Ur-Gemeinde

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Jesus Christus in seiner ganzen Fülle sichtbar werden lassen

Das griechische Wort für Gemeinde ist „ekklesia“. Das bedeutet „Versammlung“. Das passt vorzüglich zum führenden Gedanken der paulinischen Briefe über die Gemeinde: die Gemeinde ist der verkörperte Christus (vgl. 1 Kor 12,1-27; Eph 1,22-23; 4,1-16).

Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen ist die Kirche zur gegenseitigen Erbauung da. Von Gottes Standpunkt aus besteht der Zweck der Versammlung aber darin, seinen herrlichen Sohn sichtbar werden zu lassen. Die Kirche ist der Leib; Christus ist das Haupt. Es ist die Bestimmung des Leibes, zu leben und dieses Leben auch zu zeigen.

Anders ausgedrückt: Wir versammeln uns, damit der Herr Jesus sich in seiner ganzen Fülle zeigen kann. Geschieht dies, wird der Leib erbaut.

Beachten Sie: Der einzige Weg, wie Christus richtig zum Ausdruck kommt, ist dann beschritten, wenn sich jedes einzelne Gemeindeglied so einbringt, wie es dies vom Herrn empfangen hat. Verstehen Sie das bitte richtig: Der Herr Jesus kann in seiner Fülle nicht durch ein einzelnes Mitglied offenbart werden. Dafür ist er viel zu reich (vgl. Eph 3,8). Wenn die Hand am Leib nicht funktioniert, dann ist auch Christus nicht voll sichtbar. Genauso wenn das Auge versagt, bleibt dem Herrn die Selbstoffenbarung verwehrt. Wenn dagegen die Glieder einer örtlichen Versammlung alle mitmachen, dann wird Christus sichtbar. Er wird sichtbar gemacht, denn er ist dann mitten unter uns.

Ich möchte das anhand eines Puzzles veranschaulichen. Wenn alle Teile des Puzzles richtig zusammengesteckt sind, ist das Puzzle fertig und man sieht das ganze Bild. So ist es auch mit Christus und seiner Gemeinde.

Das höchste Ziel einer Versammlung ist es daher, den unsichtbaren Christus durch seinen Leib sichtbar werden zu lassen. Mit anderen Worten: Wir versammeln uns, um den Herrn Jesus Christus auf der Erde wieder „zusammenzusetzen“. Dann nämlich ist nicht nur Christus in seinen Heiligen verherrlicht und jedes Gemeindemitglied erbaut, sondern da geschieht auch etwas im unsichtbaren Bereich: Die Gewalten und Mächte in der Himmelswelt werden beschämt.

Paulus sagt, die mannigfaltige Weisheit Gottes werde den geistlichen Mächten des Bösen in der Himmelswelt durch die Gemeinde bekannt gemacht. Durch Versammlungen mit offener Beteiligung zeigt die Gemeinde jener unsichtbaren Welt, dass Jesus Christus, die Verkörperung von Gottes Weisheit immer noch so lebendig ist, dass er eine gefallene Menschheit, die einst Gottes Feind gehörte, leiten kann. Das bringt Gott große Ehre. Auch ist es ein ganz zentraler Punkt seines ewigen Planes. Paulus drückt das so aus:

Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit (1 Kor 1,24).

… damit jetzt den Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen Regionen durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes kund würde, nach dem Vorsatz der Ewigkeiten, den er gefasst hat in Christus Jesus, unserem Herrn (Eph 3,10-11).

Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Herrschaften, gegen die Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Regionen (Eph 6,12).

Versammlungen mit offener Beteiligung schließen Planung nicht aus, noch müssen diese Versammlungen ohne Ordnung sein. In 1. Korinther 14 geht Paulus auf eine ganze Reihe weit gefasster Richtlinien ein, die dazu da sind, die Treffen ordentlich abzuhalten. Paulus zufolge besteht kein Widerspruch zwischen offener Beteiligung und ordentlichem Ablauf. Allerdings ist es eine organische Ordnung. Diese Ordnung ist ein Nebenprodukt des gegenseitigen Bestrebens, einander zu erbauen. Was den Inhalt betraf, so war die Versammlung der Christen christozentrisch. Was da besprochen wurde, warf immer neues Licht auf Christus. Jedes Lied brachte ihm Ehre, jedes Gebet rückte ihn in den Mittelpunkt. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Die Christen erlebten während der Woche das innewohnende Leben Christi und trafen sich dann, um ihre Erfahrungen auszutauschen. In dieser Hinsicht stellten die Treffen der frühen Kirche einen Ort der Begegnung dar. Man traf sich, um den Überfluss an geistlichem Leben an andere weiterzugeben.

Haben Sie je etwas vom Herrn so erkannt oder sind ihm auf eine Weise begegnet, wodurch Sie geistlich so sehr erfüllt waren, dass Sie beinahe platzten, wenn Sie das nicht mit anderen hätten teilen können? Wenn ja, dann stellen Sie sich vor, das dies einer ganzen Gemeinde passierte. Es ist ein zentrales Merkmal der Gemeindeversammlung, dem geistlichen Leben zu erlauben, sich so zu entfalten, dass alle gesegnet werden. Wie auch die Personen der Dreieinigkeit ihr Leben einer dem anderen selbstlos schenken, so sollten auch die Mitglieder der Gemeinde sich in ihren Versammlungen einander schenken. Die neutestamentliche Teilnahme an einer Versammlung besteht mehr im Geben als im Nehmen. Ganz anders als heute gingen die frühen Christen nicht „zur Kirche“, um geistlichen Segen aus den Händen einiger „religiöser Spezialisten“ zu empfangen. Sie trafen sich, um ihren Schwestern und Brüdern zu dienen, indem sie ihnen etwas vom Leben des Herrn weitergaben. Dadurch suchten sie die Gemeinde zu erbauen (vgl. Röm 12,1-8; 1 Kor 14,26; Heb 10,24-25).

Eine Frage der anhaltenden Kraft

In der typischen Kirche/Gemeinde ist es der Mechanismus des Gemeindeprogramms, der das Gemeindeleben anfacht und vorwärtstreibt. Sollte der Geist Gottes diese Gemeinde verlassen, so würde das nicht einmal bemerkt werden. Die „normalen Geschäfte“ des Gemeindeprogramms gingen einfach weiter. Der Gottesdienst bliebe davon unberührt. Die Liturgie würde nicht unterbrochen. Es würde gepredigt, und die Loblieder würden weiterhin gesungen werden. Es wäre wie bei Simson: die Versammlung würde ganz normal ihr Programm verfolgen und nicht merken, „dass der Herr … gewichen war“ (vgl. Ri 16,20).

Die anhaltende Kraft der frühen Kirche speiste sich dagegen aus dem Leben des Heiligen Geistes. Die frühen Christen hatten keine Geistlichen, keine Liturgie, kein Programm und kein Ritual. Sie verließen sich völlig auf das geistliche Leben der Einzelnen, die das Leben der Gemeinde und die Qualität der Versammlungen ausmachten. Wenn sich das geistliche Leben der Gemeinde einmal erschöpfte, dann bemerkte das jeder Einzelne. Das fröstelnde Schweigen wäre niemandem entgangen. Mehr noch: Hätte der Geist Gottes eine Versammlung endgültig verlassen, so hätte sich diese Gemeinde sofort aufgelöst. Anders gesagt: Die Gemeinde des ersten Jahrhunderts kannte keinen erhaltenden Einfluss außer dem Heiligen Geist. Sie verließ sich nicht auf die Leitung Geistlicher, auch nicht auf irgendwelche Programme, weder auf menschliche Planung noch auf institutionelle Systeme.

Moses Stiftshütte ist der beste Vergleich für eine Kirche, die durch eine Institution zusammengehalten wird statt durch das Leben aus Gott. Als Gottes Gegenwart die heilige Zeltwohnung verließ, blieb nichts mehr übrig als eine leere Hülle mit beeindruckendem Äußeren.

Auch nachdem die Herrlichkeit des Herrn gewichen war, kamen immer noch Leute, um bei der leeren Stiftshütte ihre Opfer darzubringen. Sie bemerkten nicht einmal, dass Gott gewichen war (vgl. 1 Chr 16,39-40; 2 Chr 1,3-5; Jer 7,12-14).

Auf diese Weise liegt das Übel der institutionellen Kirche in ihrem Vertrauen auf programmorientierten, von Menschen erdachten Systemen, die die „Kirche“ stützen, während der Geist Gottes abwesend ist. Dieses verkalkte System täuscht: Ist das spontane Leben Jesu Christi aus einer christlichen Gemeinschaft verschwunden, dann hört eine solche Gemeinschaft auf, Gemeinde im biblischen Sinn zu sein, selbst dann, wenn die äußere Form gewahrt bleibt.

Der Einwand des Klerus

Das Neue Testament sieht die Versammlung der Gemeinde als offene Gemeinschaft mit spontaner Beteiligung. Das aber lehnen heute viele Geistliche ab. Die Einwände dagegen lauten etwa so: „Wenn ich es den Mitgliedern meiner Kirche erlaube, ihre Gaben frei auszuleben, würde das in Chaos münden. Ich habe gar keine andere Wahl, als die Leitung zu übernehmen, sonst gerät schnell alles außer Kontrolle.“ Andere sagen: „Ich habe das mit meinen ,Schäfchen‘ versucht, aber es funktioniert nicht.“

Diese Einwände verraten eine krasse Unkenntnis von Gottes Ekklesiologie. Schon der Gedanke, dass ein Geistlicher über die Autorität verfügt, seinen Brüdern die offene Beteiligung zu „erlauben“ oder zu „verwehren“, beruht auf einem verzerrten Verständnis von Autorität (das wird in Teil 2 genauer behandelt). Kein Mensch hat das Recht, einer gläubigen Priesterschaft die Ausübung der geistgeschenkten Gaben zu erlauben oder zu verbieten. Auch hat niemand das Recht, vom Volk Gottes als von „meinen Schäfchen“ zu sprechen.

Zweitens verrät die Besorgnis, mangelnde Leitung eines Geistlichen führe schnell ins Chaos, ein fehlendes Vertrauen in den Heiligen Geist und ebenso ein fehlendes Vertrauen in Gottes Volk selbst. Das widerspricht aber der neutestamentlichen Sichtweise (vgl. Röm 15,14; 2 Kor 2,3; 7,6; 8,22; Gal 5,10; 2 Thess 3,4; Phlm 21; Heb 6,9).

Drittens ist die Besorgnis, die offene Beteiligung in einer Versammlung müsse unweigerlich ausufern, schlichtweg unbegründet. Allerdings hängt die Versammlung von einem sehr wichtigen Punkt ab: Um als Glieder am Leib Christi ordnungsgemäß funktionieren zu können, müssen sie dafür zugerüstet werden.

Unter dieser Voraussetzung möchte ich offen und ehrlich bekennen: Ich verstehe, dass ein Pastor sich Sorgen macht, die „Erlaubnis“ einer offenen Beteiligung könne misslingen. Der Grund für dieses Misslingen ist aber einfach: Vielleicht hat er das Volk Gottes einfach nicht zugerüstet, unter der Herrschaft Jesu Christi zu agieren.

 

Man wird keineswegs angemessen zugerüstet, wenn man still die Kirchenbank drückt und Woche um Woche einer neuen Predigt lauscht. Die richtige Zurüstung bekommt das Volk Gottes von Christen, die fähig sind, das Wissen um die richtige Nachfolge weiterzugeben und zu zeigen, wie man die einzelnen Gaben in der Versammlung einsetzt. Solche Arbeiter rüsten die Heiligen zu (vgl. Eph 4,11-16). Danach tun diese Arbeiter etwas, das heute wohl nur wenige Pastoren wagen würden: Sie überlassen die neue Gemeinde sich selbst (vgl. Apg 13–20).

Eine Versammlung mit offener Beteiligung wird sicherlich nicht immer so ordentlich ablaufen wie ein geregelter Gottesdienst, der streng dem Wochenplan folgt. Nichtsdestotrotz wird sie mehr von der Fülle Christi zeigen, als das ein menschliches Konstrukt hervorzubringen imstande wäre.

In einem Treffen nach dem Muster des ersten Jahrhunderts kann es freilich vorkommen, dass es hie und da „Beiträge“ gibt, die wenig nützlich sind. Das trifft in besonderem Maße auf junge Gemeinden zu. Die Lösung heißt aber nicht: weg mit der offenen Beteiligung. Man muss den Übereifrigen zeigen, wie sie es besser machen können, und genauso jenen helfen, die wenig Erbauliches beitragen. Das lastet gerade im Gründungsstadium einer Gemeinde auf den Schultern der Gründer. Später übernehmen die Ältesten und Erfahreneren diese Rolle (siehe Kap. 9). Erinnern wir uns, wie Paulus dem Durcheinander in Korinth begegnete: Er schloss die Versammlungen nicht etwa und führte eine Liturgie ein, nein, er gab seinen Geschwistern Leitlinien an die Hand, aufgrund derer sie für Ordnung und Erbauung sorgen konnten (vgl. 1 Kor 14,1ff.).

Paulus war darüber hinaus zuversichtlich, dass die Gemeinde diesen Leitlinien folgen würde. Das führt uns zu einem wichtigen Grundsatz: Jede Gemeinde des ersten Jahrhunderts war mit einem reisenden apostolischen Arbeiter verbunden, der ihr mit den anfallenden Problemen half. Manchmal kam diese Hilfe in Form von Briefen, manchmal stattete der Apostel der Gemeinde einen persönlichen Besuch ab.

Auch heutige apostolische Arbeiter geben den Gemeinden solche Leitlinien, um internen Schwierigkeiten zu begegnen. Diese Leitlinien sind aber dazu konzipiert, die Gemeinde wieder in die Hände des Heiligen Geistes zu führen statt unter die Herrschaft starker Persönlichkeiten.

Werden diese Leitlinien befolgt, dann braucht es keine menschliche Aufsicht, keine vorgegebene Liturgie oder vorgefertigten Abläufe. Wie schon gesagt, die Neigung, offene Treffen nach Art des ersten Jahrhunderts abzulehnen, verrät ein mangelndes Vertrauen in den Heiligen Geist.

Verzeihen Sie mir meine persönlichen Vergleiche, aber in all den Jahren, in denen ich mit organischen Gemeinden gearbeitet habe, habe ich nie die Notwendigkeit verspürt, meine Zuflucht in Liturgie, Riten oder Amtshandlungen zu suchen. Ein großer Teil meines Dienstes bestand darin, Gottes Volk zuzurüsten, sodass es seinen Aufgaben nachkommen konnte. Dazu gehörte, die Übereifrigen zu bremsen und die Schüchternen zu ermutigen, sich öfter zu beteiligen.

In 4. Mose 11 tritt zum allerersten Mal eine Art Klerikalismus auf. Der Geist des Herrn legte sich auf zwei seiner Diener, auf Eldad und Medad, und sie begannen zu prophezeien (Vv. 26-27). Eifrig tritt ein junger Zelot an Mose heran und ersucht ihn, den beiden „zu wehren“ (V. 28). Mose aber wies den jungen Eiferer zurück und sagte, er wünsche sich, dass das ganze Volk Gottes prophezeien möge.

Moses Wunsch sollte sich zu Pfingsten erfüllen (vgl. Apg 2,17-18) und anschließend das ganze erste Jahrhundert hindurch (vgl. Apg 2,38-39; 1 Kor 14,1.31). Leider fehlt es im Reich Gottes nicht an solchen, die den Eldads und Medads Einhalt gebieten möchten.

Haupt oder Herr?

Die Bibel zeichnet einen sorgfältigen Unterschied zwischen Christus als Haupt und Christus als Herrn. Wenn es im Neuen Testament um Christus als Haupt geht, dann fast immer im Zusammenhang mit seiner Beziehung zu seinem Leib (vgl. Eph 1,22-23; 4,15; 5,23; Kol 1,18; 2,19). Die Herrschaft Christi dagegen meint fast immer seine Beziehung zum einzelnen Jünger (vgl. Mt 7,21-22; 10,24-25; Lk 6,46).

Was die Herrschaft für den Einzelnen ist, ist die „Hauptschaft“ für die ganze Gemeinde. Hauptschaft und Herrschaft sind zwei Seiten derselben Münze. Hauptschaft bedeutet ausgeübte Herrschaft im gemeinschaftlichen Leben des Volkes Gottes.

Es ist wichtig, diesen Unterschied zu begreifen, denn er hilft uns, die heutige Gemeindepraxis zu verstehen. Der Christ weiß für gewöhnlich um die Herrschaft Christi, jedoch oft nichts von seiner Hauptschaft. Der Gläubige mag sein eigenes Leben immerhin der Herrschaft Christi unterwerfen. Er mag dem gehorchen, was er aus der Schrift kennt. Er mag auch innig beten und ein aufopferndes Leben führen, doch zur selben Zeit mag er vielleicht ahnungslos bleiben in Bezug auf den gemeinsamen Dienst, die gegenseitige Unterordnung, authentische Gemeinschaft oder gemeinsames Zeugnis.

Letztlich bedeutet die Unterordnung unter die Hauptschaft Jesu aber nichts anderes als dass man auf Jesu Willen im Leben und in der Praxis der Gemeinde eingeht. Es bedeutet, dass wir uns in jene Bahnen fügen, die Gott der Kirche vorgezeichnet hat, und uns ihnen ganz hingeben. Die Unterordnung unter die Hauptschaft Christi verkörpert die neutestamentliche Wirklichkeit: Jesus ist nicht nur Herr des Einzelnen, sondern auch das Haupt seiner Gemeinde.

Mein Freund und Mentor Stephen Kaung trifft wohl ins Schwarze, wenn er sagt:

Die Menschen glauben gewöhnlich, dass ihnen das Wort Gottes zeigt, wie sie als Einzelne vor Gott leben sollen. Wenn es aber um die Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens geht, denken sie, Gott überlasse ihnen selbst die Wahl. Gott sagt: „Es ist dir überlassen, tu, was du willst.“ Genau so steht es heute um das Christentum. Es gibt keine Leitlinien für unser gemeinschaftliches Leben: Jeder tut, was in seinen Augen recht erscheint. Liebe Brüder und Schwestern, wir sind zwar als Einzelne gerettet, aber zur Gemeinschaft berufen. Das Wort Gottes hält genauso viel Lehre und Anschauungsmaterial zur Führung des gemeinschaftlichen Lebens bereit wie für unser persönliches Leben.9

Deshalb glaube ich, die Christen von heute glauben nur verstandesgemäß an die Lehre vom Priestertum der Gläubigen. Sie versagen jedoch in ihrer Ausübung dieses Priestertums, weil sie in der subtilen Falle tief verwurzelter Traditionen gefangen sind.

Wie sieht es heute aus?

Die vergangenen zwanzig Jahre hatte ich das Privileg, Hunderte Gemeindeversammlungen mit offener Beteiligung besuchen zu können. Einige davon waren einfach überwältigend. Diese Treffen haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Andere waren ganz annehmbar. Wieder andere dagegen waren furchtbar, und dann waren da einige, über die man gar nicht reden mag.

Während der institutionalisierte Gottesdienst von Haus aus perfekt abläuft, variieren organische Versammlungen abhängig von der geistlichen Verfassung und Vorbereitung jedes Einzelnen.

Hierin liegt eine der Aufgaben eines apostolischen Arbeiters. Er muss das Volk Gottes in die Lage versetzen, dass es freie und doch geordnete Treffen durchführen kann, in denen Christus in seiner Fülle zum Ausdruck kommt.

In all den Jahren, in denen ich organische Gemeinden besucht und selber gegründet habe, habe ich entdeckt: Es ist äußerst schwierig, jemandem zu beschreiben, wie eine Gemeinde unter der Leitung Christi aussieht, wenn er es nicht schon selbst miterlebt hat. Nichtsdestotrotz will ich mein Bestes geben, Ihnen eine Versammlung vor Augen zu malen, die Ihnen einen Geschmack davon gibt, wie ein solch herrliches Treffen aussehen kann.

Es ist etwa zehn Jahre her, da traf sich eines Abends in einem Haus eine kleine Gemeinde von etwa fünfundzwanzig Christen. Eineinhalb Jahre hatte ich Jesus Christus in dieser Gemeinde gedient und zweiwöchentlich sogenannte „apostolische Treffen“ arrangiert. Das Ziel war, die Gemeinde so zuzurüsten, dass sie ohne menschliche Leitung alleine weitermachte.

Dann kam jener Tag. Die Gemeinde sollte zum ersten Mal ganz auf sich selbst gestellt sein, also ohne mich. Dennoch schlich ich mich an diesem Abend in den Raum, ohne dass mich jemand bemerkte. Ich versteckte mich hinter einer Couch. Ich wusste: Würde mich jemand sehen, dann hätte das die ganze Sache verändert. Das ist ganz normal, wenn der Gründer einer Gemeinde anwesend ist, besonders in den ersten Jahren ihres gemeinschaftlichen Lebens.

Die Gläubigen begannen mit Gesang. Sie sangen ohne instrumentale Begleitung. Eine Schwester stimmte ein Lied an, und alle stimmten ein. Dann beteten sie einer nach dem anderen ganz spontan. Dann stimmte ein Bruder ein Lied an. Diesmal standen sie alle auf. Sie beteten weiterhin und sagen Lieder. Während sie sangen, warf immer wieder einmal jemand eine kurze Ermahnung oder Ermutigung in den Raum, ganz nach dem Text der Lieder, die sie sangen. Der Ausdruck „bewegend“ trifft es nicht ganz. Keiner führte den Gesang an. Alle beteiligten sich ganz ungezwungen am Lobpreis Gottes.

Nachdem sie eine Zeit lang gesungen hatten, setzten sie sich. Sofort stand eine Frau auf und begann sich mitzuteilen. Sie sprach davon, wie sie vergangene Woche Christus als lebendiges Wasser erlebt hatte. Sie las einige Verse aus dem vierten Kapitel des Johannesevangeliums. Als sie darüber sprach, wurde sie von zwei anderen Frauen unterbrochen, die über ihre eigenen Erfahrungen und Einsichten zu dieser Stelle und diesem Thema berichteten. Sie trugen ganz andere Dinge über Christus bei.

Nachdem die Frau, die unterbrochen worden war, fertig war, stand ein junger Mann auf. Er sprach vom Herrn als lebendigem Wasser und bezog sich dabei auf eine Stelle aus Offenbarung 22. Er sprach einige Minuten, dann stand eine Frau auf und fügte seinen Worten noch einiges hinzu. So ging das etwa eine Stunde lang. Einer nach dem anderen standen die Brüder und Schwestern in Christus auf und sprachen über ihre geistlichen Erfahrungen mit dem Herrn Jesus Christus. Alle sprachen sie von ihm als vom lebendigen Wasser. Einige hatten Gedichte vorbereitet, andere trugen Lieder vor, wieder andere erzählten etwas, lasen aus der Schrift oder beteten.

Während ich hinter der Couch lauschte, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Es ging mir so nahe, dass ich weinen musste. Das Treffen elektrisierte mich geradezu. Es war, als ergösse sich ein Strom in diesen Raum, der nicht zu stoppen war. Ich konnte die Gegenwart und Gnade des Herrn spüren. Der Abend war reich, voll, lebendig und schwingend. Ich wünschte mir, ich hätte Papier und Bleistift dabeigehabt, um alles aufzuschreiben, was an herrlichen Dingen gesagt wurde. Viele von ihnen bewiesen grundlegende Einsichten. Ich lauschte einfach voller Staunen.

Das Unglaubliche dabei war, dass niemand die Versammlung leitete oder moderierte (jedenfalls kein Mensch). Alles drehte sich um Christus.

Schließlich neigte sich der Abend seinem Ende zu. Jemand stand auf und stimmte ein Lied an. Da standen auch die anderen auf und stimmten ein. Ich schlich mich – nicht ganz unbemerkt – hinaus. Eine Woche später gestand ich der Gemeinde, dass ich da gewesen war. Sie hatten sich auf dieses Treffen vorbereitet. Zu zweit hatten sie sich die vergangene Woche getroffen und sich vor dem Herrn auf die kommende Versammlung vorbereitet. Das Ergebnis war fulminant: Sie bewiesen ein geistliches Leben, das den Herrn Jesus Christus durch jedes seiner Glieder zum Ausdruck brachte.

Diese Gruppe von Christen war am Anfang meiner Arbeit mit ihr keineswegs fähig gewesen, so zu agieren. Damals noch waren die meisten gewohnt, sich zurückzuhalten und zu schweigen. Einige stärkere Persönlichkeiten dominierten die Versammlung. Doch nachdem sie etwa eineinhalb Jahre lang geistlichen und praktischen Dienst erhalten hatten, waren sie in der Lage, gemeinsam den Herrn zu erkennen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, ihren Mund zu öffnen und miteinander den lebendigen Christus zu teilen – und das alles in guter Ordnung und zur Ehre Gottes.

Ich könnte noch viele andere Beispiele dieser Art hinzufügen. Die Vielfalt der Ausdrucksweise ist wahrlich groß. Ich glaube aber, Ihnen einen ausreichenden Eindruck vermittelt zu haben, wie eine Versammlung unter der Leitung Christi aussehen kann.