Eber im Nebel

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»Well«, sagt Sir Percival und beißt einer Haselmaus den Kopf ab. »Wir Männer können uns vermutlich besser in die sensiblen Schweine hineinversetzen. Frauen fehlen da wohl einfach die nötigen Antennen für die monolithische Gefühlswelt der scheuen Tiere.«

»Ah ja«, sage ich und beiße in einen roten Pilz mit weißen Tupfen drauf, von dem mir die Wildschweine durch aufmunterndes Zugrunzen versichert haben, dass er ungiftig sei.

»Während Frauen mit ihrem Multitasking«, fährt Sir Percy fort, »die Ordnung in so einer Rotte nur durcheinanderbringen würden. Bei Wildschweinen gibt es für alles eine Zeit: Suhle ist Suhle, und Eichelmast ist Eichelmast, da gibt’s kein Vertun.«

»Wahrlich«, sage ich zerstreut und nehme mir einen zweiten Pilz. Wirklich lecker, die Dinger. Erdiges Aroma mit nussiger Note, ein Hauch mulchig im Abgang.

»Außerdem sind, wie Sie ja mittlerweile wohl wissen werden, Wildschweine streng matriarchal organisiert. Ein rottenfremdes Weibchen würde von der Alpha-Bache als Konkurrenz angesehen werden. Zickenkrieg vorprogrammiert. Bei einer patriarchal organisierten Gesellschaft, wie eben Menschenaffen, stellt sich das Problem natürlich nicht. Beziehungsweise eben doch, nur umgekehrt.«

»Umgekehrt. Latürnich«, sage ich. Einer geht noch, denke ich und esse den nächsten Pilz. Endlich fange ich an, mich wohlzufühlen unter den wilden Schweinen. Ich wühle mich tiefer in den Dreck hinein und fange an zu tagträumen. Fast wie im Märchen hier.

Gerade als ich kurz vor dem Wegtreten bin, kommt ein junger Keiler auf unsere Lichtung gesprintet. Aufgeregt grunzt er etwas in seiner Sprache. Die anderen Wildschweine sind sofort hellwach.

»Sie scheinen etwas entdeckt zu haben«, meint Sir Percy. »Folgen wir ihnen.«

Leicht benommen stolpere ich hinterher.

Plötzlich öffnet sich das Dickicht des Waldes und gibt den Blick auf eine grüne Ebene frei: Felder, so weit das Auge reicht, Gurkenfelder, nichts als Gurken, dazwischen Bewässerungskanäle und Schilfhütten.

Und Menschen. Klein. Winzig. Männer und Frauen mit weißen Bärten und roten Zipfelmützen. Sie halten Schäufelchen, Heugäbelchen und Hackebeilchen in den Händen.

»Wir haben die geheimen Gurkengründe der Spreewaldpygmäen entdeckt«, flüstere ich ergriffen.

Ich möchte auf die kleinen Menschen zueilen, doch Sir Percy hält mich zurück.

»Niemand«, zischt er, »niemand, der die geheimen Gurkengründe der Spreewaldpygmäen zu Gesicht bekam, ist je wieder von dort zurückgekehrt.«

Woher will er das denn wissen, denke ich.

»Ach was, die sind total lieb, die Zwerge«, sage ich. »Sooo lieb sind die.«

Die Wildschweine schauen besorgt und ziehen sich geräuschlos ins Unterholz zurück.

Energisch zupft Sir Percy mich am Ärmel, »Kommen Sie jetzt mit, Sie Idiot. Solange es noch geht.«

Dann ist Sir Percy verschwunden. Mir doch egal.

Ich will mich gerade erheben und den Zwergen eine Begrüßung zurufen, vielleicht eine Rede halten, mir ist irgendwie danach, da bohrt sich etwas Hartes in meine Kniekehle. Ich drehe mich um. Es ist eine Lanze in Spielzeuggröße, die einer der Zipfelmützenzwerge in den Händen hält. Er ist nicht allein. Im Nu bin ich umzingelt von ungezählten Spreewaldpygmäen mit Waffen aller Art. Knüppel, Speere, Sensen, Dreschflegel, sogar eine zweizackige Harpune sehe ich.

»Hui, Frissfleiss«, lacht der mit der Lanze.

»Ei, Wonntagsbrat’n«, kichert der mit dem Zweizack.

»Hey, Leute«, rufe ich, »ich komme in Frieden.«

»Von weg’n Fried’n. Er hat unf Twerge g’nannt. Hab’t g’nau g’hört«, kreischt einer der Zwerge.

Die müssen uns die ganze Zeit über beschattet haben, fährt es mir durch den Kopf.

»Und detthalb mutt d’r Frevler fterben«, kräht der mit der Lanze. »Keiner b’leidigt ungeftraft ’n ftolten Ftamm d’r Fpreewaldpygmä’n.«

»Hurra, hurra, ’t gitt Mentsenfleiss!«, jubeln alle und werfen ihre Zipfelmützen in die Luft.

Ich drehe mich um, um zu flüchten. Wäre doch gelacht, wenn diese Winzlinge …

Ein fachkundig geworfenes Lasso schlingt sich um meinen Hals, ich werde zurückgerissen und falle in den Schlamm. Sofort sitzen Dutzende Spreewaldpygmäen auf mir drauf. Eine winzige Speerspitze zittert Zentimeter vor meinem rechten Auge.

»Keine Faptfen«, droht der Lanzenzwerg und drückt seine Waffe gegen meine Gurgel. Dann ruft er: »Einhorn! Einhorn, hierher!«

Ein plumpes Tier, groß wie ein Ackergaul, mit verfilztem Fell in schmutzigem Lila und einem meterlangen blutverkrusteten Horn auf der Stirn, kommt herangestampft. Es zieht einen altertümlichen Leiterwagen, auf dem ich rostige Ketten entdecke.

»Hau ruck, hau ruck«, skandieren die Zwerge, während sie mich am Lasso zum Karren führen. Ich habe keine Wahl, als ihnen zu folgen, mit der Schlinge um den Hals. Sie pieksen mich auffordernd mit ihren Waffen, und ich steige auf den Wagen. Es riecht nach altem Erbrochenen und frischem Einhorndung. Ein paar Zwerge hüpfen mir hinterher. Ketten schließen sich um meine Hand- und Fußgelenke. Irgendwer stopft mir eine Zwiebel in den Mund.

Unfähig, mich zu rühren, richte ich den Blick auf die Anhöhe, dorthin, wo wir hergekommen sind, und sehe mehrere Gestalten, die sich im Schatten der Bäume bewegen. »Sir Percy und die Wildschweine, sie sind gekommen, um mich zu retten«, denke ich erleichtert, »sie werden mich hier nicht allein sterben lassen.«

Nun erkenne ich die majestätischen Silhouetten der Wildschweine ganz deutlich im Schein der untergehenden Sonne. Sie haben sich in einer Reihe aufgestellt, kommen aber nicht näher heran. Der Zwerg auf dem Kutschbock lässt die Peitsche knallen, das Zugtier stößt ein rasselndes Geröchel aus, das eher nach Raucherhusten als Wiehern klingt. Dann setzt der Einhornkarren sich schwerfällig in Bewegung.

Sir Percys Stimme schallt über die Ebene: »One, two, three, four.«

Und die Wildschweine beginnen, im Chor zu grunzen:

»When you walk through a storm

Hold your head up high

And don’t be afraid of the dark

At the end of a storm

There’s a golden sky

And the sweet silver song of a lark

Walk on through the wind

Walk on through the rain

Though your dreams be tossed and blown

Walk on, walk on

With hope in your heart

And you’ll never walk alone«

DIE BESCHWERDE
Sehr geehrter Herr Funny van Dannen,

ist »van Dannen« eigentlich Ihr richtiger Name?

Das ließe darauf schließen, dass Sie Holländer sind, also kein Muttersprachler (was vielleicht Ihren eher saloppen Umgang mit der deutschen Sprache erklären würde), ich hoffe aber mal, Sie verstehen trotzdem genug Deutsch, um das Folgende rezipieren zu können. Ich werde versuchen, so sachlich und konzis wie möglich zu bleiben, selbst wenn’s schwerfällt.

Ich wende mich auf diesem Weg an Sie, um mich zu beschweren.

Es geht um Ihren Song »Okapiposter«, den mir der Jens, mein Pfleger, neulich auf YouTube vorgespielt hat. Um mich zum Lachen zu bringen. Aber so lustig fand ich das, ehrlich gesagt, nicht.

Zwar habe ich durchaus Humor, und niemand weiß einen guten Witz mehr zu schätzen als ich. Selbst wenn er auf meine Kosten geht. Man soll sich nicht allzu ernst nehmen, dafür ist das Leben viel zu kurz. Oder wie der Jens immer zu mir sagt: »Plummy, ohne dich wäre es nur halb so lustig hier im Zoo.«

Humor ist ja, wenn man trotzdem lacht, aber wenn ich so etwas wie das hier höre, dann hört für mich der Spaß auf:

»Ich wollte ein Okapiposter,

und was schenkst du mir?

Das ist kein Okapi. –

Das ist ein Schabrackentapir!

Jetzt ist der Geburtstag im Eimer, das ist dir ja hoffentlich klar.

Wenn das mal kein schlechtes Omen ist

für das ganze nächste Jahr!«

Sie ahnen es vielleicht bereits: Ich bin ein Schabrackentapir. Und ich bin not amused. Au contraire, ich muss Ihnen leider in aller Deutlichkeit sagen, dass ich diesen Text ziemlich verletzend, ja geradezu ehrabschneidend finde. Für mich, für alle Schabrackentapire auf der Welt!

Mal ganz davon abgesehen, dass es sehr unhöflich ist, ein Geschenk auf diese Art zurückzuweisen – und das auch noch in aller Öffentlichkeit, die Person hat es doch sicher nur gut gemeint –, also mal abgesehen vom eklatanten Mangel an guter Kinderstube, der sich hier offenbart: Was bitte hat ein Okapi, das ein Schabrackentapir nicht hat?

Okapis sind doch nichts weiter als zu klein geratene Giraffen ohne Hals, die farblich daherkommen, als hätte ein expressionistischer Maler im Absinthrausch mit seiner Palette nach ihnen geschmissen.

Was glauben Sie denn, warum diese Behelfsgiraffen erst vor 100 Jahren von den Menschen entdeckt wurden? Weil sie nicht entdeckt werden wollten, darum! Minderwertigkeitskomplexe haben sie, und das mit Grund. Jahrtausendelang trauten sie sich nicht hinaus auf die Savanne, wo alle Bewohner, von Schuppentier bis Warzenschwein, über sie gelacht hätten. Stattdessen hielten sie sich im tiefsten Dschungel versteckt, aus Scham, keine vollwertigen Giraffen zu sein, sondern ein gründlich danebengegangener Scherz der Evolution.

Ausgerechnet Okapis. So ein missglücktes Geschöpf einem schönen Schabrackentapir vorzuziehen, ist äußerst herabsetzend, und ich muss mich im Namen aller meiner Artgenossen auf das Entschiedenste dagegen verwehren, mit Okapis in einen Topf geworfen zu werden.

Aber gut, lassen Sie uns nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, schließlich kann keiner was dafür, wie er aussieht. Ich für mein Teil bin dem Schicksal jedenfalls sehr dankbar, als Schabrackentapir und nicht als Okapi geboren zu sein, daran kann auch Ihr Lied nichts ändern. Sie wollen keinen Schabrackentapir zum Geburtstag, na schön. Ich kann mir auch Tausende Leute vorstellen, an die ich lieber zum Geburtstag verschenkt werden würde als an Herrn Funny van Dannen. Menschen, die froh und dankbar über einen geschenkten Schabrackentapir wären und ihn pfleglich und liebevoll behandeln würden. Aber Monsieur hätte lieber ein Okapi. Es fällt wirklich schwer, das ernst zu nehmen.

 

Ich möchte meinen Ärger über Ihr Lied aber auch nicht an den Okapis auslassen (vielleicht ist es ja genau das, was Sie wollen?), schließlich hat kein Okapi diese bedauerliche Affäre losgetreten, sondern Sie, ein erwachsener Mensch, der sich den Folgen seiner Handlungen bewusst sein sollte.

Darüber hinaus finde ich es ehrlich gesagt sehr traurig, wie hier eine bedrohte Tierart gegen eine andere ausgespielt wird, zur Gaudi Ihres (wenn ich mir das YouTube-Video so ansehe, durchaus überschaubaren) Publikums. Das gibt nur böses Blut zwischen Okapis und Schabrackentapiren, und wem sollte das etwas nutzen.

Wäre es nicht viel verständiger, wenn wir speziesübergreifend alle zusammenhalten würden, um dem Artensterben Einhalt zu gebieten? Dazu gehören auch gute Presse und Visibilität für seltene Tiere in der Öffentlichkeit. Von daher finde ich es grundsätzlich erfreulich, dass es ausnahmsweise mal nicht um Koalas, Wölfe oder Blauwale geht, sondern um ein Tier, das keine so große Lobby hat.

Aber statt die Gelegenheit zu nutzen, um auf das Schicksal der Schabrackentapire hinzuweisen (es gibt nur noch zweitausend von uns!), machen Sie sich lustig.

Stellen Sie sich mal vor, ein hitzköpfiger Schabrackentapirjüngling, der über weniger Langmut und Weltklugheit verfügt als ich, bekommt etwas von diesem Lied mit und leitet eine Blutfehde gegen Okapis in die Wege. Es sind schon Kriege aus geringerem Anlass ausgebrochen!

Und was wissen Sie schon von mir und meinem Leben? Ich bin hier im Gehege der einzige Schabrackentapir unter lauter Bergtapiren, Sie können sich gar nicht vorstellen, was da an Mobbing abgeht. Die unscheinbaren braunen Bergzwerge neiden mir meine schöne Färbung und meine stattliche Statur. Was kann ich denn dafür, dass ich der Blickfang bei den Besuchern bin und immer alle nur mich füttern wollen? Da kommt zum Schabrackenneid auch noch Futterneid hinzu.

Zum Glück bin ich von Natur aus ein Solitär und kann auf die Gesellschaft dieser Neidhammel verzichten. Mein einziger Freund hier ist der Jens. Wenn er Pause hat, kommt er immer bei mir vorbei, und wir unterhalten uns und hören zusammen Radio oder gucken YouTube.

Ich habe weiß Gott kein einfaches Leben gehabt, bin von einem Tierpark zum anderen durchgereicht worden, vier Zoos in drei Ländern auf zwei Kontinenten. Meine Mama ist mir früh genommen worden, von Gummipflanzern, und ein gutherziger Mensch fand mich als hilfloses Baby und brachte mich in den Pahang-Nationalpark. Dort begann meine Odyssee.

Darüber könnten Sie mal ein Lied schreiben! Anstatt mich und meine gesamte Art zu »dissen«, wie man wohl heutzutage sagt. Vielleicht würde das Ihrer Karriere sogar guttun, ich zumindest habe noch nie eines Ihrer Lieder auf dem Schlagerkanal oder im Oldiesender gehört, und ich höre den ganzen Tag Radio.

Ja, schreiben Sie doch mal ein Lied über meine Mama, so wie Heintje das gemacht hat. Der konnte wenigstens richtig singen, im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten, und der würde sicher nicht undankbar und selbstmitleidig rumnölen, wenn er einen Schabrackentapir zum Geburtstag geschenkt bekäme, sondern hätte sich einfach höflich bedankt.

Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Es will nicht in meinen Kopf.

Kommt man heutzutage in die Charts, wenn man Schabrackentapire verhöhnt? Ist es so weit gekommen mit der Menschheit? Wenn solche Lieder über meine Art im Umlauf sind, dann wundert es auch nicht, dass wir auf der Roten Liste stehen.

Es ist übrigens kein Niemand, der Ihnen hier schreibt. Seit meiner Ankunft vor fünf Jahren halte ich mich konstant in den Top Ten der beliebtesten Zoo-Insassen, die am Ende jedes Kalendermonats vom Personal erstellt werden. Und an meinem letzten Geburtstag war sogar ein kleiner Artikel über mich im Stadtanzeiger, der Jens hat ihn herausgeschnitten und an die Wand meines Schlafstalls gepinnt.

Und dann muss ich mir so etwas anhören:

»Okapis sind Giraffen, ein Tapir sieht aus wie ein Schwein.«

Nur zu Ihrer Information: Schweine sind Paarhufer.

Ich aber bin Unpaarhufer, mein Herr!

Meine Verwandten sind edle Pferde und stolze Nashörner, nicht schnöde Schweine und anderes Nutzvieh.

Das ist eigentlich Beweis genug, dass Ihr Schabrackentapir-Shaming von keinerlei naturwissenschaftlicher Sachkenntnis unterfüttert ist. Es gibt doch so viele Themen für Schlagersänger, müssen es da wirklich Schabrackentapire sein (von denen Sie ja offensichtlich nichts verstehen)?

Wenn Sie zu cool sind, um über Mama zu singen, dann singen Sie doch über die Kunst des Schachspiels wie Roland Kaiser, oder über Marmor, Stein und Eisen wie Drafi Deutscher, über Nippel wie Mike Krüger, Theater wie Katja Ebstein, über losen Atem wie Helene Fischer. Oder über ’nen Cowboy als Mann wie Gitte Hænning!

Oder machen Sie es meinem großen Idol Udo Jürgens nach (der Jens hat mir ein signiertes Poster besorgt, das gleich neben meinem Pressefoto hängt), und besingen Sie griechischen Wein, Schlagsahne und New York, tun Sie sich mit der Fußballnationalmannschaft zusammen, und rufen Sie es in die Welt hinaus:

»Buenos Dias, Argentina, er war lang, mein Weg zu dir,

doch nun schwenk ich den Sombrero, Buenos Dias, ich bin hier.«

Udo Jürgens, er fehlt so sehr. Was habe ich an dem Tag geweint, als ich von seinem Ableben erfuhr. Udo Jürgens hätte sich bestimmt nicht über einen geschenkten Tapir beschwert, der hätte sich ans Klavier gesetzt und »Merci, chérie« gesungen.

Und jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass das alles alte Lieder von alten Leuten sind, es gibt durchaus auch junge Menschen, die gehaltvolle Musik produzieren. Kennen Sie das aufstrebende Schlagerkollektiv Die Ärzte?

Hören Sie mal rein, die zeigen, wie es richtig gemacht wird, singen über Blumen und über die Liebe zwischen Claudia und ihrem Schäferhund. Und das alles mit dem gebotenen Respekt gegenüber Flora und Fauna, den Sie vermissen lassen.

Ja, von Schlagern kann ich Ihnen ein Lied singen! Wenn ich kein Schabrackentapir wäre, dann wäre ich Schlagersänger geworden.

Und nehmen Sie sich meine Ratschläge, ihr Songwriting betreffend, gerne zu Herzen, dann klappt’s vielleicht irgendwann mal mit dem Oldiesender.

In der Hoffnung auf ein klärendes Gespräch verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen,

Ihr Plummy

Schabrackentapir und stolz darauf

KARL – SCHICKSALSJAHRE EINER GALAPAGOS-SCHILDKRÖTE

An diesem Strand war er zur Welt gekommen. Und gleich vom Start weg war das Leben unfassbar schnell und gefährlich gewesen, erinnerte sich Karl. Man hatte erst mal gar keine Zeit gehabt innezuhalten, um die Schönheit der Welt zu bewundern oder einen Happen zu essen. Man schlüpfte aus dem Ei. Man grub sich aus der Bruthöhle durch den Sand an die Oberfläche. Man lebte. Man überlebte. Oder auch nicht. So viele von seinen Geschwistern hatten den ersten Tag nicht überstanden, den vielleicht größten Challenge im Leben einer jungen Riesenschildkröte. Vom Strand fortkommen und Deckung finden. Man wühlte sich durch den Sand und wuselte los, so schnell es ging, während gewaltige Bussarde und Möwen von oben angeschossen kamen und kolossale Krabben klackernd den Strand hinaufmarschierten. Wer zwischen ihre Scheren geriet, der hatte ein kurzes Leben gehabt. Und keinen leichten Tod. Wen die Bussarde forttrugen, den sah man nie wieder. Man musste nicht nur schnell sein, man musste auch großes Glück haben. Die Dünen hoch und hinein ins Gebüsch. Dann hatte man es fürs Erste geschafft. Die es nicht geschafft hatten, und das waren die meisten, vergaß man.

Heute war Karls hundertfünfzigster Geburtstag. Er feierte ihn allein. Zum allerersten Mal feierte Karl seinen Geburtstag ganz allein. Seit dem rätselhaften Verschwinden von Anna und Adam war er der Letzte hier auf der Insel. Wenn man von der übrigen Fauna absah, aber das waren bloß Tiere, keine Schildkröten.

Karl blickte über den Ozean, dorthin, wo sich in der Ferne verschwommen die Umrisse einer Insel abzeichneten, die von den Schildkröten »Die andere Insel« genannt wurde. Gab es dort auch Riesenschildkröten? Karl wusste es nicht. Es war zu hoffen. Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, dort hinzugelangen. Ein wenig Gesellschaft. Nicht alleine sterben, unbetrauert. Hundertfünfzig Jahre. So alt war niemand von den Gefährten geworden. Außer der alte Hans eventuell, aber der hatte ja dauernd geschwindelt, was sein Alter betraf.

Die grünen Schildkröten der Meere wussten vielleicht mehr, waren jedoch zu weit entfernt und man vernahm ihre Gedanken nur sehr undeutlich. Außer wenn sie an den Strand kamen, um Eier zu legen. Aber da agierten sie dermaßen hektisch und beschäftigt, dass an einen vernünftigen Gedankenaustausch nicht zu denken war. Es waren auch schon eine ziemliche Weile keine Meeresschildkröten mehr auf der Insel gewesen, um abzulegen. Mindestens zwanzig Jahre. Die wurden offenbar auch ständig weniger. Was war nur los mit den Schildkröten? Es konnte doch nicht sein, dass sie alle verschwanden, einfach so!

Karl schüttelte die trüben Gedanken ab und sah zu, wie sie als feiner Nebel hochstiegen und sich langsam in der Luft auflösten.

Auf den von Wellen umspülten Steinen dösten drei pechschwarze Meerechsen im Sonnenschein. Meerechsen waren ganz okay. Manchmal kletterten ein paar von den Jungtieren auf Karls Panzer, um sich darauf zu sonnen. Wenn Karl sich irgendwann langsam in Bewegung setzte, sprangen sie alle ab, nur einer war mutig genug, ein Stückchen auf seinem Rücken mitzureisen. Karl hatte ihn Jack genannt, keine Ahnung, wieso. Meerechsen hatten eigentlich keine Namen, es waren ja nur Tiere. Sie hatten Gedanken, klar, das schon, aber es waren sehr einfache Gedanken, nicht so komplex wie Schildkrötengedanken. Wenn er nah genug dran war, konnte Karl vernehmen, was sie so dachten: »Schwimmen!« … »Essen!« … »Schlafen!« … »Paaren!« …

Meerechsen dachten nicht in ganzen Sätzen, dafür war ihr Wortschatz zu klein. Primitive halt.

Karl nickte den Echsen zu und beschloss, ein paar Stündchen grasen zu gehen. Und wenn er sich auf diese Weise gestärkt hatte, dann würde er die Suche nach den verschwundenen Freunden fortsetzen. Irgendwo mussten sie doch sein!

In gemütlichem Trott marschierte er den Küstenpfad hoch zu Weide Nummer drei. So viele Erinnerungen. Im benachbarten Wäldchen, das längst einem Kunststeinplatz gewichen war, hatte er Max und Alfa damals kennengelernt, abgesehen von ihm selbst die Einzigen aus dem Gelege, die den wilden Ritt vom Strand hoch überlebt hatten.

Nach seiner Flucht aus der Bruthöhle hatte Karl die erste Zeit am Rand des Mangrovengürtels im Schutz des Unterholzes verbracht. Gefahr kam vor allem von oben, das hatte er instinktiv geahnt. Er bewegte sich so wenig wie möglich von der Stelle, knabberte Grünzeug, mampfte Wildtomaten und die herabgefallenen Früchte von Bäumen. Wochenlang war er der festen Gewissheit gewesen, der Einzige seines Geleges zu sein, der das Massaker am Strand überlebt hatte. Er wollte nirgendwohin, am liebsten wäre er auch tot gewesen. Er war wie gelähmt. Mit dem Abstand, den er heute hatte, war ihm klar, dass er damals traumatisiert gewesen war, eventuell sogar depressiv. Und er hätte vielleicht für immer an jener Stelle verharrt und wäre niemals erwachsen geworden, wenn er nicht eines Tages Gedanken vernommen hätte: zwei andere Schildkröten, die sich unterhielten, und das nicht weit von ihm entfernt. Er war nicht allein! Karl eilte zu der Stelle, wo die Gedanken hergekommen waren. Nach eineinhalb Stunden hatte er sie erreicht: Max und Alfa.

»Hallo, wer bist du denn?«, dachte Alfa.

»Ich bin ich«, dachte Karl zurück.

Namen hatten sie zu diesem Zeitpunkt noch keine, die wurden vom Inselältesten verteilt, wenn man sein dreißigstes Jahr vollendet hatte.

 

»Wir sind auch ich«, dachten Alfa und Max im Chor.

»Schön, dass es euch gibt«, dachte Karl, und Alfa kicherte.

Dann stupste sie ihn an: »Guck mal da.«

Karl reckte den Kopf und sah, was die beiden anderen auch sahen. Eine Lücke im Gebüsch gab den Blick frei auf eine sattgrüne Weide, die sich den Hang hinauf bis zu einem dichten Laubwald erstreckte. Auf der Wiese verstreut lagen etwa ein Dutzend grau-braun gemusterte Felsbrocken in verschiedenen Größen. Über den Baumwipfeln sah er einen breiten Streifen Pampa, darüber von Kakteen und Gestrüpp überwucherte Lavafelder im Schatten eines geröllübersäten, grauen Berges. Ganz oben der blaue Himmel. Karls Blick schweifte wieder zurück zur Wiese. Die Felsbrocken bewegten sich. Sie hatten kräftige Beine und lange Hälse mit faltigen Köpfen oben dran. Das waren gar keine Felsen. Dort auf dieser Weide grasten Giganten. Fünf, acht, vierzehn Riesenschildkröten zählte er. Karl konnte sich nicht sattsehen an den Kolossen. Die brauchten sich vor nichts und niemandem zu fürchten. Das also war seine Zukunft. Karl freute sich darauf, auch einmal so groß und stark zu werden.

Von diesem Tag an waren Karl, Alfa und Max unzertrennlich. In sicherem Abstand folgten sie den Großen. Wenn sie zu nahe kamen, wurden sie vertrieben. Das machte Sinn, Jungschildkröten mussten offenes Gelände meiden und wenn möglich im Unterholz bleiben, damit Bussarde und Falken sie nicht erwischten.

In der Trockenzeit wanderte der ganze Trupp auf die Weiden am Berghang, wo die schmackhaften Süßgräser wuchsen, in der feuchten Jahreszeit reiste man zurück zu den tiefer gelegenen üppigen Wiesen. Die Wege, die sie nahmen, waren immer die gleichen, uralte Schildkrötenstraßen, über Jahrtausende ausgetreten. Jedes Jahr dieselbe Routine. Die drei hielten sich am Rand der Gruppe, versuchten aber trotzdem, die Gedanken der Großen zu erhaschen. Am meisten lernten sie vom alten Hans, der behauptete, er sei über 500 Jahre alt, worüber die anderen Erwachsenen nur lächelten. Da Hans es nicht mehr schaffte, das Tempo der Gruppe zu halten, fiel er regelmäßig zurück. Während seiner Verschnaufpausen erzählte er bereitwillig aus seinem langen Leben und warnte vor Gefahren. Die nämlich lauerten nicht nur in der Luft, sondern auch am Boden. Rattenteufel, Katzenteufel und Hundeteufel stellten den jungen Schildkröten nach. Sie hätten sehr viel Glück gehabt, dass ihr Gelege nicht einem Rattenteufel zum Opfer gefallen wäre, erklärte Hans. »Schon lange hat keine Schildkröte mehr ihr erstes Jahrzehnt überlebt. Der Jüngste des Clans ist der schöne Marc, und der ist auch schon fast sechzig.« Früher, als der alte Hans noch jung gewesen war, da hätte es diese Teufel nicht gegeben, erst seit zwei, drei Generationen machten die kleinen Monster die Insel unsicher. »Sie sind mit den Riesenolmen gekommen, über das Meer!«

Laut Hans waren es die Olme, die alles durcheinandergebracht hatten. Bei der Ankunft der ersten Olme habe es hier viel mehr Schildkröten gegeben, einige Hundert, nicht bloß das Anderthalbdutzend von jetzt.

»Was sind denn Olme?«, wollten die drei Jungschildkröten wissen.

Die Olme, erzählte Hans, waren in gewaltigen schwimmenden Nüssen über das Meer gekommen. Sie waren, neben Schildkröten und Seelöwen, die größten Tiere der Insel. Da sie wie eine Riesenform jener bleichen Olme aussahen, die in den krautigen Tümpeln unterhalb des Vulkans lebten, hatte man die Neuankömmlinge demselben Stamm zugeordnet. Eine Art aufrecht gehender, schwanzloser Landlurche. Genau wie ihre kleinen Cousins aus dem Tümpel hatten sie an beiden Seiten des Kopfes Kiemen. Jahrhunderte der Observation hatten allerdings ergeben, dass die neuen Olme über Lungenatmung verfügten und ihre Kiemen zu Sinnesorganen mutiert waren, offenbar um Schallwellen aufzufangen. Dafür bereitete es den Olmen anscheinend große Mühe, Gedankenwellen zu sehen oder zu hören; sie verständigten sich stattdessen durch eine primitive Geräuschsprache. Aber sie konnten gut basteln, benutzten Werkzeuge und planten im Voraus, waren also schon relativ schlau und hatten eigene Gedanken. Allerdings flitzten diese so schnell und schillernd dahin wie ein Schwarm fliegender Fische, sodass es den Schildkröten unmöglich war, einen Sinn herauszulesen.

Etwa zwanzig Olme waren eines Tages auf der Insel gelandet, sie waren in einer walfischgroßen Nussschale über das große Meer gekommen. Die Nussschale wurde angetrieben durch Windkraft, die von einem Segel aufgefangen wurde, die gleiche Antriebsart, wie man sie auch bei den großen lila Quallen, die manchmal angespült wurden, beobachten konnte.

Wie ihre aquatischen Verwandten schienen auch die neuen Olme Fleischfresser. Sofort nach ihrer Ankunft hatten sie damit begonnen, Jagd auf Robben, Vögel und leider auch Schildkröten zu machen. Dann hätten sie Feuer entfacht, was natürlich vollkommen verantwortungslos war, gerade in der Trockenzeit, und die toten Tiere darüber gegrillt.

Karl, Alfa und Max erschauerten. Feuer! Ganz großes Tabu.

Die ersten Olme waren nicht lange geblieben. Nachdem sie aufgegessen und sich ausgeruht hatten, waren sie wieder in ihre Nussschale geklettert und davongesegelt. Allerdings hatten sie einige Riesenschildkröten mitgenommen, lebend. Sie waren wohl auf den Geschmack gekommen. Aus der Tatsache, dass sie die Schildkröten lebend mitnahmen, hatte man deduziert, dass diese als Proviant dienten, und daraus wiederum, dass die Olme eine ziemlich lange Rückreise in ihre Heimat, das Land der Riesennüsse, vor sich hatten. Das hatte Hoffnung gemacht, dass man diese komischen Kreaturen niemals wiedersehen müsse. Aber weit gefehlt. Kaum zehn Jahre später legte erneut eine olmische Halbnuss an, nein, diesmal sogar zwei.

»Bald kamen immer mehr und immer häufiger Olme auf die Insel«, erzählte Hans. »Sie töteten nicht nur Tiere, sondern sammelten auch Nüsse und Früchte und füllten schildkrötenpanzergroße Nussschalen mit frischem Quellwasser.«

Demnach waren sie keine reinen Fleischfresser, aber das machte es auch nicht besser. Die Rattenteufel waren in den schwimmenden Nüssen mitgereist und breiteten sich in rasendem Tempo auf der Insel aus, während die einheimischen Reisratten, allesamt harmlose Gesellen, ebenso schnell ausstarben.

Schließlich begannen auch Olme auf der Insel zu nisten, in bizarren Wohngebirgen, die sie aus Stein oder Holz zusammenklebten. Mit den Olmsiedlern kamen die ersten Hunde- und Katzenteufel. Hundeteufel jagten tagsüber, Katzenteufel vor allem nachts. Erwachsenen Schildkröten konnten sie nichts anhaben, aber der Nachwuchs wurde furchtbar dezimiert.

Und dann die Ziegenteufel. Das waren zwar Pflanzenfresser, aber sie schienen in einer Art Symbiose mit den Olmen zu leben und wurden von diesen beschützt und gehütet. Man war vollkommen machtlos gegen diese mächtige Koalition. Die aggressiven Ziegenteufel hatten nacheinander die Weiden Nummer eins, Nummer zwei, vier und sechs besetzt. »Und wir Riesenschildkröten mussten sehen, wo wir bleiben!«

Zum Glück konnten Schildkröten bis zu ein Jahr ohne Essen überleben, aber ein Spaß war das selbstverständlich nicht. Zum ersten Mal lernten die einstigen Herrinnen der Insel, was Hungern bedeutet.

Ganze Wälder wurden von den Olmen gerodet oder niedergebrannt und durch Felder ersetzt, auf denen die umtriebigen Lurche ihre Nahrungspflanzen anbauten. Leckere neue Sorten waren darunter: Mais, Kürbisse, Gurken. Und Riesentomaten, viel roter und fruchtiger als die einheimische Sorte. Allein, die Olme teilten nicht gern und vertrieben oder töteten jedes Tier, das ihren heiligen Feldern zu nahe kam. Von einem einzelnen Olm drohte einer erwachsenen Riesenschildkröte keine Gefahr. Aber ein halbes Dutzend, die konnten eine Schildkröte einfach davontragen, in eine Schlucht werfen oder bei lebendigem Leibe im Panzer kochen. Nach einigen Jahrzehnten Olm- und Teufelinvasion waren kaum hundert Schildkröten übrig. Andere Tierstämme waren ganz verschwunden.

Olme schienen fast nie zu schlafen, wohingegen 16 Stunden Schlaf pro Tag doch die Grundlage für ein gesundes und balanciertes Schildkrötenleben waren. Vielleicht waren die Olme aus Schlafmangel so nervös und paranoid. Man hoffte allgemein, dass der vermehrte Kontakt mit einer hoch entwickelten Schildkrötenpopulation sie etwas voranbringen würde. »Und es ist tatsächlich längst nicht mehr so schlimm wie in meiner Jugend«, musste Hans zugeben. Die Olme hatten sich mittlerweile bequem auf der Insel eingerichtet und produzierten genug Nahrung, sodass sie keine Schildkröten mehr fraßen. »Von den anderen Neuankömmlingen kann man das leider nicht behaupten!«

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