächlich: Mit etwas Verspätung (es ist jetzt ein Uhr nachts) erreichen wir den Campingplatz von Hveravellir. Die längsten und härtesten 70 Kilometer, die wir jemals gefahren sind, liegen hinter uns! Nach einem ausgiebigen Bad in den heißen Quellen fallen wir in einen komaähnlichen Tiefschlaf und hoffen unsere Lektion gelernt zu haben.


Der mächtige Gullfoss, eine der Hauptsehenswürdigkeiten Islands

Am nächsten Morgen müssen wir hurtig weiter, uns würde sonst das Essen ausgehen, denn weit und breit ist keine Siedlung zu sehen. Zudem treibt uns die Sturmwarnung eines Jeeptouristen voran. Die Straße ist nun etwas leichter befahrbar und der Rückenwind enorm. Der wirkliche Sturm beginnt zum Glück erst, als wir uns mit Nudeln im Zelt verbarrikadiert haben. In der Nacht fragen wir uns mehrmals, ob wir samt Zelt schon abgehoben haben. Die Straße wird tags darauf zunehmend besser, und als wir dann Asphalt unter unseren Rädern haben, ist die Welt wieder in Ordnung. Bei der anschließenden heißen Tasse Kaffee in einer Tankstelle ist sie sogar wieder perfekt und wir denken uns: „Ach, so schlimm war das Ganze doch eigentlich gar nicht. Irgendwie hat es sich sogar gelohnt, etwas chaotisch zu sein, denn hätten wir gewusst, was da auf uns zukommt, hätten wir dieses Abenteuer sicher nicht gewagt.“

DU BIST EIN ISLÄNDER!

Klara: Nach drei Tagen treffen wir wieder auf Zivilisation. In Island ist nämlich eines klar: Hier ist die Einsamkeit zu Hause, verdammt viel Einsamkeit! Außerhalb der Ringstraße gibt es nur einige wenige, meist geschotterte Straßen, die im Winter häufig nicht passierbar sind. Für Menschen, die dort ihre Höfe betreiben, bedeutet dies oft monatelange Abgeschiedenheit von der Außenwelt.


In Island hat die Natur das Sagen: im Süden der Kjölur-Hochlandpiste

Nach ein paar Tagen wissen wir: Das gemeinschaftliche Leben am Land spielt sich in den Tankstellen ab! Nicht nur wir flüchten bei starkem Regen in Blönduós in eine Tankstelle, dem ersten und einzigen öffentlichen Treffpunkt weit und breit, sondern hier scheint das tatsächlich eine ganz normale Sonntagnachmittagsbeschäftigung zu sein: sich an der Tankstelle treffen, um dort Hotdogs zu essen. Der Aufenthaltsraum ist größer als bei einem McDonald’s, es geht geschäftig zu. Viele kommen mit bis zu den Knöcheln nassen Jogginghosen, triefenden Haaren, drei Kindern im Schlepptau und verbringen dort den halben Nachmittag. Da fallen Flo und ich gar nicht so auf, wie wir etwas unschlüssig einen Kaffee nach dem anderen schlürfen und nicht sicher sind, wie wir die kommenden, mit noch schlechterem Wetter prognostizierten Tage verbringen sollen. Letztendlich entscheiden wir uns, beim Campingplatz gegenüber, schön neben einem Fluss gelegen, unser Lager aufzubauen. Das erweist sich als wunderbare Entscheidung: Es gibt eine Waschmaschine, einen Wäschetrockner und einen herrlich warmen Duschbereich. Wir decken uns schnell mit Lebensmitteln ein, um die nächsten zwei Tage nur noch in Notfällen das Zelt verlassen zu müssen. Während wir dies alles erledigen, ermitteln wir nebenbei zwei ausschlaggebende Merkmale echter Isländer:


Langjökull: Gletscher zum Greifen nahe

Merkmal Nummer 1: Einem Isländer wird so schnell nicht kalt

 

Am Campingplatz kommen per Autostopp zwei Mädchen im Teenageralter an. Übermütig stellen sie ein klappriges Siebzigerjahre-Zelt (Stil Hundehütte) auf und spazieren dann – während wir in Fleecepullovern und mit Primaloft-Jacken frösteln – in Bikini und Handtuch zum Fluss, um dort ein bisschen zu baden. „Ihr seid von hier, oder?!“, fragen wir sie und bekommen ein erstauntes Ja als Antwort. „Wie habt ihr das bloß so schnell gesehen?“

Merkmal Nummer 2: Das bisschen Regen stört hier niemanden

Es regnet in Strömen und kann nicht mehr als ein paar Grad über null haben. Flo und ich stehen in voller Regenmontur unter dem Dach eines Supermarktes. In dem Moment rollt gemächlich ein radfahrender Vater mit Baby im Kindersitz an. Das Kind trägt ein Shirt und außer dem Helm keine Kopfbedeckung. Ungeachtet der riesigen Wassermassen, die die Wolken auslassen, herzt der Vater das Kind, fast so als wäre diese Regentaufe eine Art Aufnahmeritual in die Gemeinschaft der Inselbewohner. Dem Baby scheint’s zu gefallen. „Duuu bist ein echter Isländer!“, denken wir uns und müssen lachen. Wir aber sind eindeutig keine Isländer. Deshalb verziehen wir uns mit jeder Menge Fressalien in unser kuscheliges Zelt, um die nächsten 48 Stunden mit einem Hörspielkrimi und jeder Menge Schokomilch zu verbringen.

Irgendwann sind sogar wir ausgeschlafen und die Enge im Zelt wird uns dann doch zu bunt – mit eisernem Willen strampeln wir noch ein paar Tage im Gegenwind Richtung Reykjavik. In windgeschützten Straßengräben kochen wir unser Essen und Flo stellt dabei sinnig fest: „Sehr praktisch: Bei der Kälte kann man sich nie den Mund verbrennen, denn das Essen wird schon auf dem Weg dorthin kalt.“

Eine Tagesetappe von der Hauptstadt entfernt lesen wir durchnässt die Erklärung auf einem Fahrverbotsschild für Radfahrer, dass uns davon abhält, die Landstraße weiterzufahren: „Hvalfjord-Untertunnelung: Durchfahrt nur für Autos“. Wir haben genug. So durchnässt, wie wir sind, wollen wir keine 100 Kilometer Umweg fahren. Daher machen wir etwas, das wir sonst auf Radurlauben nie tun, ja, eine Ehrenkodex-Übertretung sozusagen: Wir strecken den Daumen raus, und ehe wir uns ganz sicher sind, ob wir wirklich schummeln möchten, sind wir schon in, beziehungsweise die Räder auf einem Pick-up. Die Wärme im Auto und das lustige Gespräch mit dem pensionierten isländischen Paar machen uns ganz selig und nachdem wir uns vor unserer USA-Reise noch ordentlich ausruhen wollen, können wir wohl unmöglich das Angebot abschlagen, direkt bis Reykjavik gefahren zu werden. Dort genießen wir die hübsche Stadt und unerwartete zwei Tage Schönwetter. Die Zeit auf Island ist vorbei, die Reise ist in vollem Gang, auf zu neuen Ländern!

USA
MIT SCHWEREM BALLAST DURCH DIE VEREINIGTEN STAATEN


Flo: Nach einer ruhigen Zeltnacht nahe dem Flughafen erscheinen wir überaus mustergültig sehr früh am Schalter der Icelandair, um für unseren Flug in die USA einzuchecken. Es sollte ein gemütlicher, stressfreier Abschied von der Insel werden. Dann kommt aber völlig unerwartet die alles entscheidende Frage einer Mitarbeiterin am Check-in: „Dürfte ich bitte Ihren Rückflugschein sehen, denn ohne ist es nicht erlaubt in die USA einzureisen.“ Überrascht entgegnen wir, wir hätten noch kein Ticket, schließlich wüssten wir noch nicht, wo es uns mit unseren Rädern nach der USA-Tour hin verschlagen wird. Die Mitarbeiterin kann leider nicht viel für uns tun, denn sie muss sich an die Vorschriften halten und die besagen nun mal, dass jeder Einreisende nachweisen muss, innerhalb von 90 Tagen das Land auch wieder zu verlassen. Fahrräder hin oder her. Auch ein Anruf des Supervisors bei der amerikanischen Einwanderungsbehörde hilft nichts. Zu diesem Zeitpunkt haben wir noch rund 30 Minuten Zeit, kreativ zu werden – die Uhr tickt. Zuerst muss nach diesem Schock ein starker Kaffee her. Dann wird der Laptop eingeschaltet und die billigste Busverbindung über die Grenze nach Mexiko gebucht – von San Diego nach Tijuana, obwohl wir dort eigentlich nie hinwollten. Für 24 Dollar zuzüglich zwei Dollar Stornoversicherung haben wir innerhalb von Minuten unser Ausreiseticket in der Hand bzw. am Bildschirm. Das genügt dann auch am Check-in. In letzter Minute erreichen wir das Flugzeug. In unserem Hostel in New York werden wir das Busticket wieder stornieren, so einfach funktioniert dieses ausgeklügelte System. Aber jetzt haben wir erst einmal ganz andere Sorgen und ich versuche, Klara halbwegs zu beruhigen.

Klara: Ich erleide durch die eilige Buchung des Bustickets einen wirklichen Schock, der mich schon daran denken lässt, unsere Reise abzubrechen. Während ich nämlich mein E-Mail-Postfach öffne, um nach der eingelangten Ticketbestätigung zu sehen, überfliege ich ein E-Mail meines Bruders. Der hat leider ganz schlechte Nachrichten. Mein Vater, zu dem ich, wie zu allen anderen meiner Familienmitglieder, eine sehr enge Verbindung habe, musste überraschenderweise ins Krankenhaus. Auf den ersten Blick sieht die Situation sehr ernst und beängstigend aus und sofort stehe ich total neben mir. Nachdem wir in letzter Minute noch einchecken – Flo übernimmt sofort das Kommando, worüber ich sehr froh bin –, versuche ich in der Abflughalle irgendwo ein Telefon aufzutreiben. Handy haben wir nämlich bewusst keines mit, schließlich wollten wir uns ein Jahr lang den Luxus gönnen, nicht ständig erreichbar sein zu müssen. Jetzt würde ich mir aber nichts mehr wünschen, als eben so ein Ding bei mir zu haben. Mir gelingt es in den Minuten vor dem Abflug nicht, ein Telefon aufzutreiben, und so sitze ich mit sorgenvollem Herzen in der Abflughalle, bis wir vom Flughafenpersonal namentlich aufgerufen werden – vor lauter Aufregung haben wir tatsächlich am falschen Gate gewartet! Nach dem sechsstündigen Flug, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt und den ich nur verschwommen wahrnehme, dauert es noch einmal mehrere Stunden, bis wir bei unserem Hostel in New York ankommen und die Zeitverschiebung zumindest so weit abwarten, bis es zu Hause nicht mehr mitten in der Nacht ist. Dann erfahre ich von meiner Mama, dass so weit wieder alles in Ordnung ist und ich mir keine Sorgen machen soll. Trotzdem: Die ersten paar Tage bin ich gänzlich unentspannt und die Angst ist immer im Hinterkopf. Schließlich würden wir noch länger unterwegs sein und ich würde meinen Papa noch lange nicht sehen können. New York erlebe ich wie durch einen Schleier. Flo und ich skypen erst Tage später mit meinen Geschwistern, nun kann ich die Entwarnung ernst nehmen. Jetzt erst können wir uns beide so richtig auf die USA einlassen.

NEW YORK: DAS ABENTEUER BEGINNT

Klara: In New York waren wir beide schon einmal: Flo, als er sein Auslandssemester in Arkansas antrat, und ich, als ich ihn dort besuchte. Für mich war diese Stadt damals irgendwie unfassbar. Ich konnte im Nachhinein einfach nicht sagen, was ich von ihr halten sollte. Natürlich, die größte Stadt der USA ist laut, multikulturell, hässlich und schön zugleich. Unterwegs mit öffentlichen Verkehrsmitteln, kam sie mir damals uneinschätzbar riesig vor. Das ist diesmal ganz anders. Beim Einstieg in den Airportzug werden wir wieder daran erinnert, warum wir dieses riesige Land für unsere erste längere Radetappe gewählt haben: Es sind die fröhlichen und begeisterten Bemerkungen der Passanten, die uns auf unsere vollbepackten Räder ansprechen, uns viel Glück wünschen und uns erklären, wie toll sie unser Vorhaben fänden. Diese sympathischen Wesenszüge der Amerikaner finden wir einfach großartig. Klar könnte man jetzt einwenden, dass es sich hierbei nur um die typisch oberflächliche Mentalität der Amerikaner handelt, hinter der wenig steckt. Wir finden diese Offenheit und Begeisterungsfähigkeit aber klasse und würden uns wünschen, als Mitteleuropäer auch mehr davon zu haben.

In der feuchtschwülen U-Bahn Richtung unserem Hostel in Queens, in der wir kaum Platz finden – wir brauchen mit unseren Rädern sicher ein Viertel des Wagons –, erleben wir dann leider auch die Schattenseiten einer anonymen Großstadt: Eine sichtlich überforderte Mutter fasst ihren kleinen Jungen, der wie am Spieß schreiend in seinem Buggy sitzt, sehr grob an – so grob, dass er mit seinem Hals immer wieder am Gurt hängen bleibt und beinahe keine Luft bekommt. Teilnahmslos oder genervt schauen die anderen Passagiere zu Boden. Niemand couragiert sich einzugreifen – auch wir trauen uns nicht, was ich im Nachhinein bereue. Beim Ausstieg aus der U-Bahn merken wir schnell, dass die steilen Stufen hinauf zur Straße für uns mit den Rädern unüberwindbare Hürden sind, und wir stellen uns einzeln beim Fahrstuhl an. Einzeln deshalb, weil im Lift nur mit Mühe und Not ein vollbepacktes Fahrrad Platz hat. Schnell machen wir uns hiermit Feinde, denn vor dem Lift herrscht großer Andrang, obwohl es doch nur ein paar Stufen bis zur Straße wären. Viele beleibte Menschen wollen aber trotzdem lieber zehn Minuten auf den Fahrstuhl warten und wir sind dabei im Weg. Manch gehfauler New Yorker blickt uns mit genervtem Blick und rollenden Augen an. „Ach ja“, denken wir, „das Adipositasproblem vieler US-Bürger hätten wir schon fast vergessen!“ Mit diesem Gedanken schwingen wir uns auf unsere Räder und rollen auch schon vor die Tür eines Hamburger-Ladens. Keine Minute später steht unsere erste Hamburger-Cola-Combo vor uns am Tisch und jegliche Gedanken über Ernährungsbewusstsein sind Vergangenheit.


USA 28. Juli–24. Oktober 2012


Tags darauf trauen wir uns dann (nachdem uns der griechischstämmige Hostelbetreiber gut zugeredet hat) tatsächlich, durch New York zu radeln. Unser Plan ist zu diesem Zeitpunkt endlich fix: Von Washington D.C. aus wollen wir die USA durchqueren und, würde alles gut gehen, spätestens drei Monate später San Francisco am Pazifik erreichen. Das haben wir, durchorganisiert wie wir sind, erst vor ein paar Tagen beschlossen, als uns in Reykjavik ein Tourenpärchen vom sogenannten Trans-Am-Trail vorgeschwärmt hat, der südlich von Washington startet. Flo hatte zuvor schon mit diesem Trail geliebäugelt, doch erst jetzt steht unser Entschluss. In New York bestellen wir einen Kartensatz des Trails (sündhaft teuer, aber im Nachhinein gesehen ein Traum) und geben als Lieferadresse einen Campingplatz in Virginia an, von dem wir glauben, dass er am Weg liegt.

Für die Strecke nach Washington wollen wir aber noch den Bus nehmen, innerlich haben wir nämlich schon den leichten Verdacht, dass es mit unserem Dreimonatsvisum für die Durchquerung des Kontinents sonst eventuell etwas knapp werden könnte. Und so lerne ich New York auf dem Weg zum Busbahnhof nahe dem Times Square neu kennen und schätzen. Auf dem Rad macht das Ganze viel mehr Spaß und ich lerne etwas, das sich noch oft bewahrheiten wird: Das Gefühl für eine Stadt bekomme ich am besten, wenn ich mich selbstständig und aus eigener Kraft dort fortbewege.

Es ist Sonntag und somit wenig Verkehr, während wir durch die etwas schäbigen Durchfahrtsstraßen Queens’ radeln. Immer wieder werden wir von den typischen gelben Taxis überholt. Als wir Passanten nach dem Weg in Richtung Central Park fragen, macht der erste ein Foto von uns und sendet es per Smartphone gleich an unseren E-Mail-Account, der nächste, ein italienischer Rennradfahrer, übernimmt die Führung und geleitet uns beim Weg über die Queensborrow-Brücke. Es fühlt sich großartig an, in einer solchen Stadt Teil des Treibens zu sein. Flo genießt das anscheinend so sehr, dass er sich, im Central Park angekommen, gleich zu den Rikschafahrern gesellt, die dort Touristen ihre Dienste anbieten. Zwischen den Fiakern und Wochenendausflüglern fällt er fast nicht auf. Wir rollen am Zoo vorbei und landen beim großen Teich des Parks. Hier herrscht eine fast magische Stimmung: Wir stehen auf einer Fußgängerbrücke und unter uns ist ein weiterer Durchgang. Überall tummeln sich die Leute, ein Chor singt und gleichzeitig zaubert ein Straßenkünstler menschengroße Seifenblasen.


New York City: Wo bitte geht’s hier zum Radweg?

 

Nach dem Genuss eines obligatorischen Bagels fahren wir zum Times Square, wo es wie immer rundgeht. Nun müssen wir es zugeben: Wir haben tatsächlich ein Foto mit dem Naked Cowboy, einem legendären Straßenmusiker, gemacht und wissen bis heute nicht, was wir davon halten sollen.

Beim komplizierten System am Busbahnhof wird Florian dann schon fast zum Einheimischen. Zuerst stellen wir uns noch ahnungslos in einer der zwei parallelen, sicher 100 Meter langen Schlangen an, die in einer Art Abfahrtshalle für die Busse mündet. Dann erfragen wir uns schrittweise die Logik des Systems. Es läuft hier anscheinend so ab, dass neben den offiziellen blau gekleideten Auskunftskerlen sich hier jeder, der eine Ahnung hat, wohin welche Schlange führt, wann der nächste Bus fährt, beziehungsweise ob dieser noch freie Plätze hat, bemüßigt fühlt, diese Informationen weiterzugeben. Nach ungefähr einer Stunde des Wartens – wir werden dazwischen von einem Angestellten mehrmals an den anscheinend richtigen Platz bugsiert – ist Florian zum Profi mutiert und gibt jetzt, wenn er von Neulingen gefragt wird, mindestens so selbstbewusst Auskunft wie die Dame vor uns, die dieses Schauspiel jeden Sonntag erlebt. „This is the line to Philly, 4:30, reservations only“, erklärt er geschäftig und deutet auf die Nachbarlinie. Ich kann meinen Ohren kaum trauen!


Grand Central Station in New York

Ob wir samt unserem, zugegebenermaßen nicht unbedingt handlichem Gepäck befördert werden, hängt letztendlich von der Gunst des Busfahrers ab. Die erste Chance auf einen Platz im Bus wird vom chinesischstämmigen Fahrer mit einem knappen und scharfen „No, no, no! It’s not possible!“ aus dem Weg geräumt und so schauen wir, dass wir uns wenigstens mit dem bei dieser Aussage heimlich die Augen verdrehenden Ordnungspersonal gutstellen. Sie setzen sich dann auch wirklich für uns ein – und nach nur drei Stunden Wartezeit sitzen wir im Bus nach Washington. In mir steigt so etwas wie ein Glücksgefühl auf! Die Straßenschilder, die Autos, der Wald rings um die Interstate – alles ist mir vertraut und erfreut mich. Als nach zwei Stunden der Sitzplatz neben Florian frei wird, setze ich mich zu ihm und er legt den Arm um mich. „Alles wird gut“, denke ich und fühle mich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.


„How romantic!“ – Honeymoonfeeling vor dem Lincoln Memorial in Washington

Flo: Mit den letzten Sonnenstrahlen erreichen wir die Hauptstadt. Washington ist ein guter Ort! Ruhig, sauber und genügend Raum, um sich frei bewegen zu können. Noch bevor wir uns eine Unterkunft suchen, schwingen wir uns auf unsere Fahrräder und begeben uns zur Mall, auf deren weitläufigem Gelände sich viele Sehenswürdigkeiten befinden.

Vor dem Kapitol machen wir ein paar Erinnerungsfotos und ich fühle mich wie Forrest Gump, der an eben diesem Platz seine Jenny wieder traf, nachdem er die USA durchlaufen hatte. Nur mit dem Unterschied, dass es bei uns in die andere Richtung geht, ich mein Herzblatt schon mithabe und wir mit dem Fahrrad unterwegs sind.

Am Vorabend der endgültigen Abreise gen Westen treffen wir auf eine deutsche Rucksackreisende, die durch die USA tourt und am nächsten Tag mit dem Bus von Washington D.C. nach San Francisco fahren will. „Wir Backpacker haben es nicht immer leicht, aber diesen beinharten 48-Stunden-Trip sollte man einmal im Leben machen“, erklärt sie vollmundig. Da müssen wir dann doch innerlich schmunzeln. „Und wir planen für beinharte 48 Stunden ganze drei Monate?“, sinnieren wir und scherzen: „Wir dürfen ja auch nicht auf die Autobahn!“