Die Status Quo Autobiografie

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Wir konnten es nicht abwarten, nach Butlin’s zu kommen. Nicht nur, weil wir regelmäßig Geld für unsere Arbeit erhalten sollten, sondern auch, weil wir uns auf einen unbeschwerten Sommer in einem Ferien-Camp freuten, von dem wir uns erhofften, dass uns viel Zeit bliebe, um Vögeln hinterherzujagen. Fairerweise muss man sagen, dass es uns gelang, auch das irgendwie im Programm unterzubringen, aber schon bald merkten wir, in was für eine Mühle wir uns da hineinbegeben hatten. Wir mussten jeden Nachmittag zwei oder drei Stunden lang spielen und am Abend noch einmal für zwei oder drei Stunden. Am Ende bestand unser Set aus rund 50 Songs – und das zweimal pro Tag, sechs Tage die Woche. Es war der helle Wahnsinn. Ich weiß bis heute nicht, wie wir damit klarkamen. Ab der dritten Woche haben wir wohl einfach den Autopiloten eingeschaltet. Für uns Musiker war das aber eine gute Übung, wir wurden sehr fit. Wenn du jeden Tag solange auf der Bühne stehst, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder man kriegt einen Kollaps und bricht zusammen, oder man wird wirklich gut. Wir wurden so fit, dass wir eine andere Band waren, als wir einige Monate später wieder nach London zurückkamen.

Als wir ins Butlins-Camp kamen, wies man uns ein Pub auf dem Gelände als Auftrittsort zu – das Pig & Whistle. Es war ein großartiger Ort, es gab auch eine große Bühne, aber dennoch war es ein Pub, vollgestellt mit Tischen und Stühlen. Nicht gerade die Szenerie, die wir uns erhofft hatten. Wir bekamen mit, dass es im Camp auch noch einen anderen Veranstaltungsort gab, den Rock’n’Roll Ballroom, und so machten wir solange Rabatz, bis sie uns dort spielen ließen. Nachdem wir einige Wochen dort aufgetreten waren – die Sommersaison war voll in Gang – dämmerte uns langsam, dass sich kaum einer in diesen Rock’n’Roll Ballroom verirrte. Alle versammelten sich im Pub. Nachmittags war es noch schlimmer. Da hattest du außer ein paar Neugierigen, die einfach nur mal kurz die Nase reinstreckten, gar kein Publikum. Am Abend spielten wir dann meistens vor einem Dutzend Leuten. Erst in den 20 Minuten, kurz bevor das Pub zumachte, füllte sich der Ort schlagartig mit feuchtfröhlichen Campern, die alle sturzbetrunken waren und abrocken wollten.

Selbst da hatten wir einen Job zu erfüllen – wir mussten den Leuten Vergnügen bereiten. Als wir im Camp ankamen, waren wir noch schrecklich naiv und meinten, wir sollten nichts allzu Zeitgemäßes spielen. Wir dachten, es würde uns hipper machen, wenn wir alte Cover-Versionen zum Besten gaben – von den Everly Brothers, Bill Haley, Chuck Berry und so. Was ja an sich alles nette Sachen sind, aber nicht unbedingt das, was sich die Zuschauer in einem Ferien-Camp wünschen: die wollen eher Musik wie aus der Jukebox, die gerade angesagten Hits. Folglich gingen wir an den meisten Abenden wie begossene Pudel von der Bühne. Der einzige Teil der Show, der immer gut funktionierte, war, wenn Roy loslegte und seine absolute Lieblingsnummer „I Can’t Help Falling In Love With You“ brachte. Er sang sie gewöhnlich in dieser sülzigen Elvis-Stimme und erntete damit jedes Mal ohrenbetäubenden Applaus. Wir dachten, okay, wir sind durch, aber bei der nächsten Nummer, egal welcher, und wir probierten wirklich viele aus, war gleich wieder tote Hose.

Auf diese Weise lernten wir, dass das Konzept, einfach Songs zu spielen, die wir mochten, bei einem Live-Publikum nicht unbedingt ein Erfolgsgarant ist. Live vor einem Publikum zu spielen, egal, wie groß es ist, und egal, wo man spielt, ist etwas völlig anderes als Platten aufzunehmen. Da ist eine völlig andere Chemie am Wirken. Wenn du ein Album machst, kannst du dir die Freiheit nehmen, dein Ding zu machen. Live musst du deine gesamten Antennen ausgefahren halten, damit du mitbekommst, was das Publikum in dem Moment gerade braucht. Da gibt es keinen Raum für irgendeinen Quatsch. Du kannst die Leute mit einem Song abturnen, wenn du nicht aufpasst. Dein Bühnen-Set muss ausgewogen sein. Aber das mussten wir damals erst noch lernen, und so gesehen waren die Auftritte im Butlins-Camp wirklich unbezahlbar. Nicht nur, weil wir Erfahrung sammeln konnten mit unseren eigenen Auftritten, sondern auch weil wir andere Bands spielen sahen. Da gab es außer uns noch die Olympic Five, die immer „The Hucklebuck“ spielten, eine Nummer, auf die die durchgeknallten und besoffenen Typen total abfuhren. Als die Sache für uns am Anfang noch nicht so gut lief, sah ich mir ein paar Mal vom Seitenrand der Bühne aus an, wie die Olympic Five ihr bescheuertes „Hucklebuck“ spielten, und dachte nur: Hmmmm …

Bis zum Ende der Saison hatten wir uns auch ein paar Tricks abgeguckt, und ich bin heute davon überzeugt, dass aus uns nicht halb so viel geworden wäre, wenn wir das nicht durchgestanden hätten – ähnlich wie die Beatles, die ja auch mehrmals am Abend im Hamburger Star Club auf der Bühne standen. Wir kehrten nicht nur als eine Band nach London zurück, die total fit war, sondern hatten auch viele Erfahrungen gemacht. Wir wussten jetzt, wie man ein Publikum mitreißt, und fühlten uns zu allen Schandtaten bereit.

Allerdings ahnten wir nicht, dass dies erst der Anfang war.


Dass ich später einmal Geschmack an schnellen Autos, geilen Rennbooten und noch geiler aussehenden Frauen finden sollte, zeichnete sich bei mir als Kind kaum ab. Das einzige Spielzeug, das vielleicht ein bisschen in diese Richtung wies, war ein aufziehbarer Zug, den ich heiß und innig liebte. In einer meiner frühesten Kindheitserinnerungen sitze ich unten auf der Straße und spiele mit diesem Blechzug, stecke ihm den Schlüssel an der Seite rein und sehe zu, wie er unaufhörlich im Kreis herum fährt. Was mir, mal abgesehen von diesem kleinen Zug, auch im Gedächtnis geblieben ist, sind die zerbombten Häuser auf der Straßenseite gegenüber, die ich immer noch vor mir sehe. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg konntest du durch die Löcher in den eingestürzten Wänden bis in die Wohnzimmer schauen und dort die Tapeten erkennen.

Wir wohnten in Colliers Wood, im Südwesten von London, in einer Straße mit dem Namen Cottage Grove – ein Ort, an den ich immer mal gerne zurückgekehrt wäre, der aber wie vom Erdboden verschluckt ist. Was ich echt bedauere, da ich es liebe, Orte aus der Vergangenheit aufzusuchen und zurückzublicken. Es ist praktisch ein Hobby von mir. Ich fahre beispielsweise des Öfteren mal in die Ecke, wo wir wohnten, als ich zehn war, weil es da immer noch genauso aussieht wie damals. Ich sitze dann in meinem Auto und frage mich, ob ich mir damals als Kind jemals hätte vorstellen können, dass ich mal Gitarre spielen und in einer mordsmäßig erfolgreichen Rock-Band singen würde.

Leider existieren die Straßen, in denen ich bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte, schon lange nicht mehr. Dort gibt es jetzt Mietwohnungen und neue Immobilien. Wenn es Cottage Grove heute noch gäbe, hätte man mich dort mehr als nur einmal in den vergangenen Jahren finden können – wie ich da sitze und in meinen Erinnerungen schwelge. Ich halte immer noch Ausschau nach der U-Bahn-Station von Colliers Wood, wenn ich in der Gegend vorbeifahre, selbst heute noch. Dort gibt es eine Kirche, und als ich drei war, kletterten wir über die Eingangstreppen und setzten uns auf das Dach eines Telefonhäuschens, das direkt daneben stand. Damals wurde niemand weggejagt. Alle wussten, dass man nichts Böses im Schilde führte und dass es einfach ein Riesenspaß war, als Kind auf so einer Telefonkabine zu hocken und dem Treiben unten zuzusehen. Sobald ich dort hinfahre, kommt mir das automatisch in den Sinn. Das Telefonhäuschen gibt es immer noch, aber jetzt ist es eine moderne Kabine der British Telecom. Die Kirche hat sich aber nicht verändert, und wenn ich sie sehe, werde ich etwa 50 Jahre zurückversetzt.

Es war üblich in meiner Familie, den Kindern die Namen von Prinzen zu geben – eine Tradition, die auch ich mit meinen beiden Jungs, Richard und Harry, fortgeführt habe. So erhielt ich, als ich am 12. Oktober 1948 geboren wurde, den Namen Richard John Parfitt. Ich weiß nicht, ob meine Eltern das bewusst so entschieden hatten oder ob es sich einfach so ergab. Aber sie hatten außer mir keine Kinder und so tendierten sie dazu, mich zu verhätscheln. Was ich bis heute mag – ein bisschen verwöhnt zu werden.

Meine Mum hieß Lillian – oder einfach Lil, wie ihre Freunde sie nannten. Sie und ihre Geschwister, vier Schwestern und drei Brüder, waren in Stepney geboren, im Londoner East End, wo ihre Familie schon seit Generationen siedelte. Sie waren waschechte Eastender: taff und einfallsreich, aber viel fröhlicher als der depressive Haufen in der gleichnamigen TV-Serie.

Der Name meines Vaters lautete Richard. Seine Kameraden kannten ihn als Dick und er stammte ursprünglich aus Newmarket, aus dem Herzen einer Gegend, die heute York Region genannt wird. Er kam aus einer noch kinderreicheren Familie als meine Mum: mit zwölf Brüdern und zwei Schwestern. Newmarket war und ist auch heute noch die Stadt der Pferderennen, aber den einzigen Kontakt, den die Familie meines Vaters – mal abgesehen vom dämlichen Job des Stalljungen – mit den Pferdchen hatte, war, wenn wir Wetten auf sie abschlossen.

Ich wusste es damals nicht, aber inzwischen habe ich nachforschen lassen: Der Name Parfitt geht ursprünglich zurück auf französische Adlige aus dem 11. Jahrhundert. Parfitt leitet sich offensichtlich ab von Parfait, was übersetzt „der Perfekte“ heißt. Es gibt sogar ein Waffenschild, das ich jetzt bei mir zu Hause habe, und im Wappen sind die Worte eingraviert: „En. Tout. Parfait.“ Was so viel bedeutet wie: in allem perfekt. Manchmal blicke ich zu diesem Wappen rüber und denke an mein vergangenes Leben zurück … nun, lacht ruhig! Solche Informationen aus der Geschichte haben mich wirklich interessiert, und so grub ich weiter in der Vergangenheit herum und entdeckte, dass der Name Robert Parffette zum ersten Mal in England im Jahr 1273, in Lincolnshire, aufgetaucht war. Gemäß der Kopfsteuer, die 1379 in Yorkshire erhoben wurde, war dort bereits ein Richard Parfite wohnhaft. In der Englischen Literatur findet sich der Name erstmals bei Chaucer, der im 14. Jahrhundert über „a verray parfit gentil knight“ schrieb. Das war ich, keine Frage …

 

Cottage Grove war eine Sackgasse. Wir lebten auf der einen Seite und ich erinnere mich, dass mich meine Mutter ermahnte, nicht auf die andere Seite rüberzugehen, um dort mit den „Rotznasen“, wie sie sie nannte, zu spielen. Sie meinte damit nicht, dass diese Kinder Snobs waren, sondern dass sie eben immer triefende Nasen hatten, und sie wollte einfach nicht, dass ich mit solchen Kindern spielte. Ich war ihr einziges Kind und sie hatte für mich wohl „Besseres“ geplant. Nicht dass mich das daran gehindert hätte, weiterhin rüberzugehen und mit den Kids zu spielen. Ich verstand nicht, warum das ein Problem war. Sie waren Kinder wie ich, und ohne einen Bruder oder eine Schwester, mit denen ich hätte spielen können, stand ich nur vor der Wahl, entweder mit denen oder alleine zu spielen – und das will nun mal kein Kind.

Meine Großmutter mütterlicherseits hieß Maude, aber alle nannten sie einfach nur Nan. Sie besaß eine Café-Kette – billige Schnellrestaurants, in denen Arbeiter gerne verkehrten. Alle hießen Miller’s, was auch der Mädchenname meiner Mutter war. Einen dieser Schuppen gab es in Colliers Wood, einen in Clapham und zwei in Woking. Mein Vater und meine Mutter arbeiteten beide im Familienunternehmen und betrieben das Café in Colliers Wood. Was ich allen immer wieder ins Gedächtnis rufe, wenn ein Restaurant-Service oder ein Catering gesucht wird: „Mach dir keine Sorgen, überlass das nur mal mir, ich bin in Cafés groß geworden.“ Finanziell ging es meinen Eltern also gar nicht so schlecht, als ich geboren wurde. Wir lebten alle im gleichen Haus wie Nan, und soweit ich mich erinnern kann, war das ein ganz beachtliches Anwesen.

Dann passierte etwas, das für mich als Kind wirklich einen Einschnitt bedeutete. Auf einmal brachen wir unsere Zelte ab und zogen nach Harlow um. Dad muss wohl damals beschlossen haben, aus dem Familienunternehmen auszusteigen, da er diesen Beruf gänzlich an den Nagel hängte und Versicherungskaufmann wurde. Vielleicht wollte er ja damit beweisen, dass er es auch alleine schaffen konnte, oder er hatte einfach einen Blackout, keine Ahnung, sie haben es mir nie gesagt. Ich weiß nur, dass wir anschließend in Harlow wohnten, weg von der Familie meiner Mutter und näher bei Ivy, der Schwester meines Vaters, und mehr in der Nähe seiner Brüder.

In Harlow hatte ich dann auch meinen ersten schlimmen Unfall. Meinen „ersten“, weil ich seitdem in meiner gesamten Kindheit besonders anfällig für Unfälle war. Ich habe immer noch vor Augen, wie meine Mutter dastand, die Stirn in Falten zog und meinte: „Wenn irgendetwas passieren soll, dann ist es bestimmt Rick, dem es passiert.“ Beim ersten Mal war ich ungefähr fünf und quetschte mir im Gartentor den Finger. Ich schaute zu, wie mein Spielkamerad auf dem Tor schaukelte, aber ich hatte meine Hand in der Türangel, und als er so sehr schaukelte, dass das Tor ins Schloss fiel, schnitt er mir dabei den halben Finger ab. Ich erinnere mich, wie ich um die Ecke rannte und „Mami, Mami, Mami!“ schrie. Wie es der Zufall wollte, war sie gerade unterwegs beim Einkaufen. Als sie zurückkam, sah sie mich auf sich zu rennen, von oben bis unten mit Blut verschmiert und mit einem halb herabhängenden Finger.

Wie viele andere auch, hatten wir damals kein Telefon, und so konnte sie nicht einfach einen Krankenwagen rufen. Sie musste mit mir die Hauptstraße hoch rennen bis zur Apotheke in dem Teil von Harlow, den sie Harlow’s Old Town nannten. Sie war fast hysterisch, aber der Apotheker klemmte mir den Finger einfach wieder dran, tränkte ihn in Jod, band ihn ab und schickte mich damit ins Krankenhaus, damit sie ihn mir dort wieder fein säuberlich annähen konnten. Mein Gott, was für eine Tortur war das! Ich habe heute noch diesen ungesunden Jodgeruch in der Nase, und sobald ich in ein Krankenhaus komme, fällt mir wieder genau jener Tag ein.

Nicht allzu lange danach verletzte ich mich am Arm und trug ihn schließlich in einer Schlinge. Dies beeinträchtigte aber meinen Gleichgewichtssinn, sodass ich stolperte und direkt auf einen Backstein fiel. Dabei zog ich mir eine schlimme Platzwunde am Kopf zu. Ein kleiner Teil des Steins hatte sich direkt in mein Gesicht eingegraben und musste herausoperiert werden. Ich habe viel Geld bezahlt, um das wieder richten zu lassen, aber jahrelang musste ich mit dieser Kerbe im Gesicht herumlaufen. Ein anderes Mal fiel ich von einem Baugerüst, auf dem ich eigentlich nicht hätte spielen sollen, und schlug mir dabei ein Stück aus meinem Wangenknochen aus, das ich mittlerweile auch wieder in Ordnung habe bringen lassen. Dann kam der Augenblick, in dem ich an einem Samstagvormittag, man kann es sich lebhaft vorstellen, von einem Auto angefahren wurde. Was mit sechs Stichen am Kinn endete, wovon ich immer noch die Narben habe. Und als ob all das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, stieß ich ein paar Tage später auf dem Schulhof frontal mit einem anderen Kind zusammen, was mir erneut das Kinn spaltete. Ein anderes Mal wiederum rannte ich in einen eisernen Haken, der von der Unterseite einer Brücke herunterhing, und musste mit 14 Stichen oben am Schädel genäht werden. Da wir kein Auto hatten, musste mich mein Vater auf dem Arm ins Krankenhaus tragen. Ich war es als Kind derart gewohnt, einen Verband zu tragen, dass ich mir einfach eine Sonnenbrille aufsetzte und behauptete, ich sei der Invisible Man.

Wir waren gerade mal ein Jahr oder so in Harlow, da zogen wir schon wieder um – diesmal nach Woking in Surrey. Ich weiß nicht, wie glücklich meine Eltern mit ihrem neu gewählten Leben waren, aber als Nan das Café in Colliers Wood verkaufte, in Woking ein neues eröffnete und meinen Eltern anbot, wieder ins Geschäft einzusteigen und den Laden zu führen, nahmen sie dankbar an.

Woking ist heute natürlich nicht mehr das Woking von einst. Es liegt zwischen Portsmouth und London und hat sich von einem ruhigen, grünen Vorort, wie ich ihn in meiner Kindheit kannte, zu einer aufstrebenden Satellitenstadt entwickelt, in der viele Londoner Geschäftsleute logieren. Viele der Läden und Kinos aus meiner Kindheit sind verschwunden. Da hat sich viel getan. Und es ist eine Schande, denn ich erinnere mich noch an das Woking wie es war, als wir anfangs dort wohnten: eine wunderschöne, ruhige kleine Stadt.

Ich besuchte die Goldsworth School in der Goldsworth Road. Das neue Café lag ebenfalls in der Goldsworth Road, und ich erinnere mich, dort sehr glücklich und zufrieden gewesen zu sein. Es war wiederum in Goldsworth, wo ich meine erste Freundin kennen lernte – Josephine Tickner. Ich kann eigentlich nicht viel älter als sechs gewesen sein, aber ich verliebte mich unsterblich in sie. Manchmal sind wir zusammen von der Schule nach Hause gelaufen. Sie hatte nie schwere Bücher zu tragen, aber hätte sie welche gehabt, ich hätte sie ihr gerne abgenommen. Ich erinnere mich, dass ich sie einmal geküsst habe und dann hoffte, dass sie kein Baby von mir bekam.

Aber hauptsächlich hing ich mit Jungs herum. Auf unserem Heimweg von der Schule kamen wir regelmäßig an einem alten Kanal vorbei, über den eine Brücke führte. Meine Mutter ermahnte mich mehrmals: „Geh nicht so nah an den Kanal ran.“ Aber wir gingen natürlich jeden Nachmittag genau dorthin, um zu spielen. Brücken und Kanäle haben auf kleine Jungs eine magische Anziehungskraft. Jungs wittern an ihnen das Abenteuer. Und dann war da der Kanal selbst. Das Wasser war bedeckt mit einem Algenteppich und bereits umgekippt. Das alles hatte einen ganz besonderen Reiz für uns. Solange bis eines schönen Nachmittags der Unfall-Champion Rick hineinfiel.

Ich hatte mir eigentlich gar nicht weh getan dabei, aber der Gedanke, jetzt nach Hause gehen und zugeben zu müssen, dass ich mich da unten am Kanal herumgetrieben hatte und auch noch reingefallen war, erschien mir viel schlimmer als irgendein körperlicher Schmerz. Ich dachte, jetzt bist du tot. Doch zu meiner Überraschung reagierte meine Mama gar nicht sauer. Sie war wohl einfach total erleichtert, dass ich nicht ertrunken war und verzieh mir sofort. Kein Wort wurde mehr darüber verloren. Nur einen Tag später war ich erneut unten am Kanal.

Deshalb war ich aber noch lange kein unartiges Kind. Alle Kinder stellen die Geduld ihrer Eltern auf die Probe und testen aus, wie weit sie gehen können. Auch war ich nicht schwer erziehbar oder so, höchstens ein bisschen vorlaut. Da ich im Café gewöhnlich mit vielen Leuten in Kontakt kam, hatte ich nie ein Problem mit anderen. Ich verstand mich mit jedem. Um mir ein bisschen Taschengeld zu verdienen, trug ich manchmal die Teller mit dem Essen zu den Tischen oder von dort in die Küche zurück. Anschließend ging ich mit einer kleinen Kasse herum und fragte, ob vielleicht einer der Anwesenden bereit war, einen Penny oder einen halben Penny reinzuwerfen. Viele von ihnen erlagen dem Charme des kleinen blonden Jungen, der ihnen so nett den Tee an den Tisch gebracht hatte. Am Ende der Woche hatte ich dann drei oder vier Schilling beisammen, was für mich als Kind natürlich ein Vermögen war.

Heute ist das Café ein Motorradladen. Es ist noch gar nicht lange her, da war ich an einem Sonntagnachmittag mal da draußen. Ich hockte im Auto, nahm die Atmosphäre in mich auf und ließ meine Erinnerungen an mir vorüberziehen. Als ich durchs Fenster schielte, konnte ich die Tür sehen, die in den hinteren Teil führte. Durch sie waren wir damals immer gegangen, wenn wir in unsere Spülküche wollten. Dann schaute ich zu dem Fenster hoch, hinter dem sich einst mein Schlafzimmer verbarg. Es erscheint mir jetzt so winzig. Man kann durch das vordere Fenster des Ladens natürlich nicht bis dahin schauen, aber in meinem Kopf habe ich immer noch das Bild von dem Garten dahinter, wo ich immer Lager baute. Ich schleifte alte Wellblechteile und alles, was ich sonst noch so an altem Schrott finden konnte, in den Garten, um mir dort ein Versteck zu bauen. Darin spielte ich dann all die kriegerischen Kämpfe nach, die ich zuletzt im Fernsehen oder in Comics gesehen hatte. Ich liebte es, wenn es regnete. Dann war es in meinem Lager am gemütlichsten. Ich hockte da, lauschte den Regentropfen, die auf das Wellblechdach trommelten, freute mich, dass ich nicht nass wurde, und dachte: Hier bin ich sicher. Ich bin in meinem Lager, umgeben von meiner Armee.

Am Ende des Gartens gab es auch eine Bäckerei. Von dort wurde viel von dem Zeug, das sie im Café benötigten, angeliefert, und ich liebte den Duft von frisch gebackenem Brot, der jeden Morgen über die Gartenmauer herüberwehte. Manchmal bin ich reingegangen und habe Marmeladenkuchen gemacht oder einfach ein bisschen mitgeholfen. Es waren wunderschöne Tage. Alle meine Erinnerungen an diese Zeit sind so rein und schön.

Wir wohnten in einer Wohnung über dem Café. Meine Oma aber lebte in einem richtig schönen Haus gleich eine Straße weiter, in der Maybury Road. Ich würde liebend gern mal wieder hineingehen, aber da wohnt jetzt eine Familie und ich habe ein bisschen Schiss, einfach anzuklopfen und zu fragen, ob ich mal reinkommen und mich ein bisschen umschauen dürfe. Ich bin sicher, dass sie es mir sofort erlauben würden, wenn ich es ihnen erklärte, allein das Erklären fällt mir irgendwie schwer. Ich fahre oft am Haus vorbei, aber ich konnte noch nie den Mut aufbringen, zu läuten. Das Verrückte ist, dass das Haus in meiner Erinnerung riesig ist. Es gab schließlich fünf Schlafzimmer und Oma hatte gewöhnlich noch an weitere Leute untervermietet. Wenn ich jetzt aber daran vorbeigehe, erscheint mir das Haus recht bescheiden. Obwohl es natürlich immer noch diesen wunderschönen großen Garten mit den Obstbäumen gibt.

Am spannendsten war für mich in jenen Tagen, wenn ich zu Omas Haus rüberging, dass sie damals schon eine Fernbedienung besaß. Das war circa 1955 und somit muss es sich um eines der ersten Modelle gehandelt haben, die auf den Markt kamen. Eigentlich war es kaum mehr als ein langer weißer Draht, der mit dem Fernsehapparat verbunden war, und es gab auch nur einen einzigen Knopf, mit dem man ein- und ausschalten konnte. Aber für mich war es das geilste Ding, das ich je gesehen hatte.

Das nächste, woran ich mich aus jener Zeit erinnere, war mein erstes richtiges Fahrrad. Es war ein Rad der Marke Elswick und ich hatte meine Eltern so lange angebettelt, bis sie es mir zu Weihnachten schenkten. Ich war halb krank vor Aufregung, als ich die Treppe runterkam an jenem Morgen und unter dem Weihnachtsbaum das Fahrrad stehen sah. Später hatte ich dann ein Rennrad, ein wirklich schönes Exemplar, mit geschwungenem Lenker und Fünf-Gang-Schaltung. Ich ließ zuweilen andere Kinder damit fahren, im Tausch gegen Murmeln. Die Murmeln waren damals unser Zahlungsmittel. Murmeln oder Rosskastanien.

 

Weihnachten war sowieso immer eine besonders schöne Zeit. Ich erinnere mich hauptsächlich noch an die Kinderpistolen und Spielzeugautos. Wie in weiser Voraussicht war das bei mir am höchsten gehandelte Utensil damals dieser silberne Spielzeug-Mercedes, so groß wie ein Schuhkarton. So etwas nannte man damals „Friction-Action“-Autos. Man hat sie auf den Boden gestellt, mit den Rädern nach hinten geschoben, und wenn man losgelassen hat, rasten sie nach vorne. Phantastisch! Dann besaß ich noch einen grünblauen McLaren-Rennwagen, den ich auch heiß und innig liebte. Ist es da ein Wunder, dass ich mir, als ich groß war, die Sachen in echt wünschte?

Paradoxerweise hatten wir aber in unserer Familie erst ein Auto, als ich Teenager war. Nur sehr wenige Leute, die wir kannten, hatten damals ein Auto. In der Straße, in der wir wohnten, parkte kein einziger Wagen. Eines Tages kam dann mein Vater und verkündete wie aus heiterem Himmel, er habe ein Auto gekauft. Ich flitzte nach draußen, um es mir anzuschauen. Und da stand dieser kleine schwarze Standard 8 mit dem Union Jack vorne auf der Kühlerhaube. Ein hübsches, glänzendes Vehikel. Ich habe immer noch das Nummernschild im Kopf – DHO 455. Ich habe jahrelang versucht, dieses Nummernschild wieder aufzutreiben, aber entweder es existiert nicht mehr oder jemand hat es und will es nicht herausgeben. Jammerschade! Denn das Auto war, glaube ich, Baujahr 1954, und dieses Nummernschild würde viele kostbare Erinnerungen in mir wachrufen.

Es stellte sich heraus, dass mein Dad bei einem Kumpel, der einen Anglia fuhr, heimlich Fahrstunden genommen hatte. Er bestand die Fahrprüfung auf Anhieb. Doch wir bekamen das alles erst mit, als er eines Tages mit diesem Auto aufkreuzte. Später tauschte er den Wagen gegen einen Rover 12 ein, doch als er diesen verkaufte, holte er sich wieder einen Standard 8. Diese Autos waren für die damalige Zeit einfach kleine Wunderwerke. Ich weiß nicht, wo er den ersten aufgetrieben hatte oder wie viel er dafür bezahlte, aber das Auto war eine Wucht. Die vorderen Scheinwerfer waren aus Chrom und saßen direkt auf den Kotflügeln. Ich war einfach hin und weg. Woran ich mich auch noch erinnern kann, ist der Geruch im Wageninneren – einfach prächtig. Ich mag den Geruch in Autos bis heute, ich bin ein richtiger Autogeruchsschnüffler. Sobald ich in ein neues Auto einsteige, dringt sofort dieser typische Autogeruch in meine Nase – das ist für mich besser als jedes Parfum. Ich kann ihm nicht widerstehen.

Wie dem auch sei, Dad fuhr jedenfalls mit uns eine Runde um den Block. Ich kann mich erinnern, wie er sagte: „Guck mal, mein Junge – 30 Meilen die Stunde!“ Es war ein wunderbarer Augenblick. Von da an waren Autos, nach den Gitarren, meine größte Leidenschaft. Es ist ein Wunder, dass ich nicht Rennfahrer geworden bin oder Automechaniker. Ich habe mich immer für Motoren interessiert und wie viel PS sie hatten. Was man in jenen Tagen am häufigsten auf Großbritanniens Straßen sah, waren Autos mit Verbrennungsmotoren, die sechs oder acht PS hatten: egal ob das ein Austin 6 oder ein Morris 8 war. Wenn man mir damals erzählt hätte, dass ich später einmal ein Auto mit 600 PS fahren würde, hätte ich das wohl nicht geglaubt. Es wäre ungefähr so gewesen, wie als wenn man mir gesagt hätte, ich würde eines Tages auf einem fliegenden Teppich daherkommen. Als meine Oma starb, mussten wir aus der Maybury Road ausziehen und auf einmal war unser Familienleben wieder in Aufruhr. Das Haus und das Café wurden verkauft und wir saßen buchstäblich auf der Straße. Warum das so passierte, weiß ich nicht. Kurz bevor meine Mum vor ein paar Jahren starb, fragte ich sie, was aus dem ganzen Geld geworden sei, und sie schüttelte nur traurig den Kopf und meinte, dass Oma eine Menge Schulden hinterlassen habe, als sie gestorben sei. Mehr musste sie mir gar nicht sagen. Ich wusste, was sie damit meinte. Oma liebte es, auf Pferde zu setzen. Sie saß in einem Zimmer mit zugezogenen Gardinen, sah sich die Pferdchen im Fernsehen an und gab telefonisch ihre Wetten durch. Sie setzte auf alles, was den Namen „Tudor“ oder irgendeinen anderen Namen trug, den man mit der königlichen Familie in Verbindung bringen konnte, egal ob der Gaul gerade gut in Form war oder nicht. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass dies nicht unbedingt sehr erfolgreich war. Und so ließ Oma, als sie starb, den Rest der Familie ohne einen einzigen Penny zurück.

Dad verdingte sich wieder als Versicherungsvertreter und für einige Zeit waren wir gezwungen, in einer Bruchbude zu wohnen. Wir teilten uns mit einer anderen Familie, die oben im Gästezimmer hauste, eine Sozialwohnung. Die andere Familie hatte zwei Kinder, und so waren in dieser Behausung vier Erwachsene und drei Kinder untergebracht, die alle versuchten, sich irgendwie zu arrangieren. Wir saßen die meiste Zeit über in einem Raum. Mich hat es eigentlich nicht wirklich gestört, aber für meine armen Eltern war es sicherlich deprimierend. Nach einer Weile zogen wir mit einer anderen Familie zusammen in eine Sozialwohnung am anderen Ende von Woking. Der Gebäudekomplex hieß Elm Bridge Estate, und wieder wohnten wir in einem Zimmer im oberen Stockwerk eines Hauses im Queen Elizabeth Way. Gott sei Dank blieben wir da nur für ein paar Wochen, bevor wir ein Haus für uns alleine bekamen. Es lag in derselben Straße und hatte die Hausnummer 101.

Mit diesem Ort verbindet mich sehr viel, es ist fast schon mystisch, und jeder, der mich gut kennt, weiß das, denn sobald das Gespräch auf den Queen Elizabeth Way 101 kommt, bringt man mich von diesem Thema gar nicht mehr ab. Für mich war es und wird es immer ein magischer Ort bleiben.

Als ich das erste Mal dorthin kam, fand ich auf dem Boden Bambusstecken, die wohl jemand aus irgendeinem Grund dort hatte liegen lassen, und ich erinnere mich, wie ich sie aufhob und mich weiter umsah, während ich dachte, wie ungewöhnlich und phantastisch dieser Ort war. Wir hatten vorne eine Wohnzimmersitzecke, einen richtigen Flur, eine Küche, ein großes Esszimmer, drei Schlafzimmer, ein Bad, eine Gästetoilette, einen Wäscheschrank plus einen phantastischen Garten hinter dem Haus. Dort gab es auch einen Schuppen mit einem Flachdach. Für einen kleinen Jungen, der ideale Ort, um sich dort stundenlang aufzuhalten und das Fort gegen Indianer zu verteidigen – und das alles hatten wir jetzt ganz für uns allein!

Ich konnte fühlen, wie glücklich es auch meine Eltern machte, und so wurde dieser Ort zum schönsten aller Orte, die ich bis dahin gekannt hatte. Ich würde sogar sagen, dass sehr vieles von dem, was sich für mich in meinem Leben seit damals ereignet hat, all das, was mich zu dem gemacht hat, der ich heute bin, auf irgendeine Weise auf jene wundervollen Tage im Queen Elizabeth Way 101 zurückzuführen ist.

Ich habe in der Schule sogar mal ein Gedicht verfasst. Es ging so:

My name is Richard Parfitt

I’m four-foot seven high

I play the guitar, sing la-la

And say: What a good boy am I.

I live at Queen Elizabeth Way