Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt

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Dann ging er einen Stock tiefer, um dort die Toilette auf dem Flur zu benutzen. Als er die Tür zum Waschraum öffnete, blickte ihm von der gegenüberliegenden Wand sein schwarzes Spiegelbild entgegen. Mit einem Fluch auf den Lippen zertrümmerte er den Spiegel in einer Reflexbewegung mit dem Ellbogen.

»Der Tag fängt so an, wie der andere aufgehört hat,« murmelte er zwischen den Zähnen und betrachtete seinen am Arm eingerissenen Pullover.

Spiegel brachten Unglück. Dieser Glaubenssatz der Magier-Gilde war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Was in einem Spiegel erschien, tat so, als wäre es die Wirklichkeit, war aber eine Täuschung. In ganz Farewell hingen Spiegel deshalb nur an ganz bestimmten dafür vorgesehenen Stellen.

Mit dem Fuß kehrte Zardioc die Scherben in einer Ecke zusammen. Ein Grund mehr für den Wirt, sich über ihn aufzuregen.

Nachdem er sich frisch gemacht hatte, ging er in die Gaststube hinunter, um sich ein ausgiebiges Frühstück zu bestellen. Gestern hatte er nur von trockenem Brot und einigen unterwegs gepflückten Früchten gelebt, und sein Magen machte sich unmissverständlich bemerkbar.

Wie er erwartet hatte, war er der erste Gast - er brauchte eben nicht viel Schlaf -, nur der Wirt war schon auf den Beinen. Er sah misstrauisch zu ihm hinüber, als er es sich in einer Ecke bequem machte. Nach einer Weile machte er Zardioc klar, dass er noch warten müsse, es wäre noch keine Frühstückszeit. Er nahm es gelassen hin und stand wieder auf, um nach seinem Pferd zu sehen.

Draußen war es noch immer bewölkt und windig, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war frisch und empfindlich kühl, und Zardioc zog seinen Umhang enger um sich, als er zum Stall hinüberging.

Der Rappe begrüßte ihn mit leichtem Schnauben und rieb seine Schnauze an ihm. Noch mehrere andere Pferde waren im Stall festgebunden, meist ziemlich abgemagerte Gäule, denen der Mangel an Pflege anzusehen war. Zardioc vergewisserte sich, dass genug Heu und Wasser bereitstand, als er ein krächzendes Geräusch aus dem hinteren Teil des Stalles vernahm. Neugierig trat er näher und erblickte, abgesondert von den anderen Reittieren, einen majestätisch aufgerichteten straußenähnlichen Laufvogel. Das Gefieder schimmerte in glänzendem Weiss und war sorgfältig geputzt. Neben dem Laufvogel lag ein seltsam geformter, reich verzierter Sattel.

Der Kadu, vermutete Zardioc und fragte sich, wem das Tier wohl gehören mochte. Es wirkte noch mehr wie ein Fremdkörper als sein Rappe.

Dann verließ er den Stall und ging noch eine Weile vor dem Gasthaus auf und ab.

Anstatt leichter fiel es ihm immer schwerer, sich an die fremden Sitten und Gebräuche anzupassen. Er stammte eben aus einer Gemeinschaft, in der alles in recht engen Bahnen verlief, eine Tatsache, die ihm erst jetzt so richtig zu Bewusstsein gekommen war. Noch nie hatte er sich so weit von Farewell entfernt, das war auch nicht üblich, sie waren eine sehr bodenständige Gemeinschaft. Er fühlte sich unsicher und verlassen ohne die vertrauten Gesichter und Stimmen um sich herum, er vermisste den Schutz der Gilde und Familie, wär hinausgeschleudert in ein fremdes Universum. Aus der anfänglichen Neugier war schnell Angst geworden, er vermied Kontakte zu anderen, genoss eher schon den Ritt durch unbewohnte Gebiete des Landes und die Einsamkeit. Gleichzeitig spürte er ein heftiges Verlangen nach Nähe und Gedankenaustausch, aber das blieb unerreichbar für ihn, die Kluft in ihm selbst war zu groß.

Der Umgang mit Geld war eine weitere Barriere zu dem Abschnitt, der vielleicht noch vor ihm lag. Er war es nicht gewöhnt, sich darüber Gedanken zu machen, was wie viel kostete und welche Bequemlichkeit man für eine bestimmte Summe erwarten konnte. Auch das Verhalten der Menschen zueinander schien sich mehr danach zu richten, welcher Wert einander zugemessen wurde.

Zardioc schüttelte den Kopf. All dies war schwer zu begreifen, und die Spielregeln sagten ihm nicht zu. Leanda hatte ihn zwar vorbereitet, aber der Gedanke, dass er sich damit noch weiter auseinandersetzen musste, bereitete ihm Unbehagen. Es konnte natürlich geschehen, dass er sich morgen wieder auf den Heimweg machte, aber diese Möglichkeit war unwahrscheinlich. Es hing alles davon ab, was ihm die Kontaktperson berichten würde. Hoffentlich kam das Treffen heute zustande, er wollte diesen ungastlichen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen.

Als er von seinem Spaziergang zurückkehrte, hatte sich die Gaststube gefüllt. Er fühlte neugierige, teilweise ängstliche Blicke auf sich ruhen. Augen, die ihn anstarrten und rasch wieder wegblickten. Die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, störte ihn, unauffällig fühlte er sich wohler.

Außer zwei Geschöpfen hatte er es bei den Anwesenden mit Menschen beiderlei Geschlechts zu tun. Er erkannte die Trinkrunde von gestern Abend wieder, und auch ein Tisch, an dem nur Frauen saßen, alle mit verhüllten Gesichtern, fiel ihm auf. Ansonsten schenkte Zardioc den Menschen keine weitere Aufmerksamkeit, er hätte es sofort gemerkt, wenn der Bote unter ihnen gewesen wäre.

Die beiden Nicht-Menschen, die sich an einem kleinen Tisch gegenübersaßen, interessierten ihn schon eher. Ein Nicht-Mensch als Kurier wäre zwar ungewöhnlich, aber er musste jeder Möglichkeit nachgehen.

Den einen identifizierte er ohne Schwierigkeiten als einen Fung, dessen Fell grünrosa gefärbt war. Fungs gab es relativ zahlreich, und es waren vielerlei Geschichten über sie in Umlauf, deren Inhalt meist humoristischer Natur war. Der Fung trug lediglich eine weite grüne Hose aus seidenartigem Stoff, und seine kleinen, lidlosen Augen in dem runden Kopf blinzelten nervös.

Der andere Nicht-Mensch war von klobiger Gestalt. Ein wuchtiger Körper saß auf vier Beinen, und die Arme, die aus seinem Obergewand hervorragten waren schuppenbedeckt. Er würdigte Zardioc, der nicht wusste, welchem Volk der Gepanzerte angehörte, keines Blickes.

Einem der beiden mochte der Kadu gehören, wahrscheinlich dem Fung, denn Zardioc konnte sich nicht vorstellen, dass der Laufvogel das Gewicht des anderen zu tragen vermochte. Er konzentrierte sich kurz auf die Nicht-Menschen, bis er sich sicher war, dass keiner von beiden der erwartete Gesandte war. Dann nahm er an einem freien, abseits stehenden Tisch Platz und wartete geduldig, bis der Wirt ihm sein Frühstück brachte.

Dieser war jetzt offensichtlich besser gelaunt. Er bot Zardioc an, für ihn ein besseres Zimmer bereitzustellen, da heute noch mehrere Gäste abreisten. Zardioc akzeptierte es dankend, wohl wissend, dass er diese zur Schau gestellte Freundlichkeit nur seinem Geld zu verdanken hatte; Zahlungskräftige Gäste verärgert man nicht. Auch heute waren keine Angestellten zu sehen, der Wirt hatte alle Hände voll zu tun, wahrscheinlich wollte er sein gutes Geld nicht für Lohnzahlungen ausgeben. Zardioc fand das System dahinter verlogen und ineffektiv.

Während sich sein Magen langsam zu füllen begann - das Essen war reichhaltig und schmeckte ausgezeichnet -, fühlte er sich etwas besser und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

****

Angefangen hatte alles vor 10 Tagen, als er mitten in seiner morgendlichen Ausbildung den Ruf Leandas empfangen hatte. Er war sensitiv wie sie und für gerichtete Gedankensignale und unterschwellige Stimmungen besonders ansprechbar. Einige Minuten lang war er sich unschlüssig darüber, wie er sich verhalten sollte. Der telepathische Ruf hatte wichtig und dringend geklungen, und Leanda war eine Frau, die damit vorsichtig umging. Andererseits war es unverzeihlich, den Unterricht einfach zu verlassen, dazu noch mitten in der Meditationsübungen. Doch wenn er den Ruf ernst nahm, blieb ihm im Grunde keine Wahl, denn die Übungen würden sich noch einige Stunden hinziehen. Also erhob er sich leise, bemüht die anderen in ihrer Konzentration nicht zu stören. Der Meister sah ihm mit ausdruckslosem Gesicht hinterher. Noch als er die Halle verlassen hatte, konnte er die bohrenden Blicke in seinem Rücken spüren. Mit seiner Disziplin hatte es nie zum Besten gestanden, aber diesmal hatte er sich wohl die letzten Sympathien verscherzt.

Draußen empfingen ihn klare Luft und schneidender Wind. Die Sonne stand zwar hoch am Himmel, aber er fröstelte in seiner leichten Schulkleidung. Mit raschen Schritten entfernte er sich von dem weitläufigen, nüchternen Gebäudekomplex, in dem die Schule der Magier-Gilde untergebracht war, und bog auf den schmalen Pfad ein, der in die Berge an der Westseite Farewells hinaufführte. Die niedrigen, aber großzügig gebauten Häuser aus blauem Ton, die ab und zu seinen Weg säumten, ließ er bald hinter sich. Der Pfad wurde steiler und verengte sich weiter, doch er war ihn schon so oft gegangen, dass er glaubte, jeden Stein und Absatz zu kennen.

Sein vorgelegtes Tempo ließ ihn keuchen, als er die erste Anhöhe erreicht hatte und auf das grüne Tal mit dem sprudelnden Bach und den zierlichen Wisperespen hinuntersah. Kein Zweifel, er war in einer wundervollen Umgebung aufgewachsen, wenn auch weit entfernt von jeglicher anderen größeren Ortschaft.

Nach kurzer Erholungspause wandte er sich wieder dem Aufstieg zu. Er hatte es nun nicht mehr allzu weit, und der Rest des Weges würde ihn nicht mehr so viel Anstrengung kosten. Die Vegetation war merklich spärlicher geworden und bestand hauptsächlich aus gebeugten Krüppelkiefern und Kriechmoosarten. Eine Schar Blauenten flatterte in niedrigem Flug über ihn hinweg und erfüllte die Luft mit ihrem melodischen Gesang.

Trotzdem wurde er nervöser, je näher er seinem Ziel kam, die Umgebung verschwand vor seinen besorgten Gedanken. Die Dringlichkeit von Leandas Ruf war außergewöhnlich, und sie hatte ihn noch nie aus einer Unterweisungsstunde geholt.

Eine halbe Stunde später tauchte ihre Hütte in seinem Blickfeld auf. Sie kauerte unter einem Felsvorsprung in der Nähe des kleinen Wasserfalls. Zardioc fragte sich zum wiederholten Mal, woher Leanda ihre Lebensmittel bezog. Allein von den kümmerlichen Gewächsen und dem geringen Fischbestand konnte sie sich wohl kaum ernähren, und der felsige Boden ließ eine Bewirtschaftung nicht zu. Doch dies war eines der vielen kleinen Geheimnisse, die sie für sich behielt.

 

Die Tür stand einen Spalt weit offen, ein Zeichen dafür, dass er schon erwartet wurde. Er musste sich unter der niedrigen Tür bücken, um nicht mit dem Kopf gegen den Rahmen zu stoßen. Helles Sonnenlicht fiel durch das große Fenster und erleuchtete den Hauptraum. Leanda saß auf ihrem üblichen Platz auf den bunten Decken. Ein leises Lächeln umspielte ihr schwarzes Gesicht. Wieder kam sie ihm so jung vor, obwohl sie mindestens 30 Jahre älter sein musste als er. Ihre langen Haare fielen bis auf den Boden, die gedrungene Gestalt ließ die Behändigkeit und Zähigkeit nicht vermuten, die in ihr steckten.

Unaufgefordert setzte sich Zardioc ihr gegenüber und akzeptierte den dampfenden Becher, den sie ihm hinhielt. Vorsichtig probierte er einen Schluck, musste husten und setzte den Becher wieder ab. Wie immer musste er sich erst an den beigefügten scharfen Kräuterschnaps gewöhnen. Aber gut schmeckte es allemal.

Vor langer Zeit, noch bevor er geboren war, war Leanda aus ihrer Gilde ausgestoßen worden und hatte sich hierher in die Berge zurückgezogen. Die Ereignisse, die zu dieser außergewöhnlich harten Maßnahme geführt hatten, lagen im Verborgenen und wurden nur hinter vorgehaltener Hand weitererzählt. Wahrscheinlich waren die ursprünglichen Tatsachen inzwischen auch so oft abgeändert worden, dass die Wahrheit nicht mehr herauszuhören war. Zardioc glaubte jedenfalls kaum ein Wort von dem, was ihm ab und zu zugeflüstert wurde.

Warum hast du mich so plötzlich aus dem Unterricht geholt?« eröffnete er das Gespräch ungeduldig und, wie er feststellte, auch etwas ärgerlich.

Hast du deine Karten dabei?« fragte Leanda mit ihrer tiefen Stimme zurück, ohne auf den versteckten Vorwurf einzugehen.

»Du weißt doch, dass ich mich nie von ihnen trenne.«

Leandas Gesicht drückte Konzentration und Besorgnis aus. Zardioc schluckte seine Verstimmung hinunter. Er wusste, was sie von ihm erwartete, seine Fragen würden auf diese Weise beantwortet werden.

Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er das Päckchen Karten aus der Innentasche seines dunkelblauen Schülerumhanges, den die Symbole der Magier-Gilde zierten. Eine jeden Abend wiederholte Kurzformel hielt die Karten sauber und zusammen. In seinen Fingern lösten sie sich voneinander, und er begann, sie zu mischen. Sofort stellte sich auch bei ihm Konzentration ein. Die Anzahl der aufgedeckten Karten sowie das Muster, das sie bildeten, entsprangen seiner Intuition. Der Ablauf des Kartenlegens geschah in einer einzigen fließenden Bewegung.

Vier Karten lagen zwischen ihm und Leanda auf dem Boden, angeordnet in einer geraden Linie. Schon der erste Blick genügte ihm, die Frage nach dem Grund seines Hierseins zu beantworten: Er hatte ausschließlich hohe Kampfkarten gezogen.

Erschrocken beugte er sich vor.

»Das Blatt ist ... Was hat das zu bedeuten?«

Es war keine Frage an Leanda. Er wusste, dass sie ihm nicht antworten würde, bevor er selbst eine Interpretation versucht hatte.

Zardioc riss sich zusammen. Emotionen waren wichtig im Prozess des Kartenlegens, denn darin sollten alle vorhandenen Schwingungen einfließen. Auch der erste Eindruck der aufgelegten Karten äußerte sich meist noch gefühlsbetont, für die genaue Analyse jedoch benötigte er seinen Kopf: nüchterne, präzise Gedankengänge. Beide Aspekte hatte er jahrelang gelernt zu beherrschen - mit mehr oder weniger Begeisterung -, nachdem sich das entsprechende Talent bei ihm unübersehbar gezeigt hatte.

»Ganz rechts liegt die Weltkarte in ihrer Kampfform. Sie bedeutet - mit Rücksicht auf die Karten neben ihr -, dass der Lauf unmittelbar bevorstehender Ereignisse unsere ganze Welt betrifft und ihr gewaltsame Auseinandersetzungen drohen. Zumindest droht der Erde eine Gefahr, der nur im Kampf zu begegnen ist. Anschließend links, ebenfalls in ihrem Kampfausdruck, sehen wir die Stammes- oder Gildenkarte, was besagt, dass auch wir alle in diesen Kampf mit einbezogen werden und ...« - er stockte kurz -, »... wie aus der dritten Karte ersichtlich, ich persönlich oder eine mir nahe stehende Person ebenfalls.«

Die Wirkung seiner eigenen Interpretation erschütterte ihn.

»Wie ist so etwas möglich, Leanda. Seit ich mich erinnern kann, hat es keinen Konflikt gegeben, der nicht auf friedliche Weise beigelegt wurde. Kampf gehört der Vergangenheit an. Niemand kann mehr einen Kampf gewinnen. Und es gibt keinerlei Anzeichen für solch eine Gefahr. Alles ist außerordentlich ruhig und ...«

»Ruhe kann auch Friedhofsruhe sein,« fiel ihm Leanda ins Wort. »Ruhe und Behäbigkeit sind leicht zu stören. Wenn sich alle in Ruhe lassen, ist das nicht unbedingt positiv. Und was weiß Farewell davon, was an anderen Orten vor sich geht, wenn es sich freiwillig von aller Kommunikation abschneidet, um seine Ruhe zu haben? ... Aber ich schweife ab, du hast die vierte Karte vergessen.«

Zardioc schüttelte heftig den Kopf, wie um die schweren Gedanken zu vertreiben.

»Das war Absicht. Ich kann nichts mit ihr anfangen.«

»Aber irgendetwas muss sie bedeuten.«

Die vierte Karte zeigte das Symbol der Weltenlinien. Sie war einmalig und existierte nur in dieser einen, unwandelbaren Form. Sie tauchte sehr selten auf und galt gewöhnlich als Bestätigung und Bekräftigung der übrigen Karten. Es kam häufig vor, dass nebensächliche oder unwichtige Karten gezogen wurden. Die Schwierigkeit bestand darin, dies auch zu erkennen. So hatte Zardioc die Karte zunächst ignoriert, dabei aber ein ungutes Gefühl behalten. Jetzt, wo ihn Leanda drängte, verstärkte sich dieses Gefühl, ohne dass er die Ursache kannte.

»Die Karte verdeutlicht wahrscheinlich noch das Ausmaß der Gefahr,« sagte er zögernd.

Leanda legte einen Finger auf die Karte und fuhr die Linien des Symbols entlang.

»Ich weiß selbst nicht, wieso diese Karte mir mehr zu bedeuten scheint. Ich habe den Eindruck, dass sie etwas verbirgt, als wolle sie uns etwas über die Natur, die Art der drohenden Auseinandersetzung erzählen, aber wir wissen es nicht zu deuten. Doch schließlich bist du der Kartenexperte, und wenn du ihr keine Bedeutung beimisst, hast du wohl recht damit.«

»Ich bin mir nicht absolut sicher und empfinde ähnlich wie du. Aber es ist unmöglich, dass die Karte anzeigt, womit wir es zu tun haben. In diesem Fall hätte ich zumindest eine Bestimmungskarte gezogen. Die Weltenlinien sind in jeder Deutung ein unbestimmtes Symbol.«

Ohne weiteren Kommentar stand Leanda auf und winkte Zardioc, ihr zu folgen. Der Kartenmagier konnte den Blick nur schwer von den Karten wenden, er spürte die Drohung fast körperlich, die von ihnen ausging. Schließlich sammelte er sie ein und folgte der Frau in ein vom Hauptraum mit einem blauen gemusterten Vorhang abgetrenntes Zimmer.

Das Kartenbild hatte sein Gemüt verfinstert, alle Leichtigkeit war von ihm abgefallen. Er ahnte, dass ihm weitere Enthüllungen bevorstanden. Ein Kartenbild allein besagte nicht allzu viel, es gab nur einen Hinweis, zeigte die Richtung an. Was jetzt kam, würde womöglich eine deutlichere Sprache sprechen. Hier war das zu finden, was Leanda veranlasst hatte, ihn zu benachrichtigen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie ihn hierher führen würde, und versuchte nun, sich gegen die Angst vor weiteren schlechten Neuigkeiten zu stemmen.

Der Raum war klein und fensterlos und vollgestopft mit Techno-Geräten. Er war der eigentliche Grund für Zardiocs engen Kontakt mit Leanda, der ihn von einem großen Teil der Bevölkerung Farewells isoliert hatte. In einem kleinen Ort sprachen sich ungewöhnliche Verhaltensweisen - noch dazu von einem Angehörigen der angesehenen Magier-Gilde - schnell herum. Besuche bei Leanda waren zwar nicht untersagt, aber nicht gern gesehen. Die Folgen machten sich bald bemerkbar: Man ging Zardioc aus dem Weg, die Gilde strafte ihn mit sichtbarer Verachtung und machte ihm das Leben schwer. Er hatte am eigenen Leib die negativen Seiten der strengen Sitten und ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft zu spüren bekommen, die ihm früher nur Schutz und Geborgenheit vermittelt hatten.

Leanda hatte die Öllampen angezündet, und auch diesmal ergriff Zardioc wieder eine eigenartige Faszination, als er die metallisch schimmernden Geräte betrachtete. Manche türmten sich unter einem Gewirr von Kabeln und Antennen bis zur niedrigen Decke. Leanda machte sich an ihnen zu schaffen, sie hatte kaum Platz, sich zu bewegen.

Zardioc war mit der Abneigung der Gilden gegen jede Art von Technik und Technologie aufgewachsen. Die Gründe dafür lagen weit in der Vergangenheit und waren nur in Mythenform überliefert. Diese Geschichten berichteten ausnahmslos von Unglücken und Katastrophen im Zusammenhang mit dem Gebrauch technischer Errungenschaften.

Natürlich war bekannt, dass es genug Lebensgemeinschaften gab, die sich auch hochentwickelter Technik bedienten, ohne dass es je zu solchen Verhängnissen gekommen war. Farewell jedoch vermied, wo immer es ging, den Kontakt mit solchen Völkern.

Zardiocs erste Begegnung mit Leanda war aufgrund eines Auftrages der Gilde erfolgt, ihr eine Nachricht zu überbringen. Ein Auftrag, den er nur zu gern abgelehnt hätte, denn wer wollte schon etwas mit der »Alten am Berge« zu tun haben, über die teilweise beängstigende Gerüchte in Umlauf waren. Aber er war bestimmt worden und musste die Regeln ohne Widerspruch einhalten. Damals hatte er Leanda in diesem Raum überrascht. Nachdem er dem ersten Impuls von panikerfüllter Flucht widerstanden hatte, hatte sie ihm in Ruhe erklärt, womit sie sich gerade beschäftigte. Er erkannte bald, dass Leandas Tätigkeit nichts Gefährliches oder Verabscheuungswürdiges darstellte. Trotzdem wirkten die Verbote der Gilde wie eine Barriere, doch seine Neugier siegte über die anerzogene Abneigung, und er kam trotz der ihm bewussten Folgen öfter herauf, um sich weitere Erklärungen anzuhören. Die meiste Zeit verwandte Leanda darauf, mit Hilfe ihrer Techno-Geräte Informationen und Meldungen von anderen Gemeinschaften zu empfangen und in Kommunikation mit diesen zu treten.

Im Verlauf seiner Zusammenkünfte mit Leanda hatte sich Zardiocs Weltbild ständig erweitert, ja geradezu umgekrempelt. Ausschlaggebend dafür waren die Berührungen mit den Lebensweisen anderer Gemeinschaften über Leandas Techno-Anlage, die sich mitunter unvorstellbar von der in Farewell unterschieden.

Die Sippen in Farewell lebten relativ abgeschieden in ihrem Tal. Mit einigen Nachbar Stämmen wurden unbedeutende Handelsbeziehungen unterhalten, doch Farewell war eine Selbstversorgergemeinschaft und von daher unabhängig. Natürlich war bekannt, dass Menschen woanders auf ganz andere Weise zusammenlebten, und manchmal war sogar von Städten die Rede, in denen so viele Menschen wohnen sollten, wie sich niemand auch nur annähernd vorstellen konnte. Und niemand kümmerte sich auch darum. Das waren Probleme, die die Einwohner Farewells nichts angingen, von denen sie sich fernhielten, denn die Außenwelt war chaotisch, unstrukturiert, manchmal gar bedrohlich. Das Sippenleben verlief einfach und unkompliziert, in geregelten Bahnen, die sich seit Jahrhunderten kaum geändert hatten. Es kam immer wieder vor, dass einige von den Gilden Ausgebildete ihre Sippen verließen, um ihre Fähigkeiten woanders nutzbringend einzusetzen, aber das unterbrach den Ablauf des Alltags in Farewell nicht, und die Fortgegangenen kehrten meist nicht zurück. Und wenn doch, wurden sie gemieden.

Zardioc erinnerte sich noch an den Tag, an dem der Nicht-Mensch in das Tal gekommen war. Es hatte große Aufregung geherrscht und die geruhsame Ordnung war empfindlich gestört worden. Als kleiner Junge hatte ihn das Aussehen des Fremden verschreckt: lange Fühler an der Vorderseite einer seltsam deformierten Gestalt und ein gepanzerter Rumpf auf vier staksigen Beinen, auf denen sich der Fremde anmutig fortbewegte. Seine Mutter hatte Mühe, ihn zu beruhigen. Trotz aller Unruhe, die sein Erscheinen mit sich brachte, war der Nicht-Mensch freundlich aufgenommen und zuvorkommend behandelt worden. Doch die Gildenmeister waren sichtlich erleichtert, als er Farewell nach einigen Tagen wieder verließ. Die abendlichen Gespräche in der Sippe kreisten noch lange danach um dieses Ereignis.

Mit den Techno-Geräten in der Behausung Leandas waren für Zardioc Kontakte mit anderen Gemeinschaften, mit Menschen in Städten oder auch mit Nicht-Menschen schon lange nichts Außergewöhnliches mehr. Wenn er wollte, konnte er inzwischen die Verbindungen selbst herstellen, Leanda hatte ihm die Bedienung der meisten Apparate erklärt. Ein Hauch von Faszination war trotzdem geblieben.

 

Inzwischen war die gesamte Anlage in dem kleinen Raum zum Leben erwacht: Displays und Anzeigen leuchteten in verschiedenen Farben, huschten über Skalen und Sichtschirme, ein summender Ton erfüllte die Luft.

Leanda schien mit ihren Bemühungen nicht zufrieden zu sein. Sie schimpfte halblaut vor sich hin, ihr massiger Körper schwankte auf und ab und ihre Finger nahmen weitere Einstellungen und Korrekturen vor.

Zardioc, der wegen seiner Größe den Kopf in dem Raum einziehen musste, wurde langsam ungeduldig.

»Was ist los? Was willst du mir so dringend zeigen?«

Doch die Frau beachtete seine Proteste nicht und fuhr in ihrer Arbeit fort. Es hatte keinen Sinn, sie in solchen Momenten weiter zu drängen, deshalb versuchte Zardioc selbst, genauer zu beobachten, um herauszufinden, was Leanda störte. Alles schien zunächst in bester Ordnung, die Stationen waren sende- und empfangsbereit. Dann entdeckte er, dass mehrere kleine Bildschirme der Funkanlage blinkten und flackerten, als wollten sie gleich wieder verlöschen.

»Ich bekomme zu wenig Energie für die Schirme,« schnaubte Leanda ärgerlich. »Aber es ist doch schon öfter vorgekommen, dass die Sichtverbindungen nicht funktionierten,« wandte Zardioc ein.

»Natürlich. Aber dabei handelte es sich immer um Störungen aufgrund großer Entfernungen, die Reichweite ist eben beschränkt, die Anlage ist ziemlich veraltet. Diesmal aber bauen die meisten Schirme gar kein Feld auf.«

Konnte es denn wirklich an der Energiezufuhr liegen? fragte sich der Kartenmagier. Erst vor kurzem hatte Leanda ihm erklärt, dass die Batterien noch für Jahrzehnte ausreichen würden.

»Komm her, junger Freund,« rief sie ihn zu sich. Anscheinend hatte sie die Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen eingesehen.

Sie winkte ihn zu sich heran.

»Jetzt bist du an der Reihe. Rufe einfach die dir bekannten Stationen an.« Zardioc sah sie unsicher an. Warum verlangte sie das von ihm?

»Fang mit den Entlegensten an.«

Vielleicht wollte sie ihn auf etwas testen, überlegte er, setzte sich vor das Bedienungspult und zog das Mikrofon zu sich heran. Sie würde ihm den Sinn der Sache schon erklären. Des Rätsels Lösung stand bevor. Mit geübtem Griff stellte er die erste Verbindung her, aber der Kontakt kam nicht zustande. Verblüfft versuchte er die nächste Station, doch auch hier erhielt er keine Antwort auf sein Rufsignal. Dies wiederholte sich noch einige Male, bevor er es aufgab.

»Es meldet sich niemand, ich bekomme keine Verbindung. Es ist, als würden all diese Orte nicht existieren.«

»Genau das ist der Grund, weshalb ich dich an das Funkgerät gesetzt habe. Du solltest die gleiche Erfahrung machen wie ich. Du hast mich das letzte Mal vor zwei Vollmonden besucht. Damals war, wie du dich erinnern wirst, noch alles in Ordnung. Seitdem ist eine Verbindung nach der anderen abgebrochen, ohne Kommentar, ohne Erklärung, von einem Tag auf den anderen. Zu Anfang betraf es nur die im äußersten Süden liegenden Stationen, zu denen ich nicht mehr durchkam, ich schob es zunächst auf wetterbedingte Störungen. Dann reagierten die großen Städte im Westen nicht mehr, du hast es selbst mit Woltan und dem Schweren Lager versucht. Und du weißt, wie die Städte ausgerüstet sind, sie empfangen selbst schwache Signale von mir. Trotzdem ist kein einheitliches Muster zu erkennen. Zu bestimmten Orten im Westen des Kontinents besteht die Verbindung nach wie vor, wohingegen seit einigen Tagen auch zu mehreren Gemeinschaften in unserer Nähe kein Kontakt mehr möglich ist .... Unternimm einen Versuch mit Goldentor.«

»Aber du hast mir erzählt, sie wollen dort nicht mehr mit dir sprechen.«

»Das ist mir egal. Goldentor verfügt am ehesten über Informationen, die uns vielleicht weiterhelfen könnten. In dieser Stadt kreuzen sich die Wege der Gerüchte aus allen Himmelsrichtungen.«

Zardioc probierte es erneut, doch auch Goldentor gab keine Antwort. Es war nichts als das statische Knistern und Prasseln zu hören.

Leanda begann zu zittern und musste sich auf einen Stuhl setzen. Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen, und als sie wieder zu ihm aufsah, wirkte es starr und leblos wie eine Maske.

»Goldentor war meine letzte Hoffnung, mehr zu erfahren. Jetzt ist auch hier keine Verbindung mehr möglich. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat und was ich weiter tun soll.«

Leandas Zusammenbruch erschreckte Zardioc. Er hatte sie noch nie so hilflos erlebt.

»Wenn ich dich richtig verstehe, siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Abbrechen der Funkverbindungen und der Deutung meines Kartenbildes.«

Die Frau nickte stumm. Auch Zardioc war innerlich aufgewühlt, die anerzogene Gilden-Disziplin hielt jedoch seine Reaktion im Zaum. Welches Phänomen vermochte wahllos Funkverbindungen zu unterbrechen?

»Der Vorgang hat inzwischen den größten Teil des gesamten Kontinents ergriffen« , fuhr Leanda fort. »Ich habe keine Ahnung, um was es sich handeln könnte. Und dann gibt es Gerüchte, Gerüchte über Kämpfe ... unvorstellbare Gerüchte, die verwischt wurden ...«

Ihre Stimme verlor sich in einem Murmeln.

»Aber andere müssen es doch auch gemerkt haben,« fiel Zardioc ein. »In den Gemeinschaften, die bisher nicht betroffen sind, muss es eine Reaktion geben. Was sagen denn Theobald oder Sheita dazu?«

»Du kannst es dir selbst anhören.«

Leandas Stimme klang müde und enttäuscht. Sie schien wirklich große Hoffnung in Goldentor gesetzt zu haben. Vielleicht machte sie sich Vorwürfe, nicht eher versucht zu haben, Kontakt herzustellen. Aber nachdem das Techno-Department von Goldentor ihr ihre Unerwünschtheit deutlich gemacht hatte, war es nur allzu verständlich, dass sie sich nicht früher über das Verbot hinweggesetzt hatte. Ihre Verbindung zu oppositionellen Kreisen innerhalb der Stadt war aufgedeckt worden, und die übliche Frequenz hatte von dem Zeitpunkt an nur noch Störgeräusche von sich gegeben. Selbst diese waren diesmal ausgeblieben.

Zardioc schaltete die Verbindung zu Theobald, dem Obmann des Kalu-Stammes, der noch weiter nördlich sesshaft war. Das Antwortsignal erfolgte auf der Stelle, nur der Sichtschirm blieb grau. Zardioc atmete auf.

»Hallo, Leanda. Was ist mit dem Bild los?« erklang die gewohnte helle Stimme.

»Hier ist Zardioc. Wir haben ebenfalls einen Bildausfall.«

»Ha, wie sollen wir das verkraften, auf Leandas hübsches Gesicht verzichten zu müssen?«

»Dummer Schwätzer,« knurrte Leanda aus ihrer Ecke.

»Ich brauche nur eine Auskunft, Theobald. Unsere Verbindung zu Goldentor ist abgebrochen. Habt ihr noch Kontakt zu der Stadt?«

»Das ist ja nicht zu glauben! Jetzt fang du nicht auch noch mit dieser Geschichte an. Leanda hat mir schon die Ohren vollgejammert mit ihren Funkproblemen. Wir haben jedenfalls keine Schwierigkeiten, weder mit Goldentor, noch mit dem Schweren Lager oder Woltan. Ich sage euch, es liegt an eurer Anlage. Das alte Ding ist defekt. Lasst jemand von den Bastlern kommen, der kann sie euch wieder zusammenflicken.«

Zardioc war überrascht von dem rüden Ton, den Theobald anschlug. Er kannte den Obmann als einen eher unterkühlt wirkenden Mann.