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Fragen zum Weiterdenken

• Glauben Sie, dass uns das Neue Testament so etwas wie eine Leitlinie für das Gemeindeleben an die Hand gibt, oder sollten wir es als irrelevant verwerfen?

• Wenn Sie an die an die Kirchen bzw. Gemeinden denken, die Sie einmal besucht haben bzw. noch besuchen. Inwiefern brachten sie das Gemeinschaftsleben des dreieinigen Gottes zum Ausdruck?

• Was bedeutet es, dem Wort Gottes in Bezug auf unsere Gemeindepraxis treu zu bleiben? Wie steht es mit unserem persönlichen Leben und Verhalten?

• Auf welcher Basis bestimmen wir, was im Neuen Testament maßgebend und zeitlos ist und was dagegen nur nebensächlich ist und mit der Kultur des 1. Jahrhunderts zusammenhängt.

1 Zum besseren Verständnis der Dreieinigkeit empfehle ich The Forgotten Trinity von James R. White (Minneapolis: Bethany House, 1998). Den Thesen der Evangelical Theological Society zufolge ist „Gott eine Dreieinigkeit aus Vater, Sohn und Heiligem Geist; die Personen sind wesensgleich und gleich an Macht und Herrlichkeit.“

2 Stanley Grenz, Created for Community, 52.

3 John P. Whalen und Jaroslav Pelikan beklagen den bedauernswerten Zustand der christlichen Theologie. Nach ihrer Überzeugung halten viele Kirchenvertreter die Dreieinigkeit für ein „Museumsstück mit nur wenig oder keinem Bezug zu den kritischen Problemen der Gegenwart in Leben und Denken.“ (Edmund J. Fortman, The Triune God: A Historical Study of the Doctrine of the Trinity (Philadelphia: Westminster Press, 1972)], xiii).

4 Eugene Peterson, Christ Plays in Ten Thousand Places (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2005), 45.

5 Zitiert nach Ted Peters, God as Trinity, 122.

6 Miroslav Volf, God’s Life in Trinity (Minneapolis: Fortress Press, 2006), xiv. Es herrscht heute weitgehend Konsens unter evangelikalen und anderen Theologen, was die zentrale Stellung der Dreieinigkeit im christlichen Leben betrifft. Vgl. das Literaturverzeichnis im Anhang: viele ihrer Arbeiten sind dort aufgelistet.

7 Eine gute Abhandlung zur Bedeutung der Dreieinigkeit für die Gemeinde findet sich in Kevin Giles, What on Earth is the Church?, 212-229.

8 Stanley Grenz, Theology for the Community of God, 482.

9 Kevin Giles, What on Earth Is the Church? (London: SPCK, 1995), 222.

10 Zitiert nach Kevin Giles, The Trinity and Subordinationism (Downers Grove: InterVarsity Press, 2002), 103.

11 Joh 5,30, 14,28.31 und 1 Kor 11,3 stehen in keinem Widerspruch dazu. Diese Stellen beziehen sich auf die freiwillige Unterordnung Christi in seiner irdischen Existenz als Mensch unter Gott den Vater. Er veranschaulichte damit, was es für einen Menschen heißt, sich Gott unterzuordnen. Diese Stellen belegen weder eine hierarchische Struktur noch eine Befehlsordnung innerhalb der Gottheit. Deshalb weisen Theologen jede Vorstellung von einer Hierarchie innerhalb der Gottheit entschieden zurück. In seinem Buch Gemeinschaft (Gerth Medien, 2005) weist Gilbert Bilezekian nach, dass die Kirche den Gedanken einer Subordination innerhalb der Gottheit stets als heidnisches Gedankengut zurückgewiesen hat. Vgl. Kevin Giles, The Trinity & Subordina­tionism (Downers Grove: InterVarsity Press, 2002); Jesus and the Father (Grand Rapids: Zondervan, 2006); Miroslav Volf, After Our Likeness.

12 Vgl. Frank Viola & George Barna, Heidnisches Christentum?

13 Dieses Prinzip ist zurückzuführen auf die Lehre „Wo die Schrift schweigt“ bzw. auf das so genannte „Regulativprinzip“. Meines Erachtens sind beide in hohem Maße gesetzlich und nicht praktisch umsetzbar. Sie gehen am Ziel vorbei. Das Neue Testament hat uns kein Gesetz gegeben, dem wir folgen müssten. Es ist so, wie Paulus schreibt: „Der Buchstabe [das Gesetz] tötet, der Geist macht lebendig“ (2 Kor 3,6).

14 F. F. Bruce, A Mind for What Matters, 263.

15 F. F. Bruce, The Message of the New Testament (Grand Rapids: Eerdmans, 1972), 98.

16 J. B. Philips, aus dem Vorwort zu „Briefe an junge Gemeinden“.

17 Damit stimme ich jenen Theologen zu, für die „Haupt“ in Bezug auf Christus sowohl „Kopf“ als auch „Quelle“ bedeutet. Vgl. F. F. Bruce, The Epistles to the Colossians, to Philemon, and to the Ephesians (Grand Rapids: Eerdmans, 1984), 68-69, 274-75; vgl. Francis Foulkes, Ephesians (Grand Rapids: Eerdmans, 1989), 73-74.

18 F. F. Bruce, A Mind for What Matters, 238.

19 Emil Brunner, Das Missverständnis der Kirche (Zürich: TVZ, 1988), 61.

20 Interessanterweise kommt das Wort „Pastor“ (Hirte) im Neuen Testament nur an einer einzigen Stelle vor (Eph 4,11), und da in seiner Mehrzahlform („Hirten“).

21 Zur Geschichte der nicht-chronologischen Reihenfolge des Neuen Testaments und deren Einteilung in Kapitel und Verse vgl. Frank Viola & George Barna, Heidnisches Christentum?, Kap. 11.

22 Zitiert nach David King (Hrsg.), The Bible Advocate and Precursor of Unity (London: A. Hall & Co, 1848), 126.

23 George R. Hunsberger & Craig Van Gelder (Hrsg.), The Church Between Gospel and Culture (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1996), 149.

24 Mit Magie hat das freilich wenig zu tun: Der Grund liegt im unterschiedlichen pH-Wert des jeweiligen Bodens.

Kapitel 2: Umdenken – Wie treffen wir uns?

Einige Institutionen sind so alt und ehrbar geworden, dass der Gedanke an ihre Schließung geradezu als Sakrileg erscheint.

F. F. Bruce

Die gesamte reformatorische Theologie suchte die organisierte Kirche neu zu strukturieren, ohne an ihren Grundfesten zu rütteln.

John Howard Yoder

Der Christ spricht gewöhnlich davon, „in die Kirche“ zu gehen. Damit ist die Teilnahme an einem Gottesdienst gemeint. Die Ausdrücke „zur Kirche gehen“ oder „am Gottesdienst teilnehmen“ sind dem Neuen Testament aber fremd. Beide Vorstellungen kamen lange nach dem Tod der Apostel auf. Der Grund dafür ist einfach: Die frühen Christen kannten solche Vorstellungen nicht. „Gemeinde“ war für sie kein Ort, wo man hingehen konnte. Sie verstanden ihre Treffen auch nicht als „(Gottes-)Dienste“.

Wenn wir das Neue Testament im Sinne des frühchristlichen Verständnisses lesen, wird klar, dass es vier Arten von Versammlungen gab:

• Apostolische Treffen: Das waren ganz besondere Versammlungen; die apostolischen Arbeiter predigten einer aktiv beteiligten Zuhörerschaft. Ihr Ziel war es, entweder eine neue Gemeinde zu gründen oder eine existierende zu ermutigen. Die zwölf Apostel hielten solche Treffen im Tempelvorhof in Jerusalem ab, als die Jerusalemer Gemeinde entstand (vgl. Apg 5,40-42). Paulus hielt ähnliche Treffen in der Schule des Tyrannus ab, als er die Gemeinde in Ephesus gründete (vgl. Apg 19,9-10; 20,27.31). Dabei sind für solche Treffen zwei Merkmale beobachtbar: Der apostolische Arbeiter tat die meiste Arbeit, und sie waren immer zeitlich begrenzt. Die Treffen hatten das Ziel, die Gläubigen vor Ort so zuzurüsten, dass sie unter der Leitung Jesu Christi leben und wirken konnten und somit keine menschliche Leitung vonnöten war (vgl. Eph 4,11-16; 1 Kor 14,26). Danach überließ der Apostel die Gemeinde sich selbst.1

• Evangelistische Treffen: Im ersten Jahrhundert wurde gewöhnlich außerhalb der regulären Gemeindetreffen evangelisiert. Die Apostel predigten das Evangelium dort, wo die Ungläubigen waren. Die Synagoge (Juden) und der Markt (Heiden) zählten zu den bevorzugten Einsatzorten (vgl. Apg 14,1; 17,1-33; 18,4,19). Evangelistische Treffen dienten dem Ziel, eine neue Gemeinde zu gründen oder eine bestehende zu vergrößern. Sie fanden nach Bedarf statt und waren keine feste Einrichtung der Gemeinde. Die Reise des Philippus nach Samaria ist ein Beispiel dafür (vgl. Apg 8,5ff.).

• Treffen zur Entscheidungsfindung: Manchmal musste man zusammenkommen, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Zu dieser Art Versammlung zählt etwa das Konzil zu Jerusalem (vgl. Apg 15). Eines der Hauptmerkmale dieser Versammlung war, dass alle am Entscheidungsprozess beteiligt waren. Die Apostel und Ältesten halfen bei diesem Prozess (Näheres dazu in Kapitel 10).

 

• Gemeindeversammlungen: Dies waren die regulären Versammlungen der Gemeinde und entsprachen unseren „Gottesdiensten“ am Sonntagmorgen. Allerdings waren sie radikal anders.

Im ersten Jahrhundert waren die Treffen der Gemeinde in erster Linie Treffen der Gläubigen. Das wird aus dem Zusammenhang in 1. Korinther 11–14 klar. Zwar waren zuweilen auch Ungläubige anwesend, sie standen aber eher am Rande. Paulus erwähnt die Ungläubigen flüchtig in 1. Korinther 14,23-25.

Anders als heute waren dies keine Treffen, bei denen vorne ein Pastor stand, der eine Predigt hielt, und der Rest passiv zuhörte. Der Gedanke an einen predigtzentrierten Gottesdienst mit einer Zuhörerschaft, die von Kirchenbänken zur Kanzel sah, war den frühen Christen fremd.

Gegenseitige Erbauung

Der heutige wöchentliche „Gottesdienst“ dient der Anbetung, der Predigt und in einigen Fällen der Evangelisation. Die Gemeinde des ersten Jahrhunderts dagegen hatte andere Absichten. Hier ging es um die gegenseitige Erbauung. Betrachten Sie folgende Stelle:

Wie ist es nun, ihr Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, so hat jeder von euch etwas: einen Psalm, eine Lehre, eine Sprachenrede, eine Offenbarung, eine Auslegung: alles lasst zur Erbauung geschehen! (1 Kor 14,6).2

Und lasst uns aufeinander achtgeben, damit wir uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unsere eigene Versammlung nicht verlassen, wie es einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr den Tag herannahen seht! (Heb 10,24-25).

Die regulären und schriftgemäßen Versammlungen der Gemeinde erlaubten jedem Mitglied, sich am Aufbau des Leibes Christi zu beteiligen (vgl. Eph 4,16). Es gab keinen, der alles anführte, keinen, der in der „Mitte“ stand.

Wenn sich die Gemeinde damals traf, so war es nicht jedes Mal dieselbe Person, die lehrte. Jedes Mitglied hatte das Vorrecht und die Verantwortung, der Gemeinde zu dienen. Gegenseitige Ermutigung war das Kennzeichen der Versammlungen. „Jeder von euch“: so lautete das Motto.

Die frühen Christen beteten Gott mit Gesang an, übertrugen diese Aufgabe aber keinem Chor professioneller Musiker. Jeder konnte ein Lied anstimmen. „Jeder von euch hat einen Psalm“, sagt Paulus (vgl. 1 Kor 14,26). Auch die Lieder selbst waren von Gegenseitigkeit geprägt. Beachten sie die Ermahnung des Paulus:

Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit, lehrt und ermahnt einander und singt mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern dem Herrn lieblich in euren Herzen (Kol 3,16).

Redet miteinander in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern; singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen (Eph 5,19).

Das Prinzip des „Einander“ zählte zu den vorherrschenden Grundsätzen der frühkirchlichen Versammlungen. Ganz ungezwungen schrieben die Christen ihre eigenen Lieder und sangen sie sich vor.3 Jeder Christ, dem der Heilige Geist etwas eingab, hatte die Freiheit, seinen Beitrag und seine Gabe beizusteuern.

Denn ihr könnt alle einer nach dem anderen weissagen, damit alle lernen und alle ermahnt werden (1 Kor 14,31).

In 1. Korinther 11–14 gibt uns Paulus einen Einblick in die Versammlung der Gemeinde des ersten Jahrhunderts. Wir sehen eine Gruppe von Menschen, die alle aktiv am Geschehen beteiligt sind. Freiheit, Offenheit und Spontaneität sind die Hauptmerkmale dieser Versammlung. „Einer dem anderen“ heißt das Motto; gegenseitige Erbauung ist das oberste Ziel.

Christus, der Leiter der neutestamentlichen Versammlung

Die neutestamentlichen Treffen der Gemeinde hingen völlig von der Leitung Jesu Christi ab. Christus stand im Vordergrund. Er war Maß und Mitte. Er sagte, welche Ziele zu verfolgen waren und was geschehen sollte. Wenn auch seine Leitung dem menschlichen Auge verborgen blieb, war dennoch klar, wer hier den Ton angab, nämlich er selbst.

Der Herr Jesus konnte in diesen Versammlungen sprechen durch wen er wollte und auch in dem Ausmaß, in dem er es wünschte. Es gab keine festgelegte Liturgie, die ihm die Hände gebunden oder ihn sonstwie behindert hätte.

Die Gemeindeversammlung funktionierte nach dem Prinzip „runder Tisch“: Jeder war aufgefordert, sich zu beteiligen. Der traditionelle Gottesdienst dagegen funktioniert nach dem Prinzip „Kanzel – Kirchenbank“. Dies teilt die Mitglieder in wenige aktive und viele passive auf, weshalb manche dies auch „Zuhörerkirche“ nennen.

In der Gemeinde des ersten Jahrhunderts stand weder die Predigt noch „der Prediger“ im Vordergrund. Die göttliche Regel hieß vielmehr: Die ganze Gemeinde macht mit. Die Versammlung war nicht-liturgisch, ohne Rituale und ganz unsakral. Nichts war oberflächlich; alles entsprang der lebendigen Gegenwart Christi.

Die Versammlung zeugte von einer flexiblen Spontaneität, die völlig unter der Leitung des Geistes Gottes stand. Er konnte sich eines jeden Einzelnen nach Belieben bedienen (vgl. 1 Kor 14,26.31). Wenn man ihm erlaubte, die ganze Versammlung zu leiten, so führte das zu größter Ordnung (vgl. 1 Kor 14,40).

Auf diese Weise leitete der Heilige Geist die Versammlung; wenn jemand etwas von ihm empfing, während gerade jemand anderes sprach, so war der zweite frei, seinen Gedanken einzubringen (vgl. 1 Kor 14,29-30). Unterbrechungen gehörten daher einfach dazu (vgl. 1 Kor 14,27-40). Derlei wäre in heutigen Kirchen undenkbar. (Stellen Sie sich nur vor, was geschähe, wenn Sie den Pastor während seiner Predigt unterbrächen, weil Sie etwas erkannt haben.)

Im Neuen Testament finden wir nirgends einen Hinweis darauf, dass die Gemeindeversammlung von einer Person geleitet werden sollte, ja, in der ganzen Bibel findet sich kein Hinweis darauf, dass die Mitte der Gemeindeversammlung eine Kanzel oder ein einzelner Mann sein sollte.4 John Howard Yoder schreibt:

Es gibt wohl kaum eine verlässlichere Konstante der menschlichen Gesellschaft als den Bereich, den man dem berufenen Priester zugeordnet hat … Wenn wir allerdings einen Blick auf die neutestamentliche Literatur werfen und sie auf diese Vorstellung hin befragen: Gibt es wirklich diesen Beruf, den nur einzelne oder wenige einnehmen sollten und der seiner einzigartigen Stellung nach der jeweiligen Person zum Lebensunterhalt dient, der auch ein integraler Bestandteil der Kirche und für ihr Funktionieren maßgeblich ist? Die Antwort der Bibel ist ein kategorisches „Nein“ … Wir sollten daher nicht auf ein klares und solides Predigtkonzept bedacht sein, sondern danach fragen, ob das Neue Testament unter all den verschiedenen Diensten überhaupt einen Predigtdienst kennt. Bei der Aufzählung der verschiedenen Dienste taucht ein solcher weder in der größten Vielfalt (Korintherbrief) noch in der geringsten Vielfalt (Pastoralbriefe) auf.5

Die bemerkenswerteste Eigenschaft der frühchristlichen Versammlungen dürfte in der Abwesenheit eines Gemeindeleiters bestehen. Jesus Christus leitete die Versammlung der Gläubigen durch den Heiligen Geist. „Einer dem anderen“ war das Ergebnis; von diesem Geist war die Versammlung durchdrungen. Kein Wunder, dass das Neue Testament diese Wortkombination beinahe sechzigmal gebraucht. Jedes Gemeindeglied kam mit dem Wissen in die Versammlung, dass es das Privileg und die Verantwortung hatte, etwas von Christus beizusteuern. Nebenbei bemerkt hatten auch Frauen das Recht, sich an den Versammlungen zu beteiligen.6

Man mag dagegenhalten: In meiner Gemeinde habe ich durchaus das Recht, mich zu beteiligen. Meine Frage lautet: Dürfen Sie sich auch an großen Versammlungen beteiligen, etwa wenn alle Mitglieder da sind? Dürfen Sie jederzeit aufstehen und etwas sagen, eine Lehre, eine Ermahnung, ein Lied oder was sonst Ihnen der Herr ans Herz gelegt hat? Noch wichtiger: Werden Sie ermutigt, dies zu tun?

Seien Sie ehrlich: Der Gedanke, dass sich alle gegenseitig dienen, wie er im Neuen Testament zutage tritt, ist doch wohl weit von dem entfernt, was wir in einer typisch institutionellen Kirche als eng gefassten Begriff des „Laiendienstes“ kennen. Die meisten organisierten Kirchen bieten eine Fülle von ehrenamtlichen Positionen an, wie z. B. Rasenmähen im Pfarrhof, das Begleiten der Besucher zu den Sitzplätzen, die Begrüßung am Eingang, Zettel verteilen, die Sonntagsschule unterrichten, Singen im Chor oder – bei entsprechender Begabung – in der Lobpreisgruppe, Folien auflegen oder PowerPoint-Präsentationen weiterklicken usw.

Diese eingeschränkten „Dienste“ sind aber Lichtjahre entfernt von jener freien und offenen Ausübung der geistgegebenen Gaben, die der ganzen Versammlung zugutekommen sollen.

Die Notwendigkeit eines funktionierenden Priestertums

Was ist der Grund für diese Vorgehensweise der frühen Kirche? War das bloß vorübergehende Kulturtradition? War das nur die Kindheit der Kirche, wie manche meinen, war es ihre Unwissenheit, ihre noch mangelnde Reife? Ich bin nicht davon überzeugt. Die Versammlungen des ersten Jahrhunderts waren tief in der biblischen Theologie verwurzelt. Man setzte die neutestamentliche Lehre vom Priestertum aller Gläubigen in die Tat um, eine Lehre, die für alle Evangelikale ein Lippenbekenntnis ist.

Was besagt diese Lehre? Nach den Worten des Petrus sind alle Gläubigen geistliche Priester; sie alle sind dazu aufgerufen, ihrem Herrn „geistliche Opfer“ zu bringen. Oder mit Paulus gesprochen: Alle Christen sind lebendige Glieder am Leib Christi. Die Versammlung mit offener Beteiligung nach neutestamentlichem Vorbild entspricht unserer geistlichen Natur. Jeder Christ hat die (neu) angeborene Neigung, sich mit anderen Christen zu treffen, um sich in offener Atmosphäre über den gemeinsamen Herrn auszutauschen. Ritual und Programm würden hier nur störend wirken. Man will schließlich sein Herz ausschütten, will sagen, was Gott hineingelegt hat.

Denken Sie nur an die Erweckungen der Vergangenheit. Wenn Sie sich mit diesen Erweckungen schon einmal befasst haben, dann wissen Sie, dass diese eine Zeit lang den traditionellen Gottesdienst ausgesetzt haben. Die Prediger pausierten oft monatelang. Stattdessen versammelte sich das Volk Gottes stundenlang, sang, bezeugte und sprach über Gott. Man traf sich ganz spontan. Es waren offene Treffen, an denen sich jedermann beteiligen durfte. Niemand leitete diese Treffen.

Warum geschah dies? Weil sich Gottes Volk auf seine Instinkte verließ; niemand hielt die Gezeitenflut des Heiligen Geistes auf, niemand hinderte ihn an seinem Wirken. Sobald die Wasser aber zurückgegangen waren, kehrte man schnell zur jahrhundertealten, gewohnten, protestantischen Gottesdienstpraxis zurück. Fast überall kamen die offenen Versammlungen zum Erliegen.

Im Grunde spiegelten die Gemeindeversammlungen des ersten Jahrhunderts das wider, was schon von Ewigkeit her im dreieinigen Gott stattgefunden hatte: selbstloses Leben, selbstlose Liebe und Gemeinschaft. Durch den Heiligen Geist schenkt sich der Vater ewiglich dem Sohn und umgekehrt. Das gemeinschaftliche Leben der frühen Kirche war der irdische Abglanz dieses göttlichen Austausches.

Die Gemeindeversammlungen der frühen Kirche bildeten das gottgeschaffene Umfeld, das geistliches Wachstum – gemeinsames und individuelles Wachstum – hervorbrachte (vgl. Eph 4,11-16). Wenn die verschiedenen Glieder des Leibes in Christus dienen, wachsen wir hinein in die ganze Fülle Gottes (vgl. Eph 3,16-19), und wenn wir lebendige Glieder an diesem Leib sind, wachsen wir auch als Einzelne (vgl. Mk 4,24-25).

Die geistliche Nahrung des Gläubigen in einer institutionellen Kirche dagegen hängt im Wesentlichen von der geistlichen und theologischen Vorbereitung weniger Leute ab. Könnte dies der Grund dafür sein, weshalb sich in unseren heutigen Kirchen so wenig tut?7

Über die prägende Natur des gemeinsamen Zusammenwirkens am Leib Christi schreibt John Howard Yoder: „Die Konsequenz ist unvermeidlich: Die Vielzahl der Dienste ist keine bloße Nebensächlichkeit, kein glücklicher Umstand von nur oberflächlicher Bedeutung, sondern die besondere Auswirkung der Gnade und damit ein Maßstab für die Kirche“.8 Freilich kann und soll der Christ auch außerhalb der Versammlung Christ sein. Die Versammlung der Gemeinde ist aber speziell dafür da, dass der einzelne Gläubige Christus durch seine Gabe(n) zum Ausdruck bringt (vgl. 1 Kor 11–14; Heb 10,24-25). Unglücklicherweise hat die institutionalisierte Kirche das Prinzip des „Einander“ vom Gottesdienst ausgeschlossen. Das aber bremst das geistliche Wachstum der Gemeinde.

 

Die Reformation hat das Priestertum aller Gläubigen wiederentdeckt. Sie versagte aber, als es galt, dies in die Praxis umzusetzen. Die reformatorische Sichtweise von der Priesterschaft der Gläubigen beschränkte sich auf das Individuum. Die Reformation beschränkte sich auf die Soteriologie (die Lehre von der Erlösung) und versäumte es, auch die Ekklesiologie (die Lehre von der Gemeinde) mit ins Spiel zu bringen. Die Reformatoren beanspruchten zwar den Grund und Boden, auf dem das Priestertum der Gläubigen stand, versäumten es aber, diesen Boden auch zu besetzen und zu bebauen. In einer typisch protestantischen Kirche ist die Lehre vom Priestertum der Gläubigen nicht mehr als eine sterile Wahrheit. Man sollte richtiger „Priesterschaft einiger Gläubiger“ dazu sagen.

Kaum etwas trägt mehr zum geistlichen Leben und Wachstum bei als die offene Beteiligung in der Gemeinde, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird. Gott hat die offene Beteiligung eingesetzt, um die herrliche Wirklichkeit eines voll wirksamen Priestertums zu verkörpern, das Christus zum Ausdruck bringt.

Der Verfasser des Hebräerbriefs zeigt zur Genüge, dass die gemeinsame Teilnahme am Leib für die geistliche Beschaffenheit jedes Mitglieds lebenswichtig ist. Gegenseitige Ermahnung ist das göttliche Gegengift zur Vermeidung von Abtrünnigkeit, sagt er, die göttliche Voraussetzung zur Beharrlichkeit des Gläubigen, ja, das göttliche Mittel zur Ausbildung des geistlichen Lebens:

Sehet zu, Brüder, dass nicht jemand von euch ein böses Herz des Unglaubens habe, im Abfall begriffen vom lebendigen Gott, sondern ermahnt einander jeden Tag, solange es heute heißt, damit nicht jemand unter euch verstockt werde durch den Betrug der Sünde! (Heb 3,12-13).

Die gegenseitige Ermahnung ist die Abhilfe gegen ein verhärtetes, ungläubiges Herz und gegen einen betrogenen Verstand. In gleicher Weise spricht das Neue Testament auch von der gegenseitigen Ermahnung als vom göttlichen Schutz gegen mutwillige Sünde:

Lasst uns aufeinander achten, uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unsere eigene Versammlung nicht verlassen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr den Tag herannahen sehet! Denn wenn wir mutwillig sündigen … (Heb 10,24-26).

Während zahllose Geistliche diese Stelle dazu missbraucht haben, ihren Schäfchen die Wichtigkeit des „Kirchenbesuchs“ ins Gewissen zu reden, haben sie den Rest des Verses schlichtweg ignoriert. Diese Schriftstelle sagt, dass gegenseitige Ermahnung (und nicht das Hören einer Predigt) der Hauptzweck der Versammlung ist. Gegenseitige Ermahnung ist auch das gottgegebene Abschreckungsmittel gegen mutwilliges Sündigen.

Meiner Meinung nach ignorieren wir die Gesamtaussage dieser Stelle auf eigene Gefahr. Der Grund ist einfach: Unser geistliches Wohlergehen hängt von der Gemeinsamkeit und vom gegenseitigen Funktionieren der einzelnen Glieder ab.