Der Kodex des Bösen

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Von nun an bemühte er sich, so geschäftig wie möglich zu wirken, lief mal hierhin, mal dorthin und betrachtete interessiert die Wappenschilde, die vor den Schlafstätten standen. Zu dumm, dass er von Wappenkunde nun wirklich nichts verstand. Zu gerne hätte er gewusst, woher die Männer kamen, die hier vor den Toren der Stadt Neuss ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nur eines hatte er erkannt. Der gelbe Löwe auf blauem Grund: Dies war das Wappen Rainalds I., des Grafen von Geldern. Die Grafschaft Geldern war eine der mächtigsten der Gegend, und einige Leute sagten, Rainald sei darüber hinaus der rechtmäßige Erbe des Herzogtums Limburg. Doch gerade um diese Erbschaft war vor einigen Jahren ein erbitterter Streit entbrannt.

»Dem Brabanter werden wir schon die Hammelbeine lang ziehen!« Vor dem Zelt, an dem Marcus gerade vorbeikam, standen einige Männer in den unterschiedlichsten Wappenröcken. Marcus bog um die Zeltecke und begann, mit einer Forke das Heu umzuschichten, das dort lag. Von hier aus würde er die Ritter belauschen können, ohne weiter aufzufallen. Vielleicht würde er ja endlich erfahren, warum sich Tausende Bewaffnete ausgerechnet vor den Toren Neuss’ versammelt hatten.

»Erzbischof Siegfried hat ganz recht, wir müssen Herzog Johann von Brabant, diesen Erbschleicher, ein für alle Mal in seine Schranken weisen. Die Sache ist ehrenwert und gottgefällig. Schließlich verhilft Erzbischof Siegfried Graf Rainald nur zu seinem Recht als Witwer der Irmgard von Limburg«, fuhr der Mann fort. Marcus stutzte bei diesen Worten. Im ›Schwarzen Krug‹ hatte er die Sache von einer ganz anderen Warte aus gehört. Ein angetrunkener Wanderprediger war eines Abends in die Schenke gekommen und hatte wutentbrannt davon berichtet, dass der Erzbischof von Köln das Limburger Erbe nach dem frühen Tod Irmgards nur an sich reißen wolle, um seine Ländereien, die einem Flickenteppich glichen, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Er habe bereits mehr als genug Kirchengelder für seine kriegerischen Auseinandersetzungen verwandt, mit denen er besser die Armut des Volkes beseitigt hätte. Nun bediene er sich auch noch des Grafen von Geldern und seiner Vasallen, um seine machtgierigen Ziele zu erreichen.

»Wenn ich nur daran denke, wer alles nach dem Tod der Herzogin Irmgard Ansprüche auf Limburg erhoben hat, wird mir übel!« Der Dicke, der sehr nah an der Ecke zu Marcus’ Lauschposten stand, drehte sich plötzlich um und spie in das Heu, an dem der hellblonde Heranwachsende sich zu schaffen machte. »Graf Heinrich von Luxemburg und Walram ›der Rote‹ von Valkenburg lenkten indes ein und verzichteten auf das Herzogtum. Gottlob, dass sie heute an unserer Seite stehen, um den Kampf gegen den Brabanter aufzunehmen. Doch Graf Adolf von Berg, der Verräter?«

Auch von diesem Landesfürsten hatte der Wanderprediger gesprochen. Der Graf sei ein Vetter der Limburgerin gewesen, hatte er gesagt, und so wären die Rechte durch die Heirat seiner Nichte Margarethe mit dem Sohn des Herzogs von Brabant an das Haus desselbigen übergegangen.

Marcus’ Gedanken drehten sich angesichts dieses Verwirrspiels und den unterschiedlichen Sichtweisen zu ein und derselben Sache. Was war wahr und was nur simples Gerede? Wie sollte er, ein einfacher Mann aus Neuss, dies unterscheiden können? Unmöglich! Marcus rammte die Forke mit einem Ruck ins Heu und ging von dannen. Zumindest wusste er jetzt, dass es hier um verworrene Machtspiele zwischen dem Erzbischof von Köln und dem Herzog von Brabant im Kampf um das Erbe Limburgs ging. Das musste reichen. Die Wut in den Stimmen der Männer ließ Marcus erahnen, dass es wohl unausweichlich zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Getreuen beider Seiten kommen würde. Damit wollte er auf keinen Fall etwas zu tun haben – so viel war klar.

*

»Und ich dachte, Ihr wolltet mit mir keine, sagen wir, ›Geschäfte‹ mehr machen? Umso mehr bin ich überrascht, dass Ihr so dringlich nach mir habt schicken lassen.« Trotz seiner devoten Haltung hatte das Lächeln des hageren Mannes etwas Überhebliches. Mit einem Mal lachte er sogar lauthals und richtete sich kerzengerade auf. Doch sein Gegenüber dachte nicht daran, sich von diesem Gehabe beeindrucken zu lassen.

»Schweigt! Wenn es nicht von äußerster Wichtigkeit gewesen wäre, so wäre ich lieber zur Hölle gefahren, als jemals wieder in Eure hässliche Fratze blicken zu müssen.« Bei diesen Worten holte der Alte einen prall gefüllten Ledersack aus der Schatulle, die geöffnet vor ihm stand, und schüttete die Münzen klimpernd auf den Tisch.

Das aufgesetzte Lachen des Mannes verstummte abrupt. Er zog ein schmutziges Tuch aus seinem löchrigen Gambeson und tupfte sich aufgeregt die Stirn. »Und was ist Euch so wichtig, dass eine solch hohe Summe den Besitzer wechseln soll?« Jegliche Überlegenheit des Hageren war verschwunden. Stattdessen blitzte aus seinen Augen nur noch unendliche Geldgier.

Der Alte hingegen genoss die Macht der Münzen und lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück. »Wer sagt mir, dass Ihr überhaupt der Richtige für die Aufgabe seid? Ich hege den Verdacht, dass ich mir Eurer Verschwiegenheit nicht mehr sicher sein kann.«

»Oh, nein! Ich habe nie und nimmer mit jemandem über Eure Aufträge gesprochen!« Eilig hob er die rechte Hand zum Schwur. Die Geste wirkte grotesk, da ihm der Zeigefinger fehlte.

»Schwört nicht einen falschen Gotteseid, den Ihr schon bald bereut, wenn Ihr im Feuer des Beelzebubs angekommen seid. Ich war sehr verwundert, als mir mein ärgster Widersacher kürzlich Einzelheiten vortrug, die außer mir nur Ihr wusstet. Einzelheiten, die mit Eurem letzten Auftrag in engem Zusammenhang stehen.«

Der Hagere griff erneut nach seinem Tuch und tupfte nun noch aufgeregter den kalten Schweiß von seiner hohen Stirn.

Ruhig und mit innerer Gelassenheit zählte der Alte ein paar der Münzen ab und stopfte sie in eine kleine Geldkatze aus gelblichem Leder. »Ich will nicht nachtragend sein. Betrachtet dies als Anzahlung«, sprach der Greis mit gnädigem Unterton und warf dem Ausgezehrten das Säckchen zu.

»Anzahlung? Wofür? Was soll ich tun?«

*

Die Dämmerung war hereingebrochen, und die ersten Männer zogen sich bereits in ihre Zelte zurück. In den nächsten Tagen würden sie all ihre Kräfte brauchen. Nach Schlafen stand Marcus nicht der Sinn. Eine Frage nagte ununterbrochen an ihm wie eine Ratte an einem Stück fauligem Fleisch. Eine Frage, in der er bisher noch keinen Schritt weitergekommen war: Wohin sollte er nur gehen? Plötzlich fiel ihm sein Freund Gernot Thelen ein, der auf einem kärglichen Ziegenhof an der Straße nach Büttgen lebte. Seit einigen Jahren waren sie eng verbunden, und Thelen war ihm ein väterlicher Freund geworden, auch wenn sie sich zuletzt nur an den Jahrmarkttagen in der Stadt getroffen hatten. Zu ärgerlich, dass er nicht früher an ihn gedacht hatte. Für heute war es schon zu spät geworden, sich auf den Weg nach Büttgen zu machen. Morgen früh würde er sofort aufbrechen. Er würde dem Ziegenhirten die ganze Geschichte erzählen und war überzeugt, seinem Freund blind vertrauen zu können. Jedoch für diese Nacht musste Marcus sich einen Schlafplatz hier im Lager suchen.

Erst jetzt bemerkte Marcus, dass viele Männer, trotz der einsetzenden Lagerruhe, in ein und dieselbe Richtung eilten wie die Gläubigen zum sonntäglichen Kirchgang. Als er sich umdrehte, um den Vorbeieilenden nachzuschauen, sah er vom Rande des Lagers her einen Feuerschein. Für einen Brand war er, Gott sei Dank, zu schwach. Es musste sich um eine größere Anzahl Fackeln handeln, die dort den Abendhimmel erhellten. Neugierig schloss sich Marcus dem Strom der Männer an und hastete mit ihnen in die Richtung, aus der der warme Lichtschein kam.

Schon wenige Schritte später hörte er die Klänge einer Drehleier, und kurz darauf erreichten sie die erleuchteten Zelte einer Gauklertruppe. Die Spielleute hatten ein kleines Holzpodest errichtet, sodass man dem einsetzenden Treiben selbst aus der letzten Reihe gut folgen konnte. Dies schien auch vonnöten, denn etwa acht Dutzend Männer drängten sich bereits ungeduldig um den Platz. Die Anzahl der Zelte, die sich hinter dem Podest befanden, verriet, dass es sich um eine größere Gruppe Gaukler handeln musste. Die Ärmlichkeit des Lagers ließ hingegen erahnen, dass sie nicht gerade zu den Erfolgreichsten ihres Gewerbes gehörten.

»Tretet näher, verehrte Recken, und lasst Euch befreien vom Trübsal der bevorstehenden Schlacht. Ich, Meister Dominikus von Dobberstein, werde Euch mit meinen Mannen – und natürlich mit unserer holden Weiblichkeit – auch heute wieder in ein Bad der Freude, an einen Hort der Glückseligkeit entführen.«

»Wo ist die Rote?«, brüllte ein offenbar angetrunkener Kerl ungeduldig aus der Menge. Im Halbdunkel erkannte Marcus an der prägnanten Aufteilung des Wappenrocks, dass es sich um einen der Männer handelte, für welche die morgendliche Felllieferung bestimmt gewesen war. Er war nicht allein. Zu fünft standen sie dort breitbeinig im Gedränge.

»Ludolf hat recht! Schafft die Irin her!«

»Oh! Die werten Herren waren wohl auch gestern schon Zeuge der großen Künste meiner Gaukler. Es scheint mir, dass es weniger die Spielleute, als vielmehr die liebreizende Patricia ist, die Euch erneut zu uns kommen lässt?« Bei diesen Worten rollte der Mann auf der Bühne, der noch ärmlicher anmutete als seine Zelte, vielversprechend mit den Augen.

»Wir wollen die Tänzerin sehen!«, riefen nun weitere Männer von der anderen Seite des Halbrunds herüber.

»Geduld, Geduld«, versuchte Dominikus von Dobberstein die fordernde Menge zu beruhigen. »Ich verspreche Euch, die rote Irin wird noch heute Abend für Euch tanzen und Eure Sinne betören! Ja, nicht nur das! Sie wird sich einzig und allein für Euch todesmutig den Messerwürfen des Niko von Kroatien stellen. Doch zuvor habt Ihr die Gelegenheit, verehrte Recken, die Geschicklichkeit des Jacobus van der Keul auf dieser Bühne zu bewundern.« Schwungvoll drehte er sich mit einer imposanten Geste zu einem Vorhang um, der hinter ihm über eine hohe Querstange drapiert war. Auf ein Zeichen Dobbersteins hin erklang Dudelsackspiel, und ein dröhnend rhythmischer Trommelschlag ertönte. Der löchrige Vorhang wurde aufgerissen. Ein blassblonder Jongleur sprang nach vorn auf das Podest. Der Bleiche warf vier Bälle im quirligen Takt in die Höhe. Geschickt fing er sie hinter seinem Rücken auf, um sie sogleich wieder in die Höhe zu schleudern. Einer nach dem anderen flog in die Luft und landete wie magisch angezogen in den Händen des Mannes. Der Rhythmus der Musik wurde schneller, und die Bälle tanzten förmlich zu den Klängen, ohne dass man befürchtete, Jacobus würde auch nur einen fallen lassen. Marcus hatte auf dem Neusser Jahrmarkt schon den einen oder anderen Gaukler behände einige Bälle werfen sehen, doch keiner hätte es mit diesem dort in Sachen Geschicklichkeit aufnehmen können. Die Musik verstummte, und van der Keul riss sich sein Barett vom Kopf. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin verschwanden die Bälle allesamt in seiner Kopfbedeckung, die er sich mit Schwung wieder aufsetzte. Die Männer johlten vor Vergnügen und schienen die rothaarige Tänzerin, die sie eben noch so vehement gefordert hatten, beinahe schon vergessen zu haben. Nur einer nicht. »Was ist mit der Roten, Dobberstein?«, grölte der Angetrunkene nun wieder mit Angriffslust in der Stimme und lockerte dabei sein Schwert geräuschvoll in der Scheide.

 

»Gewiss, ich habe Euch den Todesmut Patricias versprochen, aber die Zeiten sind schwer und das Brot teuer. So bitt ich Euch zuvor um eine Gabe für uns Spielleute.« Auf dieses Stichwort hin schüttete Jacobus van der Keul eilig die Bälle aus seinem Barett und sprang nach vorn in die Menge. Schnell kamen die Geldkatzen der Männer zum Vorschein, die auf den Auftritt der Schönen nicht länger warten wollten. Flink huschte der Ballkünstler von Mann zu Mann, ohne auch nur einen möglichen Geldgeber auszulassen. Nur von den fünf Recken hielt er sich fern, die breitbeinig und mit grimmiger Miene inmitten der Menschenmasse standen. Zu genau wusste Jacobus, dass er von diesen Burschen eher einen verächtlichen Fußtritt erwarten durfte, als dass er auch nur einen müden Weißpfennig erhielt.

Noch bevor Jacobus seine Sammlung beendet hatte, schleppten zwei Spielleute eine hölzerne Palisade auf das Podest, die sie sorgsam in Stellung brachten.

Das Barett van der Keuls hatte sich ausreichend gefüllt, als Dominikus die Hand hob und der Trommler augenblicklich wieder begann, das Fell seines Instruments zu malträtieren. Ein drahtiger, pechrabenschwarzer Kerl trat durch die Vorhangöffnung. Seine dunklen Augen blitzen unfreundlich in die Menge. In seinen Händen hielt er sechs Dolche, die selbst im fahlen Fackelschein aufblitzten. Die Trommel verstummte, und eine Schalmei ertönte. Marcus hatte diese Art Musik noch nie zuvor gehört. Erst klang sie ruhig und melodiös, doch schon bald wurde sie schneller und schneller. Der Weißblonde ertappte sich dabei, wie sein rechtes Bein im Takt zu wippen begann. Eine Sekunde später blieb er wie angewurzelt stehen, den Mund halb geöffnet. Eine junge Frau trat durch den Vorhang. Sie war kaum älter als Marcus und hatte feuerrotes wallendes Haar. Über ihre zierliche Nase zog sich ein schmaler Streifen Sommersprossen, der ihrem Gesicht etwas Lebenslustiges verlieh. Sie trug ein grasgrünes Leinenkleid, das die Vollkommenheit ihres Körpers trotz seiner Schlichtheit unterstrich und dessen Ausschnitt eine wohlgeformte Brust ansatzweise freigab. Auch hier verzierten Sommersprossen ihre blasse Haut. Marcus spürte, wie sein Mund trocken wurde. Nun verstand er die fordernden Rufe der Männer, auch wenn ihn ihre geifernde Art anwiderte. Mit einem verführerischen Schwung warf die Schöne ihr Haar in den Nacken, und Dominikus von Dobberstein trat hinter sie. Er hielt einen Streifen des gleichen Leinenstoffs in der Hand, wie der, aus dem ihr Kleid gefertigt war, und verband ihr damit die leuchtenden Augen. Langsam führte er sie rückwärts, bis sich ihr Körper an das Holz der Palisade schmiegte. Marcus stockte der Atem, als der finstere Kroate in die Mitte der Bühne trat und Dominikus eilig nach links verschwand. Am liebsten wäre Marcus geradewegs auf die Holzplanken gesprungen und hätte dem Kerl die Dolche entrissen. Sein Verstand sagte ihm, dass er sich lächerlich machen würde und der Kroate sein Handwerk so gut verstehen würde wie Jacobus der Jongleur. Zumindest hoffte Marcus dies und spürte dabei, dass seine Hände schweißnass geworden waren. Der erste Dolch surrte durch die Luft und blieb mit einem dumpfen Schlag direkt neben der schlanken Taille der Schönen im Holz stecken. Am erleichterten Raunen, das nun aus den Reihen der Männer erklang, erkannte Marcus, dass die meisten von ihnen die gleichen Gedanken wie er selbst gehabt haben mussten. Er schämte sich dafür, dass er auf diese Weise einer ihresgleichen war. Schon ertönte der nächste Schlag und riss ihn aus seinen Gedanken. Die Dolchspitze vibrierte neben dem glänzenden Haar der betörenden Patricia. Die Zuschauer hielten wieder den Atem an, und nur der Klang der Trommel durchbrach die Stille des Abends. Drei … vier … fünf … sechs! Marcus atmete hörbar auf, als sich der Kroate, an das Publikum gewandt, verneigte. Mit einer lasziven Geste zog sich die hübsche Irin den Leinenstreifen von den Augen und lächelte in die Menge. Eine heitere Weise erklang, und die Schöne sprang munter wie ein Fohlen davon. Marcus schaute Patricia sehnsüchtig nach. Hatte sie ihm wirklich zugezwinkert, bevor sie hinter dem Vorhang verschwunden war?

*

»Wo bleibt der Kerl nur so lange? Er weiß genau, dass ich ihn brauche, wenn der abendliche Trubel hier wieder losgeht.« Annehild Janssen kannte ihren Mann zur Genüge, um zu wissen, dass es Sorge um Marcus war und nicht Verärgerung über sein Verschwinden, die ihn dazu trieb, in der Schenke auf und ab zu laufen wie ein unruhiges Ferkel, das das Kommen des Fleischers erahnt. Janssen war eben erst vom Hafen zurückgekehrt. Auch dort hatte niemand ihren Zögling heute gesehen.

»Vielleicht ist er einfach nur auf und davon und kehrt in ein paar Tagen munter und vergnügt zurück.« Annehild versuchte ihren Gatten zu beruhigen und legte bei diesen Worten ihre Hand auf die seine. Barsch zog der Wirt seine Pranke zurück.

»Nur so, auf und davon? Du solltest den Jungen zwischenzeitlich besser kennen. Er ist nicht der Tunichtgut, für den du ihn immer noch hältst!«

Annehild bereute ihre Worte und fühlte sich missverstanden. Schließlich hatte sie sich schon vor einiger Zeit eingestehen müssen, dass sie sich in Marcus getäuscht hatte. Gewiss, anfangs hatte sie sich dagegen gewehrt, ihn, einen Taschendieb, bei sich aufzunehmen. Doch nach und nach hatte er sie mit seinem Fleiß bei der täglichen Arbeit überzeugt. Mittlerweile hatte sie den weißblonden Jungen sogar ein wenig lieb gewonnen und machte sich nun nicht minder Sorgen als ihr Gatte.

Der Wirt schien sich kaum mehr beruhigen zu wollen, als sich die Tür zum Schankraum öffnete. Hubertus Hohenfels, der dienstbeflissene Helfer des Schultheißen, kam mit fünf weiteren seiner Männer herein. Statt sich an einen der Tische zu setzen, schritt er mit ernster Miene auf Berthold zu. Die anderen fünf folgten ihm und schauten eher etwas verlegen drein.

»Berthold Janssen?«, fragte Hubertus mit fester Stimme.

Was war in den Kerl gefahren? Hatte er beim gestrigen Gelage den Verstand versoffen? Er kannte den Wirt zur Genüge, als dass er ihn nach seinem Namen fragen musste. »Bist du immer noch betrunken, Hubertus?«

Hohenfels ignorierte die Worte des Wirts und sprach mit eisiger Miene: »Janssen, im Namen des Kurfürsten, unserer Eminenz Erzbischof Siegfried und unserer heiligen Mutter Kirche nehme ich Euch hiermit fest.«

Janssen glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Noch bevor der Verdutze etwas entgegnen konnte, wandte sich der Obere an seine Männer: »Ergreift ihn und schafft ihn hinaus!«

Je zwei der Soldaten packten Berthold zögerlich an seinen muskulösen Armen und schoben ihn vorsichtig in Richtung der Tür. Der fünfte hielt Annehild zurück, der Tränen des Zorns in die Augen schossen.

»Was habt Ihr mit ihm vor? Er hat nie etwas Unrechtes getan.«

»Annehild, es wird sich alles klären. Es ist wegen …«

Weiter kam der Mann nicht, denn Hubertus fiel ihm barsch ins Wort: »Ich glaube nicht, dass der Erzbischof in seinen Entscheidungen der Frau eines Schankwirts Rechenschaft schuldig ist!«

»Ich bin bald wieder zurück«, beschwichtigte Berthold seine Frau und drehte sich noch einmal zu ihr um, bevor ihn die vier hinaus auf die Gebrante Gaß in Richtung Blutturm führten.

*

»Und nun, Männer der ruhmreichen Taten, kommt der berühmte Medikus Flatavio zu Euch. Gewiss hat sich die Kunde herumgesprochen, dass er an so manchem hohen Hof praktiziert und Könige sowie Fürsten von aussichtslosem Leiden befreite. Ob im fernen Konstantinopel, am Heiligen Stuhl zu Rom oder in den Schlachten unserer tapferen Ritter des Kreuzes gegen das Heidenheer des Teufels Saladin. Viele derer, die gesund aus dem Heiligen Land zurückkehrten, verdanken dies ohne Zweifel seiner heilenden Kunst.« Begleitet von diesen Worten des Ruhmes trat ein dürrer Kerl auf die Bretter. Er trug einen langen schwarzen Umhang und einen hohen Hut auf dem kahlen Kopf. »Gott möge es verhüten, doch wer sagt Euch, dass Ihr nicht in der anstehenden Schlacht durch das Schwert eines feigen Feindes hinterrücks verwundet werdet?« Dominikus von Dobberstein beugte sich verschwörerisch zu seinem Publikum hinunter und starrte geheimnisvoll in die Runde. Mit einem Mal war die überschwängliche Freude der Menge dahin, und ein Gefühl der Angst machte sich spürbar breit. »Doch mit der Medizin des Medikus seid ihr im Handumdrehen wieder auf den Beinen und jagt die brabantischen Bastarde in die Flucht.« Schlagartig richtete er sich bei diesen Worten auf und zeigte mit ausgestreckter Hand auf eine große Holztruhe, die von zweien der Musiker nach vorne getragen wurde. Der Medikus öffnete langsam und bedächtig den Deckel und griff in die Truhe. Mit einem Ruck riss er den Arm in die Höhe und streckte ein Fläschchen in den Abendhimmel. Die Männer wichen erschrocken einen Schritt zurück. »Habt keine Furcht und tretet näher! Dies ist das wundersame Mittel, das Euch die Heilung bringen wird. Die Wundermedizin des Medikus Flatavio! Ob ein Reißen in der Schulter, ob eine klaffende Wunde am Arm, ja selbst bei Blut im Stuhl hilft diese Medizin!« Dobberstein ruderte einladend mit den schlaksigen Armen. Skeptisch bewegte sich die Menge langsam wieder nach vorn.

Marcus bemerkte im Augenwinkel einen kleinen Trupp Männer, der sich von rechts auf die Zuschauer zubewegte. Im Schein der Fackel, an der sie nun vorüberschritten, erkannte er Hubertus Hohenfels, der sich suchend umblickte. Instinktiv duckte Marcus sich ein wenig und wich ein paar Schritte nach links aus. Durch die Menschenansammlung hindurch beobachtete er, wie Hohenfels einen der Zuschauer ansprach. Der Mann schüttelte nur den Kopf. Der nächste hingegen schien das Gespräch zu erwidern. Auch die übrigen Bewaffneten, die mit Hubertus gekommen waren, begannen nun mit der Befragung. Marcus machte sich noch ein Stück kleiner und drängte immer weiter seitwärts. Er hatte den äußersten Rand der Menge beinahe erreicht, als einer der Befragten plötzlich in seine Richtung zeigte. Marcus durchfuhr ein eiskalter Schauer. Sie waren gekommen, um ihn in die Stadt zurückzuholen.

Im gleichen Augenblick packte ihn jemand am Arm und zerrte ihn aus dem Gedränge. Erschrocken drehte Marcus sich um und blickte in ein Paar grün funkelnde Augen. »Komm!«, zischte die Irin, die ihr rotes Haar unter einem Kopftuch verborgen hatte. Bevor Marcus etwas erwidern konnte, hatte sie schon ihre zarte Hand auf seinen Mund gelegt. Ein milder Lavendelduft stieg ihm in die Nase. Doch nun war wirklich nicht die Zeit für Träumereien. Rasch zog sie Marcus zwischen den vorderen Zelten der Gaukler hindurch ins Dunkel. Vor einem niedrigen Zelt blieb sie stehen. »Auf einen mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an«, flüsterte sie und schob ihn durch die Öffnung ins Innere. Sie verschloss den Eingang der Behausung sorgsam und entschwand so lautlos, wie sie gekommen war.

Der Schreck steckte Marcus immer noch in den Gliedern. Rücklings schob er sich in die Tiefe des Zeltes. Dabei ertastete er vorsichtig die Kisten und Säcke, die sich hier zwischen Stangen und Kanthölzern stapelten. Es musste sich um das Requisiten- oder Vorratslager der Gaukler handeln. Deutlich hörte er den Schlag seines pochenden Herzens.

 

In dieser Sekunde legte sich ein kalter Arm von hinten um seinen Hals, und Marcus spürte die Spitze eines Dolchs unterhalb seines Kinns.

»Nur ein Laut und du bist tot! Ich steche dich ab wie ein Schwein!«, raunte ihm eine Männerstimme ins Ohr.

Wer war der Kerl, der sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte? Dem Klang der Stimme nach zu urteilen, musste es sich um einen jungen Mann handeln, der ihn da bedrohte.

»Du legst dich jetzt flach auf den Bauch und verschränkst die Arme auf dem Rücken«, befahl die Stimme, die unvermittelt schwächer wurde. Fast kraftlos löste sich der Arm, und die Dolchspitze verließ sein Kinn. Marcus spürte eine zitternde Hand in seinem Nacken, die ihn bäuchlings zu Boden drückte. Dann ergriff der Fremde seine Handgelenkte und führte sie auf dem Rücken zusammen. Starr vor Angst lag Marcus da und wagte sich nicht zu rühren. Die Holzstange, auf der sein Oberkörper ruhte, drückte ihm unweigerlich in die Rippen. Jede Sekunde rechnete er damit, dass sich die Klinge des Dolches von hinten in seinen Rücken bohren würde. Doch der tödliche Stoß blieb aus.

In diesem Moment setzte die Musik wieder ein, und die Männer begannen zu johlen. Sie ahnten wohl schon, dass nun die sehnlich erwartete Tanzdarbietung der Schönheit, der Höhepunkt der abendlichen Vorstellung, beginnen würde. Voller Vorfreude starrten sie auf den Stoff des Vorhangs, der nun durch die Luft wirbelte und den Blick auf Patricia freigab. Mit verführerischen Schritten trat die Schöne im Takt der Musik hinaus in den Schein der Fackeln, der ihr Haar noch strahlender glänzen ließ. Mit beiden Händen hatte sie den Rock ergriffen und ihn ein wenig angehoben, sodass er den Blick auf ihre schlanken Fesseln freigab. Die eingängige, fröhliche Musik wurde immer schneller. Das kurze Thema der irischen Melodie schien sich rascher und rascher zu wiederholen, und Patricia hob mit jeder Wiederholung den Rock ein wenig höher. Dabei warf sie den Kopf von links nach rechts, sodass ihr lockiges Haar hin und her flog und die rote Mähne ihr sommersprossiges Gesicht immer wieder für Sekunden freigab. Der untere Saum hatte nun beinahe ihre Knie freigelegt, als ein gellender Ruf die Musik unterbrach: »Sünderin!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Patricia in die Menge und blieb unvermittelt stehen. Auch die Musik verstummte auf der Stelle.

»Ein wahrer Sündenpfuhl hat sich hier im Lager des Erzbischofs aufgetan. Der Satan hat Einzug gehalten in Eurem Kreis, der zu dieser Stunde die Heiligen um ihre Fürsprache anflehen sollte, auf dass Gott, der Allmächtige, uns zum gerechten Siege führet.« Der neu ernannte Legat des Erzbischofs, Ignatius von Heinsberg, schritt, dicht gefolgt von einigen Klerikern, durch die Menschenmasse. Ein Diakon streckte ein reich verziertes Vortragekreuz in den Abendhimmel und teilte das Halbrund der Männer wie Moses einst das Rote Meer. Das geifernde Johlen verstummte, und selbst die fünf Störenfriede verhielten sich wie artige Knaben. »Bedeckt Euch, Weib, und fordert nicht länger die fleischliche Gier dieser gottesfürchtigen Männer heraus.« Sein ausgestreckter Finger zeigte auf Patricia. Erst jetzt merkte die Irin, dass sie den Rock immer noch geschürzt hielt, und ließ ihn sofort sinken. »Schloss nicht auch Salome, deine Schwester im Geiste, einen Pakt mit dem Bösen und tanzte für Herodes, bevor sie von ihm den Kopf des Johannes forderte? So bist auch du eine Tochter des Satans!«

Dobberstein erkannte gedankenschnell, dass die Lage zu eskalieren drohte, und schob die Verdutzte hastig hinter den Vorhang. Dann wandte er sich beschwichtigend an den aufgebrachten Geistlichen: »Verzeiht, Euer Hochwürden. Es war nicht unsere Absicht, die Männer zu verwirren und auf Abwege zu führen. Vielmehr stand uns der Sinn danach, die Vasallen des Erzbischofs zu zerstreuen, auf dass sie, gestärkt durch unser Tun, in den nächsten Tagen einen großen Sieg für die getreue Mutter Kirche erlangen.« Dabei verbeugte er sich tief und bedeutete seinen Leuten, sich zurückzuziehen. Sekunden später war niemand mehr auf dem Podium zu sehen, und nichts erinnerte an das muntere Treiben, das gerade noch die Gemüter in Wallung gebracht hatte.

»Und Ihr?«, der Legat wandte sich in seinem missionarischen Eifer an die umherstehenden Ritter, die sich um ihr abendliches Vergnügen beraubt sahen. Speichel hatte sich in den Mundwinkeln des Legaten gesammelt und bildete schaumige Bläschen wie Algengischt auf den Wellen einer herannahenden Sturmflut. »Sollten Eure Gaben nicht lieber den Armen gelten, statt diese nichtsnutzigen Wesen zu nähren? Wäre eine Geste der Nächstenliebe an einem Bedürftigen nicht gottgefälliger, als hier diesem heidnischen Treiben zu frönen?« Mit zornerfüllter Miene schaute er dabei von Mann zu Mann, fixierte Augenpaar um Augenpaar. Auch wenn der Kleriker in seiner Argumentation übersehen hatte, dass es sich bei den Spielleuten um die Ärmsten handelte, die das Lager zu bieten hatte, ergriff die Männer eine schuldbewusste Betroffenheit. Da es darüber hinaus nichts mehr zu begaffen gab, trollten sie sich und kehrten zu ihren Zelten zurück.

Der Schauplatz hatte sich bereits gänzlich geleert, als auch der Legat mit seinem Gefolge den ausgemachten Ort der Sünde verließ. Trotz seines klerikalen Zorns, der immer noch in ihm kochte, spürte der Gottesdiener eine Art Zufriedenheit, dem heidnischen Treiben ein Ende bereitet zu haben.

Vor dem Zelt war Totenstille eingekehrt. Nur der schwere Atem des Mannes neben Marcus war noch zu hören. Wer war der Fremde? Hätte er ihn töten wollen, so hätte er nur zustechen brauchen, als er Marcus von hinten gepackt hatte. Diese Schlussfolgerung beruhigte ihn ein wenig. Von Zeit zu Zeit meinte er ein leises Stöhnen zu vernehmen. Ein Stöhnen wie das eines Verwundeten. War dies der Grund, warum der Mann ihn nicht vollends überwältigt hatte? Der Grund, warum sein Arm so kraftlos niedergesunken war?

Noch lange hing Marcus seinen Gedanken und Ängsten nach. Mit einem Sterbenden in seinen Armen hatte der Tag begonnen und mit einem Dolch an der Kehle geendet. Doch hatte dieser Tag nur Grauenhaftes für ihn bereitgehalten? Nein, immer wieder rief er sich das Gesicht der schönen Irin ins Gedächtnis. Konzentriert auf ihre fröhlichen Augen und den Glanz ihres Haares, meinte er beinahe den Lavendelduft zu riechen, den ihr Körper ausgeströmt hatte. Schon im nächsten Augenblick rissen ihn die Worte des sterbenden Priesters aus seinen Träumereien: ›Schrein, Quirinus, Diebe, drei Muscheln, Armarius Niko…‹ Die tiefe Nacht war bereits hereingebrochen, bevor er trotz aller quälenden Gedanken einschlief.

*

Die Schatten rückten noch enger zusammen. »Habt Ihr es endlich gelöst?«, fragte der eine ungeduldig mit drohendem Unterton und hielt den Leuchter höher, sodass der Schein der Kerze das Gesicht seines Gegenübers erhellte.

»Bisher war meine Suche nicht erfolgreich«, entgegnete der andere. »Es ist recht beschwerlich, nur drei Stunden des Nachts suchen zu können. Meint Ihr nicht, dass …«

»Auf keinen Fall! Am Tage könntet Ihr entdeckt werden, und alles war umsonst. Schlagt Euch diesen Gedanken ein für alle Mal aus dem Kopf. Wie mir der Bote heute berichtete, sind bereits zwei Horte des Geistes in unserem Besitz. Der dritte folgt schon in den nächsten Wochen.«

»Und wenn ich letztlich nicht fündig werde und alles umsonst war?«