Ur-Gemeinde

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Vier Paradigmen zur Wiederherstellung der Gemeinde

Im Folgenden nenne ich die vier wichtigsten Paradigmen, wie heute versucht wird, die Gemeinde zu erneuern:

Die Bibel als genaues Schema

Verfechter dieses Ansatzes gehen davon aus, dass das Neue Testament präzise Anweisungen zur gemeindlichen Praxis enthält. Demzufolge müssen wir lediglich das biblische Modell nachahmen. Wie ich aber zeigen werde, bietet das Neue Testament weder ein einfach kopierbares Schema für die gemeindliche Praxis noch legt es ein Regelwerk vor, das Christen zu beherzigen hätten.13 Der Neutestamentler F. F. Bruce schreibt: „Wenn wir das Neue Testament auf unsere Situation übertragen wollen, dürfen wir es nicht mit den Schriftgelehrten zur Zeit Jesu und ihrer Handhabung des Alte Testaments halten. Wir sollten das, was als Richtschnur für die Gläubigen in einer bestimmten Situation gedacht war, nicht zu einem allgemeingültigen Gesetz für alle Zeiten erheben.“14

Kulturelle Anpassungsfähigkeit

Die Vertreter dieses Paradigmas verweisen gerne auf den zeitlich bedingten Kulturwandel: Die Gemeinde im ersten Jahrhundert habe sich ihrer Kultur angepasst. Heute lebten wir allerdings in einem ganz anderen kulturellen Umfeld. Die Gemeinde müsse dieser Veränderung Rechnung tragen. Man fordert von der Gemeinde, sie solle sich in jedem Zeitalter gewissermaßen neu erfinden, um der jeweils vorherrschenden Kultur gerecht zu werden.

Diesem Ansatz liegt das „Kontextualisierungskonzept“ zugrunde. Kontextualisierung ist die theologische Methode, nach der die biblische Botschaft in den jeweiligen kulturellen Kontext zu übersetzen ist. Geht es um die Anwendung der Schrift, ist diese Methode freilich unverzichtbar. Solcher Kontextualisierung ist es zu verdanken, dass wir heute weder Sandalen noch Togen tragen und statt Griechisch Deutsch sprechen. Als Reisemittel haben wir Pferde gegen Autos getauscht.

Allerdings haben einige das Fähnchen der Kontextualisierung so hochgehalten, dass es zu einer Überkontextualisierung auf Kosten der Schrift und ihrer Gegenwartsrelevanz gekommen ist. Es besteht die Gefahr, dass die Kontextualisierung am Ende den biblischen Sinn bis zur Unkenntlichkeit entstellt und wir uns eine Gemeinde nach eigenem Gutdünken basteln. Vor dieser Gefahr warnt F. F. Bruce:

Die Übertragung des Evangeliums in die [kulturellen] Ausdrucksformen einer Generation ist ebenso notwendig wie seine Übersetzung in neue Sprachen. Wenn [jedoch] die überzogene kulturelle Anpassung des Evangeliums zur Verfälschung desselben führt, kann es schließlich ganz verloren gehen, und übrig bleibt am Ende, was Paulus „ein anderes Evangelium“ nennt, das eigentlich gar keines mehr ist (Gal 1,6f.). Hat sich die christliche Botschaft erst der herrschenden Meinung so sehr angeglichen, dass sie selbst nur ein weiterer Ausdruck dieser öffentlichen Meinung wird, dann kann man nicht mehr von der christlichen Botschaft sprechen.15

Ich bin vielen Anhängern des kulturellen Anpassungs-Paradigmas begegnet. Stets war ich überrascht, dass sie alle überzeugt waren, es gebe bezüglich der Gemeinde dennoch zeitlose und vom kulturellen Umfeld unabhängige Leitlinien. Die meisten Befürworter der kulturellen Anpassungsfähigkeit lehnen die Abschaffung etwa der Wassertaufe entschieden ab, und keiner von ihnen käme auf den absurden Gedanken, beim Abendmahl statt Brot und Wein Pommes frites und Limo zu reichen (ausgenommen Kinder unter zehn Jahren!).

Die kritische Frage indes bleibt: Welche Bräuche im Neuen Testament dürfen als bloße Beschreibungen angesehen werden, und welche haben normativen Charakter? Oder, um es anders auszudrücken: Welche Handlungen sind an die Kultur des ersten Jahrhunderts gebunden, und welche spiegeln das unveränderliche Wesen der Gemeinde wider?

Die Gefahren der Überkontextualisierung sind real, und viele christliche Verantwortungsträger sind ihnen unbeabsichtigt erlegen. Wir müssen uns davor hüten, einerseits biblische Grundsätze aufrechtzuerhalten, nur weil sie unseren Zwecken dienen, sie jedoch andererseits im Namen der „Kontextualisierung“ aufzugeben, wenn sie nicht in unser Konzept passen.

Fakt ist, dass nahezu alle Christen ihre Vorstellungen von Christsein und Gemeinde der Bibel entnehmen. (Ironischerweise berufen sich gerade die, die diesen Anspruch nicht für sich erheben, immer dann auf die Lehren Jesu oder des Paulus, um ihre speziellen Auffassungen zu belegen.) Die Urgemeinde war keineswegs vollkommen. Der Korintherbrief belegt dies auf eindrucksvolle Weise. Die ersten Christen schwärmerisch als fehlerlos hinzustellen, ist ein Irrtum.

Andererseits war die Gemeinde des ersten Jahrhunderts das Gründungswerk Jesu und seiner Apostel. Sofern die Gemeinden im ersten Jahrhundert die Lehren Jesu und der Apostel verwirklichten, dienen sie uns als Vorbild. J. B. Philips schreibt:

Der große Unterschied zwischen den Christen unserer Tage und jenen, von denen wir in den Briefen [des Neuen Testaments] lesen, besteht darin, dass das, was für uns in erster Linie Darstellung ist, für sie noch echte Erfahrung war. Wir neigen dazu, den christlichen Glauben auf gewisse Regeln zu reduzieren oder bestenfalls zu Herzensanliegen und Leitsätzen zu machen. Für jene Menschen aber brach eine neue Qualität von Leben in ihre Existenzen ein.16

Nachkirchliches Christentum

Dies ist der Versuch, Christsein ohne Zugehörigkeit zu einer identifizierbaren Gemeinschaft zu leben, die sich regelmäßig zu Anbetung, Gebet, Gemeinschaft und gegenseitiger Ermutigung sammelt. Befürworter von Christsein ohne Gemeinde halten spontane Gemeinschaft (zum Beispiel bei einer Tasse Kaffee) und persönliche Freundschaft für das, was das Neue Testament unter Gemeinde versteht. Wer sich zu diesem Paradigma bekennt, glaubt an eine gestaltlose, nebulöse Phantomgemeinde.

Solche Ansichten entbehren jeder neutestamentlichen Grundlage. Die Gemeinden im ersten Jahrhundert waren auffindbare, identifizierbare und erkennbare Gemeinschaften, die sich regelmäßig an bestimmten Orten versammelten. Deshalb konnte Paulus seine Briefe an spezifische Ortsgemeinden richten und dabei ganz bestimmte Leserkreise vor Augen haben (vgl. Röm 16). Wahrscheinlich wusste er sogar, wann sie sich trafen (vgl. Apg 20,7; 1 Kor 14) und mit welchen geistlichen Herausforderungen sie gemeinsam zu kämpfen hatten (vgl. Röm 12–14; 1 Kor 1–8). Der nachkirchliche Ansatz kann nicht als bibelgemäß gelten, entspricht aber freilich dem heutigen Wunsch nach Beziehungsnähe ohne Verbindlichkeit.

Organischer Ausdruck

Dies ist der Ansatz, den ich hier vertrete. Nach meiner Überzeugung schildert das Neue Testament die Entfaltung und Auswirkung der gemeindlichen DNA. Die Apostelgeschichte und die Briefe offenbaren uns die Genetik der Gemeinde Jesu Christi, wie sie sich in den jeweiligen Kulturen der Antike äußerte. Da Gemeinde ein geistlicher Organismus ist, bleibt ihre DNA unverändert. Ihre biologische Identität ist dieselbe gestern, heute und morgen. Die DNA der Gemeinde beinhaltet immer die folgenden vier Elemente:

1. Sie bringt stets zum Ausdruck, dass Jesus Christus das Haupt seiner Gemeinde ist und damit im Gegensatz zur Herrschaft des Menschen steht. (Ich sage „Haupt“, weil ich beides hervorheben möchte: Christus zugleich als Autorität und Ursprung der Gemeinde).17

2. Sie fördert und ermöglicht immer, dass alle Glieder am Leib ihren Beitrag leisten.

3. Sie wird sich gewissenhaft an der Theologie des Neuen Testaments ausrichten und dieser auf der Erde sichtbaren Ausdruck verleihen.

4. Stets wird sie in der trinitarischen Gemeinschaft Gottes gegründet sein.

Die Dreieinigkeit ist das Paradigma, an dem sich die gemeindliche Praxis zu orientieren hat. An ihr zeigt sich, wie Gemeinde sein sollte: eine hierarchiefreie Gemeinschaft der Liebe, Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit.

F. F. Bruce hat einmal gesagt: „Entwicklung ist die Entfaltung von dem, was – wenn auch noch im Verborgenen – schon immer da war. Abweichung dagegen ist das Aufgeben eines Grundsatzes zugunsten eines anderen.18

Alles, was die Gemeinde befähigt, den dreieinigen Gott widerzuspiegeln, ist Entwicklung. Alles, was sie daran hindert, ist Abweichung.

Zusammen mit George Barna habe ich in Heidnisches Christentum? nachgewiesen, dass nur sehr wenig von der Praxis moderner, institutioneller Kirchen seine Wurzeln im Neuen Testament hat. Stattdessen haben von Menschen erfundene Praktiken das Bild der Kirche über die Jahrhunderte geprägt und verändert. Solche Bräuche jedoch unterminieren Christus in seiner Funktion als Haupt der Gemeinde und erschweren das Einander-Dienen der Glieder im Leib Christi. Zudem stehen sie im Widerspruch zur Lehre des Neuen Testaments und dem Vorbildcharakter der trinitarischen Gemeinschaft. Es ist, wie Emil Brunner treffend feststellt: „Die zerbrechliche Struktur der von Jesus gegründeten und vom Heiligen Geist gefestigten Gemeinschaft konnte nicht durch eine institutionelle Organisation ersetzt werden, ohne dass auch der gesamte Charakter der Ekklesia fundamental verändert wurde.“19

Warum werden viele dieser Bräuche verteidigt, obwohl sie in klarem Widerspruch zur Heiligen Schrift stehen? Weil religiöse Tradition eine unglaubliche Macht ausübt. Betrachten Sie einmal folgende Schriftstellen:

 

Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen; aber das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit (Jes 40,8).

Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens (Heb 4,12).

Denn gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel herabfällt und nicht dahin zurückkehrt, er habe denn die Erde getränkt und befruchtet und sie sprossen gemacht, und dem Sämann Samen gegeben und Brot dem Essenden, also wird mein Wort sein, das aus meinem Munde hervorgeht; es wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird ausrichten, was mir gefällt, und durchführen, wozu ich es gesandt habe (Jes 55,10-11).

Diese Stellen sprechen von der gewaltigen Kraft des Wortes Gottes. Das Wort Gottes bleibt für immer. Es wird vollbringen, wozu Gott es ausgesandt hat, es wird sein Ziel erreichen und wird nicht unverrichteter Dinge zurückkehren.

Und dennoch – trotz dieser unglaublichen Macht von Gottes Wort – gibt es etwas, das sich ihm aufhaltend in den Weg stellen kann: religiöse Tradition. Beachten Sie, was Jesus, das fleischgewordene Wort Gottes, gesagt hat:

Ihr habt so das Gebot Gottes ungültig gemacht um eurer Überlieferung willen (Mt 15,6).

Und an anderer Stelle:

Denn das Gebot Gottes aufgebend, haltet ihr die Überlieferung der Menschen … Trefflich hebet ihr das Gebot Gottes auf, auf dass ihr eure Überlieferung haltet (Mk 7,8-9).

Religiöse Traditionen haben unser Denken so sehr geprägt, unsere Herzen derart für sich eingenommen und unseren Wortschatz in einem Ausmaß beeinflusst, dass wir jedes Mal, wenn wir unsere Bibel aufschlagen, die gerade aktuellen kirchlichen Bräuche in den Text hineinlesen.

Sobald uns in der Bibel das Wort Hirte („Pastor“) begegnet, denken wir unwillkürlich an den Mann, der sonntags predigt.20 Sobald wir auf das Wort Gemeinde („Kirche“) stoßen, denken wir sofort an ein Gebäude oder an den Sonntagsgottesdienst. Fällt uns das Wort Ältester ins Auge, denken wir gleich an die Gemeindeleitung.

Das stellt uns vor die wichtige Frage: Wie kommt es, dass wir unsere eigene Kirchenpraxis so leicht ins Neue Testament hineinlesen können? Wir sind gewohnt, unser Bibelstudium nach der Methode „cut-and-paste“ (ausschneiden und einfügen) zu betreiben. Da werden „Beweisstellen“ aus ihrem Zusammenhang gerissen und neu arrangiert, um eigene Überzeugungen und Handlungen zu legitimieren. Das geschieht meist unbewusst und wird von zwei Faktoren begünstigt. Erstens entspricht die Anordnung der Briefe in unseren Bibeln nicht der Reihenfolge ihrer Entstehung. Zweitens sind sie in Kapitel und Verse eingeteilt.21

Der Philosoph John Locke hat das Problem auf den Punkt gebracht. Er schreibt:

Die Schrift wird zerhackt und auseinandergerissen. So, wie sie jetzt gedruckt wird, ist sie ganz zergliedert. Nicht nur das gemeine Volk gebraucht sie nun aphoristisch [indem es aus ihr Regeln formuliert], selbst gebildeten Männern entgeht beim Lesen nicht nur die Kraft, die in ihrem Zusammenhang liegt, sondern auch die davon abhängige Erkenntnis.22

Wenn das Neue Testament jedoch in chronologischer Reihenfolge und ohne Kapitel- und Verseinteilung gelesen wird, entfaltet sich eine wunderbare Erzählung. Die Geschichte bekommt Fleisch und Blut. Wenn wir das Neue Testament jedoch so lesen, wie es in den gängigen Bibelausgaben vorliegt, lesen wir eine zerstückelte Geschichte. Es fehlt der rote Faden.

Die griechische Mythologie berichtet von einem Mann namens Prokrustes. Er stand in dem Ruf, ein magisches Bett zu besitzen, das die einzigartige Eigenschaft hatte, jeden, der sich hineinlegte, der Größe des Bettes „anzupassen“. War der Gast zu klein, streckte Prokrustes dessen Körper so lange, bis er „passte“. Umgekehrt wurden zu große Gäste grausam gekürzt, bis auch sie „passten“.

Das moderne Kirchenkonzept gleicht einem solchen Prokrustes-Bett. Bibelstellen, die nicht ins Konzept der institutionalisierten Kirche passen, werden „gekürzt“ oder eben so lange „gestreckt“, bis sie ins Konzept passen. Die Methode „cut-and-paste“ erleichtert dieses Vorgehen. Wir reißen verschiedene Verse aus ihrem chronologischen und geschichtlichen Kontext und fügen sie zusammen, um eine bestimmte Lehre oder Praxis zu begründen. Im Gegensatz dazu gibt uns die chronologische Erzählung die Möglichkeit, unsere Schriftauslegung zu prüfen, und hindert uns daran, nach Gutdünken Verse auszuschneiden und einzufügen, damit die Bibel unsere vorgefassten Meinungen stützt.

Tatsache ist, dass ein Großteil unserer gängigen Gemeindepraxis nicht biblisch begründet ist. Solche von Menschen erdachten Bräuche stehen im Widerspruch zum organischen Wesen der Gemeinde. Weder geben sie die Wünsche Jesu Christi wieder, noch spiegeln sie sein Hauptsein und sein herrliches Wesen (wozu die Gemeinde eigentlich berufen ist). Stattdessen bezeugen sie die Inthronisierung menschlicher Ideen und Traditionen. Im Ergebnis ersticken sie den natürlichen Ausdruck der Gemeinde. Und wir rechtfertigen alles mit unserer „cut-and-paste“-Hermeneutik.

Die Beschädigung der gemeindlichen DNA

Einige Christen haben versucht, eine Reihe unbiblischer kirchlicher Praktiken dadurch zu rechtfertigen, dass sie behaupten, die Gemeinde ändere sich je nach Kultur und müsse sich ihrem jeweiligen Umfeld anpassen, in dem sie lebt. Man meint, Gott billige heute ein klerikales System, eine hierarchische Leiterschaft, passives Zuschauerverhalten im Gottesdienst, die „Ein-Mann-Shows“, den Gedanken des „Zur-Kirche-Gehens“ und eine Vielzahl anderer Bräuche, die im vierten Jahrhundert aufkamen, als die Christen die griechisch-römischen Sitten ihrer Umgebung übernahmen.

Ist die Gemeinde wirklich in jeder Kultur anders? Und wenn ja, sind wir dann frei, jede Aktivität in unseren Gottesdienst aufzunehmen? Oder könnte es nicht vielmehr sein, dass die Gemeinde heute sowohl in ihrer Theologie als auch in ihrer Praxis ein Zuviel an moderner westlicher Kultur in sich aufgenommen hat?

Zum Problem der Überkontextualisierung bemerkt Richard Halverson: „Als das Evangelium die Griechen erreichte, verwandelten sie es in eine Philosophie; die Römer machten daraus eine Verwaltung, die Europäer eine Kultur, während das Evangelium in den Händen der Amerikaner zum Geschäft wurde.“23 In Anlehnung an ein Pauluswort ist zu fragen: „Lehrt euch nicht die Natur …?“

Das Neue Testament sieht die Gemeinde eindeutig als eine biologische Wesenheit (vgl. Eph 2,15; Gal 3,28; 1 Kor 10,32; Kol 3,11; 2 Kor 5,17). Sie entsteht dann, wenn der lebendige Same des Evangeliums in die Herzen der Menschen gelegt wird und man ihnen erlaubt, sich ohne äußere Zwänge zu versammeln. Die DNA der Kirche bringt ganz bestimmte erkennbare Merkmale hervor: die Erfahrung authentischer Gemeinschaft, familiärer Liebe, gegenseitiger Unterordnung der Glieder; die Zentralität Jesu Christi; die angeborene Neigung, sich ohne starre Rituale zu versammeln; das instinktive Verlangen nach tiefen Beziehungen mit Jesus Christus als Mittelpunkt; den inneren Wunsch nach Zusammenkünften, in denen man sich frei äußern kann, und den aus Liebe gezeugten Impuls, Jesus einer gefallenen Welt zu offenbaren.

Während die Saat des Evangeliums diese besonderen Eigenschaften ganz natürlich hervorbringt, kann sich der Ausdruck dieser Merkmale von Kultur zu Kultur unterscheiden. Ich habe zum Beispiel einmal in Chile eine organische Gemeinde gegründet. Die Lieder, die die Geschwister schrieben, die Art, wie sie miteinander umgingen, wie sie saßen, und ihr Umgang mit den Kindern – all das unterschied sich von europäischen und amerikanischen organischen Gemeinden.

Die Grundmerkmale der DNA teilen sich jedoch alle Gemeinden. Keine organische Gemeinde hat je einen Klerus, einen einzelnen Pastor, ein hierarchisches System oder eine Gottesdienstordnung hervorgebracht, wodurch die Mehrheit zur Passivität verurteilt worden wäre.

In der Natur gibt es einen blühenden Strauch, die großblättrige Hortensie. Wenn man ihre Samen in einen Boden im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten legt, wird sie lila Blüten haben. In Brasilien oder in Polen werden die Blüten dieser Pflanze dagegen blau, anderswo violett.24

Eine großblättrige Hortensie wird aber niemals Dornen und Disteln hervorbringen oder Orangen und Äpfel. Auch wird sie nie so groß wie eine Kiefer. Warum nicht? Weil die Eigenschaften anderer Pflanzen der Hortensie-DNA fremd sind. So ist es auch mit der Gemeinde Jesu Christi, wenn sie fachmännisch gepflanzt und sich selbst überlassen wird, ohne dass ein Mensch versucht, sie durch institutionelle Zwänge zu bestimmen. Dann bringt sie kraft ihrer DNA ganz bestimmte Merkmale hervor. Wie die großblättrige Hortensie kann die Gemeinde je nach Kultur verschieden aussehen, aber sie behält ihren eigenen unverkennbaren Ausdruck, wenn man ihr nur Raum zur Entfaltung gibt.

Setzen wir Menschen diesem lebenden Organismus nun unser eigenes gefallenes System auf, verliert die Gemeinde ihre organischen Merkmale und es kommt zu Fehlbildungen und Erscheinungsformen, die ihrer eigenen DNA nicht entsprechen.

Lassen Sie mich eine tragische Geschichte erzählen, die dies veranschaulicht. Am 4. November 1970 entdeckte man ein außergewöhnliches dreizehnjähriges Mädchen. Seit frühester Kindheit lebte sie ohne Berührungen und soziale Kontakte. Man hatte Genie (wie man sie nannte) nie das Sprechen beigebracht und jeden menschlichen Umgang mit ihr vermieden. Genie war an einen Stuhl mit Töpfchen gefesselt und saß dort tagelang allein. Am Abend wurde sie in einen Schlafsack geschnürt, in dem sie ihre Arme nicht bewegen konnte. Machte sie Geräusche oder versuchte sie zu sprechen, schlug man sie.

Die Folge war, dass ihre natürlichen Eigenschaften für immer entstellt wurden. Genies Gang glich dem Hoppeln eines Kaninchens. Ihre Hände hielt sie wie Pfoten. Feste Nahrung konnte sie nicht zu sich nehmen, Schlucken fiel ihr schwer. Sie spuckte und schniefte häufig. Auf Gegenstände in mehr als vier Meter Entfernung, konnte sie ihren Blick nicht fokussieren. Ihre Sprechen war auf ein kurzes und schrilles, kaum zu verstehendes Quieken beschränkt.

Nachdem man Genie aus ihrer entsetzlichen Behausung befreit hatte, vergrößerte sich ihr Wortschatz schlagartig. Trotzdem konnte sie keine zusammenhängenden Sätze bilden. Was war geschehen? Einige Wissenschaftler vermuteten eine Veränderung ihrer Erbanlagen (DNA) als Folge falscher Ernährung und mangelnder Sozialkontakte.

Übertragen wir diese Geschichte auf den geistlichen Sachverhalt: Ähnlich der großblättrigen Hortensie wird auch eine organische Gemeinde von ihrem gesellschaftlichen Umfeld beeinflusst. Oder – wie im tragischen Fall von Genie – kann eine Kultur den natürlichen Ausdruck einer Gemeinde bis zur Unkenntlichkeit entstellen und ihr natürliches Wachstum beeinträchtigen. Nach meiner Überzeugung ist es der Gemeinde im Laufe ihrer Geschichte so ergangen. Folglich gleicht das, was wir heute „Kirche“ nennen, nicht dem, was Gott sich ursprünglich darunter vorgestellt hat.

Die Gemeinde ist von ihrem Wesen her organisch. Wenn man sich nicht in ihr natürliches Wachstum einmischt, wächst sie zu einer schönen Frau heran: ein lebendiges Zeugnis der Herrlichkeit ihres Bräutigams, Jesus Christus. Sie wird nicht die Züge eines Wirtschaftsunternehmens annehmen, sondern vielmehr etwas ganz anderes, etwas völlig Einzigartiges auf diesem Planeten sein, genauso einzigartig wie Jesus Christus, als er auf Erden war. Immerhin ist sie sein Leib und vom Wesen her identisch mit Gottes Wesen.

Dieses Buch stellt den Versuch dar, Gemeinde wieder als Abbild des dreieinigen Gottes zu sehen. Es versucht, die Praxis der Gemeinde in der ewigen Gottheit zu verankern, nicht in den Wanderdünen sich verändernder kultureller Modeerscheinungen, in den schlammigen Gründen biblizistischer Schemata oder in den verseuchten Gewässern religiöser Tradition.