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»Haben Sie den Schmutz im Saal nicht gesehen?« fragte die Frau und verzog das Gesicht. »Zu uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleich drei Betten vorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden, denn das Hotel ist vollbesetzt, ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt, aber besser als im Freien ist es jedenfalls.«

»Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen,« sagte Karl. Er stellte sich vor, welchen Lärm die beiden auf den Gängen dieses feinen Hotels machen würden; Robinson würde alles verunreinigen und Delamarche unfehlbar selbst diese Frau belästigen.

»Ich weiß nicht, warum das unmöglich sein soll,« sagte die Frau, »aber wenn Sie es so wollen, dann lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommen allein zu uns.«

»Das geht nicht, das geht nicht«, sagte Karl, »es sind meine Kameraden und ich muß bei ihnen bleiben.«

»Sie sind starrköpfig«, sagte die Frau und sah von ihm weg, »man meint es gut mit Ihnen, möchte Ihnen gern behilflich sein, und Sie wehren sich mit allen Kräften.«

Karl sah das alles ein, aber er wußte keinen Ausweg, so sagte er nur noch: »Meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit.«

Dann erinnerte er sich daran, daß er noch nicht gezahlt hatte, und fragte nach dem schuldigen Betrag.

»Zahlen Sie das erst, wenn Sie mir den Strohkorb zurückbringen«, sagte die Frau. »Spätestens morgen früh muß ich ihn haben.«

»Bitte«, sagte Karl. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins Freie führte, und sagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat: » Gute Nacht, Sie handeln aber nicht recht.« Er war schon ein paar Schritte weit, da rief sie ihm noch nach: »Auf Wiedersehen morgen!«

Kaum war er draußen, hörte er auch schon wieder aus dem Saal den ungeschwächten Lärm, in den sich jetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten. Er war froh, daß er nicht durch den Saal hatte hinausgehen müssen. Das Hotel war jetzt in allen seinen fünf Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor in ihrer ganzen Breite hell. Noch immer fuhren draußen, wenn auch schon in unterbrochener Folge, Automobile, rascher aus der Ferne her anwachsend als bei Tage, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternen den Boden der Straße ab, kreuzten mit erblassenden Lichtern die Lichtzone des Hotels und eilten aufleuchtend in das weitere Dunkel.

Die Kameraden fand Karl schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu lange ausgeblieben. Gerade wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf Papiere ausbreiten, die er im Korb vorfand, um erst, wenn alles fertig wäre, die Kameraden zu wecken, als er zu seinem Schrecken seinen Koffer, den er abgesperrt zurückgelassen hatte und dessen Schlüssel er in der Tasche trug, vollständig geöffnet sah, während der halbe Inhalt ringsherum im Gras verstreut war.

»Steht auf!« rief er. »Ihr schlaft, und inzwischen waren Diebe da.«

»Fehlt denn etwas?« fragte Delamarche. Robinson war noch nicht ganz wach und griff schon nach dem Bier.

»Ich weiß nicht«, rief Karl, »aber der Koffer ist offen. Das ist doch eine Unvorsichtigkeit, sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu lassen.«

Delamarche und Robinson lachten, und der erstere sagte: »Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt, und Sie brauchen zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben gedacht, daß Sie in Ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten, und haben das Schloß so lange gekitzelt, bis es sich aufgemacht hat. Im übrigen war ja gar nichts darin, und Sie können alles wieder ruhig einpacken.«

»So«, sagte Karl, starrte in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf das eigentümliche Geräusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit zuerst weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder zurückschnellte, um erst dann in großem Erguß in die Tiefe zu rollen.

»Haben Sie schon zu Ende gegessen?« fragte er, als sich die beiden einen Augenblick verschnauften.

»Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?« fragte Delamarche, der glaubte, Karl beanspruche seinen Anteil.

»Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich«, sagte Karl und ging zu seinem Koffer.

»Der scheint Launen zu haben«, sagte Delamarche zu Robinson.

»Ich habe keine Launen«, sagte Karl, »aber ist das vielleicht recht, in meiner Abwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen? Ich weiß, man muß unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber das ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muß den Korb zurückgeben.«

»Siehst du, Robinson, so spricht man«, sagte Delamarche, »das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt – weil ihn dort im Hotel irgend jemand gelockt hat – verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer, und weil er ein grober Deutscher ist, kann er nicht weggehen, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben.«

Karl, der seine Sachen packte, ohne sich umzuwenden: »Reden Sie nur so weiter und erleichtern Sie mir das Weggehen. Ich weiß ganz gut, was Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt, und keiner kann mir vorwerfen, daß ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte. Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal nach Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson, Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlich waren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen? Aber es ist etwas anderes. Sie haben nichts, und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im geringsten, aber Sie mißgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein Volk – damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen, Robinson. Gegen Ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, daß Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind.«

»Da sehen wir ja«, sagte Delamarche, indem er zu Karl trat und ihm einen leichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, »da sehen wir ja, wie Sie sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich an meinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier, und ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschaut haben. Du, Robinson, wir beneiden ihn – meint er – um seinen Besitz. Ein Tag Arbeit in Butterford – von Kalifornien gar nicht zu reden –, und wir haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in Ihrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also, nur immer Achtung aufs Maul!«

Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den verschlafenen, aber vom Bier ein wenig belebten Robinson herankommen. »Wenn ich noch lange hierbleibe«, sagte er, »könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinen Lust zu haben, mich durchzuprügeln.«

»Alle Geduld hat ein Ende«, sagte Robinson.

»Sie schweigen besser, Robinson«, sagte Karl, ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, »im Innern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarche halten!«

»Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?« fragte Delamarche.

»Fällt mir nicht ein«, sagte Karl. »Ich bin froh, daß ich fortgehe, und ich will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen, Sie haben mir den Vorwurf gemacht, daß ich Geld besitze und es vor Ihnen versteckt habe. Angenommen, daß es wahr ist, war es nicht sehr richtig Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst ein paar Stunden kannte, und bestätigen Sie nicht noch durch Ihr jetziges Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?«

»Bleib ruhig«, sagte Delamarche zu Robinson, obwohl sich dieser nicht rührte. Dann fragte er Karl. »Da Sie so unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so gemütlich beisammenstehen, diese Aufrichtigkeit noch weiter und gestehen Sie ein, warum Sie eigentlich ins Hotel wollen.« Karl mußte einen Schritt über den Koffer hinweg machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurch nicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einen Schritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, das im Gras liegengeblieben war, und wiederholte seine Frage.

Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl erblickt, sagte er: »Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat, dringend braucht.«

»Hier ist er«, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsicheren Stimme. Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseitegetreten, wie sie es vor fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: »Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden anderen Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier, auf der Lehne, ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen.«

 

»Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen«, sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da, und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sie ohne weiteres mitnehmen werde.

»Für diesen Fall«, sagte der Kellner, »habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu tragen.«

»Dann warten Sie, bitte, noch einen Augenblick«, sagte Karl und bückte sich, um die paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.

Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographie fehlte, sie war ganz oben im Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Photographie fehlte. »Ich kann die Photographie nicht finden«, sagte er bittend zu Delamarche.

»Welche Photographie?« fragte dieser.

»Die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl.

»Wir haben keine Photographie gesehen«, sagte Delamarche.

»Es war keine Photographie darin, Herr Roßmann,« bestätigte auch Robinson von seiner Seite.

»Aber das ist doch unmöglich«, sagte Karl, und seine hilfesuchenden Blicke zogen den Kellner näher. »Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten!«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte Delamarche, »in dem Koffer war keine Photographie.«

»Sie war mir wichtiger als alles, was ich sonst im Koffer habe«, sagte Karl zum Kellner, der herumging und im Grase suchte. »Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite.« Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: »Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.«

Daraufhin sagte der Kellner laut, ohne jede Beschönigung: »Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.«

»Ja«, sagte Karl sofort, »ich muß die Photographie finden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, daß, wer mir die Photographie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt.« Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum Kellner: »Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die Photographie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht tun.«

Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihm schwieriger zu behandeln schien als Robinson, den er Karl überließ. Er machte Karl darauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig untersucht werden müßten, da sonst einer unbeobachtet die Photographie beiseiteschaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Karl in Robinsons Tasche eine ihm gehörige Krawatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner zu: »Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm, bitte, alles. Ich will nichts als die Photographie, nur die Photographie.«

Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit der Hand an die heiße, fettige Brust Robinsons, und es kam ihm zu Bewußtsein, daß er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im übrigen war alles umsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Photographie vor.

»Es hilft nichts«, sagte der Kellner.

»Sie haben wahrscheinlich die Photographie zerrissen und die Stücke weggeworfen«, sagte Karl. »Ich dachte, sie wären Freunde, aber im geheimen wollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den Einfall gekommen, daß die Photographie solchen Wert für mich hat, aber desto mehr Delamarche.« Karl sah nur den Kellner vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.

Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, daß die beiden in das Hotel mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Karl nahm den Strohkorb, und sie gingen. Karl war schon auf der Straße, als er, im Nachdenken sich unterbrechend, stehenblieb und in das Dunkel hinaufrief: »Hören Sie einmal, sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen – er bekommt den Koffer noch immer und wird, ich schwöre es, nicht angezeigt.« Es kam keine eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines Zurufs Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile wartete Karl, ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen: »Ich bin noch immer da!« Aber kein Laut antwortete, nur einmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem verfehlten Wurf.

Hotel Occidental

Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präzise Diktieren, der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf zeigte. »So!« sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karl zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln zum Beispiel gewellt, die Frisur recht hoch, und man staunte ein wenig, wenn man nach diesen Einzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen, zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Karl, entfernte sie sich, und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.

»Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommen sind«, sagte die Oberköchin. »Und Ihre Kameraden?«

»Ich habe sie nicht mitgenommen«, sagte Karl.

»Die marschieren wohl sehr früh aus«, sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären.

›Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmarschiere?‹ fragte sich Karl und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: »Wir sind in Unfrieden auseinandergegangen.«

Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. »Dann sind Sie also frei?« fragte sie.

»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.

»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?« fragte die Oberköchin.

»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann zum Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.«

»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberköchin. »Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehen, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für Sie besser und passender wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.«

›Das würde alles auch der Onkel unterschreiben‹, sagte sich Karl und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er, »daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.«

»Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Karl, »Ich bin noch nicht lange in Amerika.«

»Woher sind Sie denn?«

»Aus Prag in Böhmen«, sagte Karl.

»Sehen Sie einmal an«, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, »dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ganz ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal.«

»Wann ist das gewesen?« fragte Karl.

»Das ist schon viele, viele Jahre her.«

»Die alte Goldene Gans«, sagte Karl, »ist vor zwei Jahren niedergerissen worden.«

»Ja, freilich«, sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.

Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und faßte dabei Karls Hände: »Jetzt, da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie zum Beispiel Lust, Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen, daß es nicht besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, man gibt Ihnen kleine Aufträge; kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles übrige lassen Sie mich sorgen.«

»Liftjunge möchte ich ganz gerne sein,« sagte Karl nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die Liftjungen Karl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck des Hotels erschienen.

»Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?« fragte er noch.

»Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.«

»Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt«, sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. »Das spricht schon genügend für Sie«, sagte die Oberköchin. »Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag.« Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Karls Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte Karl.

»Das kann man immer brauchen«, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.

»Aber ich halte Sie auf «, rief sie dann. »Und Sie sind gewiß sehr müde, und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude, einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmer führen.«

»Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin«, sagte Karl im Anblick des Telephonkastens, der auf dem Tisch stand, »es ist möglich, daß mir morgen, vielleicht sehr früh, meine früheren Kameraden eine Photographie bringen, die ich dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen?«

»Gewiß«, sagte die Oberköchin, »aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen die Photographie abnimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wenn man fragen darf?«

»Es ist die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl. »Nein, ich muß mit den Leuten selbst sprechen.« Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telephonisch in die Portierloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als Zimmernummer Karls nannte.

Sie gingen dann durch eine der Eingangstür entgegengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend lehnte. »Wir können uns selbst bedienen«, sagte die Oberköchin leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. »Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zuviel für einen solchen Jungen«, sagte sie dann, während sie aufwärts fuhren. »Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge zum Beispiel, er ist auch erst vor einem halben Jahre mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht er aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, obwohl er von Natur sehr bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus, und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger Junge; Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?«

»Ich werde nächstens Monat sechzehn«, antwortete Karl.

»Sogar erst sechzehn!« sagte die Oberköchin. »Also nur Mut!«

Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühbirnen sich sehr wohnlich zeigte.

 

»Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung«, sagte die Oberköchin, »es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen, als neuer Hotelangestellter, werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu anstrengend sein.«

»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.«

»Warten Sie«, sagte sie, beim Ausgang stehenbleibend, »da wären Sie aber bald geweckt worden.« Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief: »Therese!«

»Bitte, Frau Oberköchin«, meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin.

»Wenn du mich früh wecken gehst, so mußt du über den Gang gehen, hier im Zimmer schläft ein Gast. Er ist todmüde.« Sie lächelte Karl zu, während sie dies sagte. »Hast du verstanden?«

»Ja, Frau Oberköchin.«

»Also dann gute Nacht!«

»Gute Nacht wünsch ich.«

»Ich schlafe nämlich«, sagte die Oberköchin zur Erklärung, »seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe, kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen, und zwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde, als ich es schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles, und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!« Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.

Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer, oder, richtiger, ein Repräsentationszimmer der Oberköchin, und ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht worden, aber dennoch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig her gestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Photographien im Rahmen und unter Glas; bei der Besichtigung des Zimmers blieb Karl da stehen und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die, in unmodernen, unbehaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten, kleinen, aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Photographien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hier standen, so hätte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.

Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, daß er dem Dienst vollständig gewachsen war. Das Messing seines Aufzuges war am besten geputzt, keiner der dreißig anderen Aufzüge konnte sich damit vergleichen, und es wäre vielleicht noch leuchtender gewesen, wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzug diente, auch nur annähernd so fleißig gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch Karls Fleiß unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens Renell, ein eitler Junge mit dunklen Augen und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug, in dem er an dienstfreien Abenden leicht parfümiert in die Stadt eilte; hie und da bat er auch Karl, ihn abends zu vertreten, da er in Familienangelegenheiten weggehen müsse, und es kümmerte ihn wenig, daß sein Aussehen allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem konnte ihn Karl gut leiden und hatte es gern, wenn Renell an solchen Abenden vor dem Ausgehen in seinem Privatanzug unten beim Lift vor ihm stehenblieb, sich noch ein wenig entschuldigte, während er die Handschuhe über die Finger zog, und dann durch den Korridor abging. Im übrigen wollte ihm Karl mit diesen Vertretungen nur eine Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem älteren Kollegen am Anfang selbstverständlich schien, eine dauernde Einrichtung sollte es nicht werden. Denn ermüdend genug war dieses ewige Fahren im Lift allerdings und gar in den Abendstunden hatte es fast keine Unterbrechung.

Bald lernte Karl auch die kurzen, tiefen Verbeugungen machen, die man von den Liftjungen verlangt, und das Trinkgeld fing er im Fluge ab. Es verschwand in seiner Westentasche, und niemand hätte nach seinen Mienen sagen können, ob es groß oder klein war. Vor Damen öffnete er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwang sich in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte und Behänge zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während der Fahrt stand er, weil dies das unauffälligste war, knapp bei der Tür, mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen, und hielt den Griff der Aufzugstür, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und doch nicht etwa erschreckend seitwärts wegzustoßen. Selten nur klopfte ihm einer während der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habe er es erwartet, und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz den vielen Aufzügen, besonders nach Schluß der Theater oder nach Ankunft bestimmter Expreßzüge, ein solches Gedränge, daß er, kaum daß die Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasen mußte, um die dort Wartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch Ziehen an einem durch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, die gewöhnliche Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch die Aufzugsordnung verboten und sollte auch gefährlich sein. Karl tat es auch niemals, wenn er mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dann kannte er keine Rücksicht und arbeitete an dem Seil mit starken, taktmäßigen Griffen wie ein Matrose. Er wußte übrigens, daß dies die anderen Liftjungen auch taten, und er wollte seine Passagiere nicht an andere Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotel wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hie und da durch ein Lächeln, daß sie Karl als ihren Liftjungen erkannten, Karl nahm diese Freundlichkeit mit ernstem Gesicht, aber gerne an. Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er auch besondere kleine Aufträge annehmen, zum Beispiel, einem Hotelgast, der sich nicht erst in sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer vergessene Kleinigkeit zu holen, dann flog er in seinem in solchen Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf, trat in das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehen hatte, herumlagen oder an den Kleiderrechen hingen, fühlte den charakteristischen Geruch einer fremden Seife, eines Parfüms, eines Mundwassers und eilte, ohne sich im geringsten aufzuhalten, mit dem meist trotz undeutlichen Angaben gefundenen Gegenstand wieder zurück. Oft bedauerte er, größere Aufträge nicht übernehmen zu können, da hierfür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten. Nur zu Botengängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte sich Karl bei günstiger Gelegenheit verwenden lassen.