Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt

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»Das heißt, du nimmst die Sache nach wie vor nicht ernst?« Leanda hatte dem Kartenmagier das Mikrofon aus der Hand genommen.

»Genau das heißt es. Lass die Anlage reparieren, dann sprechen wir uns wieder.«

Damit beendete der Obmann das Gespräch.

Das ist reine Verstocktheit,« regte sich Zardioc auf. »Wie kann er einfach über unsere Argumente hinweggehen?«

»Seitdem ich ihm davon erzählt habe, verhält er sich so abweisend, und er ist kein Einzelfall. Es ist ihm nicht zu verübeln, dass er skeptisch ist. Er glaubt, ich weigere mich zuzugeben, dass meine Funkanlage defekt ist, obwohl ich ihm versichert habe, dass alles doppelt durchgecheckt wurde und ich keine Störungsquelle gefunden habe. Seine Starrköpfigkeit ist seltsam. Er ist einfach nicht bereit, eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«

»Hast du auch mit anderen darüber gesprochen?«

»Natürlich. Aber ich stieß überall auf ähnliche Reaktionen.«

»Aber was beweist das?« überlegte Zardioc laut. »Ich werde einen letzten Versuch mit Sheita machen.«

»Sie wird dir nichts anderes sagen.«

»Trotzdem.«

Der Kartenmagier blieb hartnäckig. Sheita stellte für ihn eine Autorität dar. Die derzeitige Vorsitzende des Kommunikationsrates der matrilinen Dorfgemeinschaften übte eine eigenartige Faszination auf ihn aus mit ihrem selbstsicheren Auftreten.

Der Kontakt kam sofort zustande, doch wiederum ohne Bildverbindung. Es dauerte eine Weile, bis Sheita aufgetrieben werden konnte. Zardioc bedauerte schon sein übereiltes Vorhaben und machte sich auf eine Abfuhr gefasst. Er wurde nicht enttäuscht. Nachdem er ihr gegenüber sein Anliegen wiederholt hatte, reagierte sie schroff und unzugänglich.

»Du gehst mir auf die Nerven, Zardioc. Ich habe schon dreimal mit Leanda über diese Sache gesprochen, und ich habe ihr immer wieder erklärt, dass wir keine Probleme haben. Ich habe gerade jetzt Wichtigeres zu tun und möchte nichts mehr davon hören.«

»Aber ... «

»Unterbrich mich nicht, ich war noch nicht fertig! Ich schätze Leanda und habe die Angelegenheit gestern im Rat eingebracht. Es hat sich eine Interessentin gefunden, die sich der Sache annehmen will. Ich gebe euch jetzt Firlin, dann könnt ihr mit ihr alles weitere besprechen.«

»Das ist eine neue Entwicklung.«

Leandas Neugier war geweckt. Ihre Resignation war wie weggeblasen und ihre gewohnte Zielstrebigkeit brach wieder durch. Zardioc übergab ihr das Mikrofon und beglückwünschte sich im Nachhinein zu seinem Einfall.

Kurz darauf meldete sich eine dunkle, weiche Frauenstimme.

»Hier spricht Firlin. Ich bedaure, dass die Bildleitung gestört ist, aber passt das nicht zu den Auffälligkeiten, die du festgestellt hast? Sheita hat davon berichtet, und ich denke, es muss etwas daran sein, wenn du dich deswegen so bemühst. Ich halte dich nicht für jemanden, die wegen Nebensächlichkeiten den Äther unsicher macht. Also habe ich darüber nachgedacht und kann vielleicht einige Puzzlestücke dazu beitragen.«

»Von welchem Puzzle sprichst du?«

Leanda war die Spannung in der Stimme anzuhören.

»Ich möchte nicht gern über Funk darüber Auskunft geben. Es ist merkwürdig genug, dass bei euch immer mehr Funkverbindungen ausfallen, und ich traue dieser Art Kommunikation nicht mehr.«

»Gut, dann schlage ich vor, du kommst hierher. So kannst du dich gleich an Ort und Stelle überzeugen.«

»Nein, das dauert zu lange. Es ist besser, wenn wir uns auf halber Strecke treffen können.«

Leanda zögerte einen Moment.

»Das ist nicht so einfach. Ich kann hier nicht weg ... doch warte ..., ich werde Zardioc schicken.«

»Was?« Der Kartenmagier stieß sich vor Überraschung den Kopf an der niedrigen Decke. »Da habe ich wohl auch noch ein Wort mitzureden.«

»Dann rede!« forderte ihn Leanda auf.

»Also ich ... das müsste ich mir erst überlegen.«

»Es ist nicht viel Zeit zum Überlegen. Traust du deinen eigenen Karten nicht?«

Ein Dutzend Gedanken schossen Zardioc gleichzeitig durch den Kopf. Konnte er so einfach fortgegen? Was war mit seiner Ausbildung, dem Zorn der Gilde ... und nicht zuletzt mit Arnia? Außerdem hatte er sich noch nie weiter als einige Kilometer von Farewell entfernt. Er würde auf fremde Menschen treffen, Menschen, die nicht in Familien, Sippen und Gilden lebten, deren Verhaltensweisen er nicht verstand, die ihm Angst einflößten ...

Er merkte, dass er sich verrannte, dass er begann Ausflüchte zu suchen, die eine positive Entscheidung verhinderten. Und war es nicht auch eine Chance? Eine Möglichkeit, dem eintönigen Dahinleben in Farewell zu entfliehen? Ein Abenteuer, das ihn aus dem Alltag riss, ihn etwas erleben ließ? Eine verborgene Saite klang in ihm an, eine neugierige Spannung, die er nie zuvor gespürt hatte ... Und natürlich würde es gefährlich werden. Die Karten, die abgerissenen Funkverbindungen und die Andeutungen Firlins ließen keinen Zweifel daran. Aber die Gefahr würde ihn auch in Farewell einholen, das stand ebenfalls fest.

»Gut, ich werde gehen.«

Seine Worte klangen nicht so entschlossen, wie er es beabsichtigt hatte. Er bemerkte das Lächeln auf Leandas Lippen und das Aufblitzen ihrer Augen. Plötzlich hatte er das Gefühl, als wäre eine Last von ihm abgefallen, als wäre er von einem Druck befreit. Da erst war er sich der Richtigkeit seiner Entscheidung sicher. Innerlich hatte er sich wohl schon längst von dem einschnürenden Leben in Farewell entfernt, es hatte nur der Auslöser gefehlt. Wahrscheinlich hätte er es sonst niemals geschafft, sich von den alten Bindungen zu befreien.

Firlin zeigte sich ebenfalls erfreut darüber, dass die Idee in die Tat umgesetzt werden konnte, und kündigte an, falls sie nicht selbst kommen könnte, einen Stellvertreter zu schicken. Es wurden Zeit und Treffpunkt verabredet, dann erfolgten die nötigen Vorbereitungen.

Es war nicht viel, was Zardioc zusammenpackte, aber er tat es in aller Heimlichkeit. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich auf lange Auseinandersetzungen in der Sippe einzulassen, er konnte sich das Geschrei um die Hirngespinste einer Ausgestoßenen lebhaft vorstellen. Sie würden ihn beschwören, nicht alles hinzuwerfen, was er sich in Jahren erarbeitet hatte, eine Karriere in der Magier-Gilde würde ihn zu einem angesehenen Mann machen.

Er schlich sich aber auch nicht heimlich davon, verabschiedete sich mit wenigen Worten von seiner fassungslosen Familie und stellte sich dann dem harten Wortgefecht mit den Gilde-Meistern. Sie redeten endlos von Prinzipien und Gehorsam, Gesetzen und Disziplin, bis er es aufgab, seine Argumente zu verteidigen, da ihm doch niemand zuhörte. Es wurde ihm deutlich gemacht, dass er noch während seiner Abwesenheit aus der Gilde verstoßen würde, doch er spürte kein Bedauern. Die Bitten und Drohungen prallten von ihm ab und machten ihm den Abschied leichter, als wenn ihm jemand mit Verständnis und Vernunft gegenübergetreten wäre.

Wie unsinnig war es, sich an Normen und Regeln zu halten, die keine praktische Bedeutung mehr besaßen. Wenn Farewell nicht in seinen Traditionen und Ritualen ersticken wollte, mussten die Menschen hier ihre Isolation irgendwann durchbrechen. Sie klammerten sich an Sicherheiten, die sie nur behinderten, und diese Starrheit machte sie handlungsunfähig und unflexibel. Doch niemand maß solchen Gedankengängen Bedeutung bei, er stieß auf ein Bollwerk von Misstrauen und Abwehr.

Nur Arnia versuchte, seinen Entschluss zu begreifen, und allein das ließ ihn noch einmal zögern. Sie war die einzige Person außer Leanda, der er Vertrauen entgegenbrachte, die ihn trotz aller Schwierigkeiten, die das auch für sie erbrachte, immer begleitet hatte. Angesichts ihres Verhaltens fiel es ihm schwer, sich ihre ewigen kleinen Streits und Missverständnisse, die Zweifel an ihrer gegenseitigen Liebe zu vergegenwärtigen. Mit Gewalt hielt er seine Gefühle zurück, zwang seinen Kopf, die Oberhand zu behalten. Er wusste, dass er richtig handelte, aber die Anstrengung ließ ihn fast verzweifeln. Er redete sich ein, er würde zurückkehren, obwohl er sich nicht einmal dessen sicher war. Natürlich waren sie oft unterschiedlicher Meinung, ihre Ansichten über das Leben in Farewell und ihre Zukunft gingen weit auseinander, doch auf der anderen Seite hatte das ihre Gefühle füreinander nicht entscheidend beeinträchtigt.

Auch der Abschied von Leanda machte ihm zu schaffen, und er merkte der Frau an, dass er ihr ähnlich ging, obwohl sie ihn noch einmal zu seinem Aufbruch ermutigte.

Niemand beachtete ihn, als er zum letzten Mal durch Farewell ritt, und als er das Tal hinter sich gelassen hatte, schössen ihm die Tränen in die Augen und ein heftiger Schmerz zuckte durch seine Eingeweide. Er trieb sein Pferd an und dachte an das, was ihm bevorstand, aber Arnias Gesicht drang immer wieder an die Oberfläche, und so überließ er sich schließlich seinem Schmerz.

****

Hier am Frühstückstisch des Gasthauses ließ ihn die Erinnerung heftig schlucken, der Schmerz war noch nicht überwunden. Er hatte zwar an Selbstvertrauen gewonnen, nachdem er festgestellt hatte, dass er auch ohne jede Erfahrung in anderen Gemeinschaften immerhin so gut zurecht kam, dass sich seine Angst vor dem Fremden stark reduzierte. Aber die Einsamkeit hatte sich hinzugefügt, und er konnte sich an keinen Ort flüchten, der ihm Geborgenheit versprach. Er hatte gelernt, dass es gut tat, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, ein weiterer Verstoß gegen das Disziplin-Gebot der Gilde, das er ohne Bedenken über den Haufen warf.

Nachdem Leandas telepathischer Kontakt nach einem Tag abgebrochen war, weil die Entfernung zu groß wurde, waren ihm öfter Zweifel an dem Sinn seines Auftrages gekommen. Von einer Gefahr jedenfalls hatte er nichts bemerkt. Allerdings konnte er auch dem Phänomen des Abbrechens von Funkverbindungen nicht weiter auf die Spur kommen, da keiner der Orte, die er durchquert hatte, mit diesem Kommunikationsmittel ausgestattet war.

 

Umso gespannter wartete er auf den Bericht des Gesandten aus den matrilinen Dorfgemeinschaften. Heute war der letzte der beiden verabredeten Tage, und er hoffte, nicht allzu lange hier wartend herumsitzen zu müssen. Er war sich inzwischen nicht mehr sicher, was er sich mehr wünschte: so schnell wie möglich nach Farewell zurückzukehren oder seinen Weg fortzusetzen. Beide Alternativen beunruhigten ihn, er hatte sich noch nie so unwohl in seiner Haut gefühlt. Dank seiner Sondierungsfähigkeit konnte er den Gesandten sofort ausfindig machen, sobald dieser das Gasthaus betrat. Und ganz allein von dessen Bericht hing das weitere Vorgehen ab. Er genehmigte sich noch eine Scheibe des körnigen Schwarzbrotes, das in ähnlicher Art auch in Farewell gebacken wurde. Die Zutaten allerdings waren ihm weitgehend unbekannt, er identifizierte lediglich zwei Sorten Marmelade. Doch alles war wohlschmeckend und bekömmlich, was auf seiner Reise nicht immer der Fall gewesen war.

Der große Raum hatte sich inzwischen zur Hälfte gefüllt, hauptsächlich mit Händlern und Gewerbetreibenden aus der nächsten Umgebung, die das Gasthaus anscheinend als Treffpunkt ansahen, an dem die neuesten Gerüchte und Meldungen ausgetauscht werden konnten. So war Zardioc gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die Ankömmlinge zu richten , aber auch das wurde zur Routine und allmählich wurde er unruhig.

Seine Gedanken schweiften ab, und er fragte sich, was er tun sollte, wenn kein Abgesandter der Dorfgemeinschaften erscheinen würde. Sollte er weiterreiten bis in eine der Städte, zu denen die Funkverbindung abgerissen war? Würde er sich dort überhaupt nicht zurechtfinden? Irgendwo mussten sich schließlich Anhaltspunkte für die ungewisse Gefahr finden lassen, aber konnte er als einzelner etwas aufspüren, von dem er nicht wusste, um was es sich handelte? Er scheute auch davor zurück, sich hier an einen anderen Tisch unter Fremde zu begeben und auf diese Weise vielleicht etwas herauszubekommen. Er hielt sich nicht gern in Menschengruppen auf, auch in Farewell war er solchen Ansammlungen aus dem Weg gegangen. Feste und andere Zusammenkünfte hatten ihn eher abgeschreckt. Gerade in seinen Kontaktschwierigkeiten mit Unbekannten merkte er, wie schwer es ihm fiel, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen und wie wichtig für ihn der Schutz einer vertrauten Umgebung gewesen war. Die Stunden verrannen, Gäste kamen und gingen und seine Stimmung gestaltete sich immer trübsinniger. Er bestellte ein Bier nach dem anderen, aber das vertiefte nur seine Melancholie. Am Nachmittag war er kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, das Warten zermürbte ihn.

Als die schwere Tür hinter einem weiteren Neuankömmling ins Schloss fiel, hob er nur noch automatisch den Kopf, doch diesmal stieß seine Sondierung auf Übereinstimmung.

Augenblicklich war er wie elektrisiert und schüttelte die Benommenheit von sich ab. Die Frau, die in der Tür stand, schickte einen musternden Blick durch den Raum. Zardioc schalt sich einen Narren, dass er angenommen hatte, er würde einem Mann begegnen. Die Möglichkeit, eine Frau zu treffen, hatte er gar nicht in Betracht gezogen, obwohl seine Gesprächspartnerinnen aus den matrilinen Dorfgemeinschaften immer Frauen gewesen waren. Das patriarchale System Farewells saß tiefer, als er es für möglich gehalten hatte. Handfeste Schwierigkeiten waren abzusehen.

Die Frau war hochgewachsen und schlank, er schätzte ihr Alter auf ungefähr 30 Jahre. Ihr feines Gesicht mit den hervorstechenden grünen Augen zeigte einen Anflug von Abgespanntheit und Müdigkeit, die kurzen silbergrauen Haare mit den schwarzen Strähnen standen wirr von ihrem Kopf ab. Sie trug rötliche Lederkleidung, die ihre Figur betonte, und auf der das Doppelaxt-Symbol, das Zeichen aller matriarchalen und matrilinen Gemeinschaften deutlich erkennbar war. An ihrem Gürtel hing eine langläufige Techno-Waffe.

Zielstrebig ging sie auf Zardiocs Tisch zu, schließlich war er nach einer Beschreibung nicht zu übersehen. Der Kartenmagier schluckte und seine Hände umklammerten krampfhaft das Bierglas.

»Du bist Zardioc, nicht wahr?« begrüßte sie ihn und setzte sich ihm gegenüber.

Er nickte.

»Ich heiße Sikrit. Firlin schickt mich. Du musst mein spätes Ankommen entschuldigen, aber ich wurde aufgehalten. Ich bin geritten, so schnell es ging.«

»Natürlich,« murmelte er und musste seine Augen abwenden. Ihr Anblick verwirrte ihn ungeheuer.

Sikrit winkte dem Wirt und bestellte etwas zu essen für sich und ein Zimmer für die Nacht.

»Ich bin richtig ausgehungert und habe kaum geschlafen, weil ich fürchtete den verabredeten Zeitpunkt zu verpassen.«

Kurz darauf brachte der Wirt das Gewünschte sowie einen Zimmerschlüssel. Sikrit aß mit großem Appetit, und Zardiocs Aufgeregtheit legte sich langsam. Je ruhiger er wurde, desto mehr spürte er die Ausstrahlung Sikrits: viel Stärke und Selbstbewusstheit, aber auch Wut und Traurigkeit. Als er genauer hinsah, erkannte er Flecke auf ihrer Kleidung und Verletzungen in ihrem Gesicht.

»Was ist dir zugestoßen?« fragte er unbehaglich.

»Ein Hinterhalt, gleich als ich die Grenze zu einem der Magischen Gebiete überschritten hatte. Ich war zwar vorsichtig, habe aber nicht damit gerechnet, weil ich nichts gegen die Menschen dort im Schilde führte. Ich weiß nicht, worauf sie es abgesehen hatten. Es war gespenstisch.«

Die Erinnerung ließ sie zusammenzucken.

»Ich kämpfte gegen Unsichtbare ... gegen Schatten und Geräusche. Sie haben mich ziemlich zugerichtet, doch zum Schluss hatte vor allem Khanur unter den Attacken zu leiden. Ich konnte die Angreifer zurückhalten, bis ich mein Flügelpferd erreicht hatte, dann stürzten sie sich auch auf das Tier. Wir haben die Grenze gerade noch erreicht, fast wäre er verblutet.«

Sikrit senkte den Kopf, ihre Stimme zitterte vor Erregung und Erschöpfung. Zardioc ließ die Information auf sich einwirken. Er hatte zwar von den Magischen Ländern im Osten gehört, aber nicht von Magischen Gebieten in diesem Teil der Erde. Seine Unwissenheit war ihm unangenehm, er hatte keinerlei Vorstellung davon, was in diesen Magischen Zonen vor sich ging. Dafür besaß er ein umso genaueres Bild von einem Flügelpferd - wenn auch nur in seiner Phantasie. Traumgeschöpfe, die es unmöglich in der Realität geben konnte, sie waren in Farewell Bestandteile von Kindermärchen. Und diese Frau ritt tatsächlich eine dieser Sagengestalten! Vielleicht gehörten sie in den Dorfgemeinschaften zum täglichen Leben oder diese Tatsache unterstrich nur noch die Bedeutung von Sikrits Auftrag.

»Kann es sein, dass der Überfall auf dich etwas mit den rätselhaften Vorkommnissen zu tun hat, die uns hierher geführt haben?«

»Ich habe auch schon daran gedacht, aber bedeutet das nicht, dass jemand mich von diesem Treffen abhalten wollte? Dazu müsste es einen Spion bei uns geben, und außerdem unterstellen wir damit, dass diese mysteriöse Gefahr wirklich existiert. Doch davon bin ich immer noch nicht überzeugt, obwohl es noch mehr Anzeichen gibt als Leandas Funkunterbrechungen. Der Überfall kann aus völlig anderen Gründen erfolgt sein. Wer weiß schon etwas über die Motive der Bewohner Magischer Bereiche?«

»Um welche anderen Anzeichen handelt es sich, von denen du sprichst?« Zardioc war begierig, weitere Fakten und Vermutungen zu hören, doch Sikrit legte den Finger auf die Lippen.

»Lass uns morgen darüber reden. Ich fühle mich nicht mehr in der Lage, ein konzentriertes Gespräch zu führen, außerdem haben hier zu viele Leute zu lange Ohren. Ich werde auf mein Zimmer gehen und mich sofort schlafen legen. Hast du dich hier auch einquartiert?«

Zardioc bestätigte das, und Sikrit schlug vor, am nächsten Morgen auf sein Zimmer zu kommen und dort alles weitere zu besprechen. Der Kartenmagier war enttäuscht, dass er seine Ungeduld zügeln musste, aber er verstand, dass Sikrit vor allem Schlaf benötigte. Seine Augen folgten ihr, als sie die Treppe hinaufstieg, aber da war er nicht der Einzige.

3. Kapitel: Die Frauen (I)

Hier weiter im Norden des Kontinents Uskamera herrschte ein gemäßigteres Klima vor. Die Sonne stach nicht so scharf vom blauen Himmel herab, wie es in den zentralen Stammesgebieten der Fall war, und manchmal wurde sie sogar von träge vorüberziehenden weißen Wolken verdeckt. Auch der heiße, trockene Wüstenwind, der in den südlichen Regionen seinen Ursprung hatte, war seit einigen Tagen nicht mehr zu spüren. Trotzdem war das Land karg, nur kleine Rinnsale, die im Herbst und Winter zu Bächen anschwellen mochten, kreuzten ihren Weg, und sie mussten aufpassen, sich die Wasservorräte gut einzuteilen.

Yara war froh, dass die Hitze nachgelassen hatte, besonders Fiora hatte sehr darunter zu leiden gehabt, nachdem sie die bewaldeten Gebiete hinter sich gelassen hatten. Die bekannten Wege und Oasen, die den Nomadenstämmen als Orientierung dienten, waren ebenfalls längst hinter ihnen zurückgeblieben. Sie waren auch schon lange nicht mehr auf andere umherziehende Stämme gestoßen.

Yara fragte sich, warum diese Gegend so wenig besiedelt war, mit etwas Mühe würde das Land gut bearbeitet werden können, das Wetter war jedenfalls idealer dafür als in den Zentralregionen. Sie als Chronistin hätte eigentlich am ehesten eine Antwort auf diese Frage wissen müssen, aber derartige Zusammenhänge blieben auch ihr bisher verborgen. Vielleicht konnte sie ihr Wissen erweitern, wenn sie erst mal ihr Ziel erreicht hatten - wenn sie es denn jemals erreichten und es nicht nur ein Hirngespinst ihrer Wünsche darstellte, wie sie manchmal befürchtete.

»Ich will etwas zu trinken!« Die helle Kinderstimme riss sie aus ihren Gedanken .

»Wir halten gleich an und machen Rast, Fiora,« erwiderte sie.

Sie beugte sich nach vorn und strich ihrer Tochter über das blonde Haar.

Das Kind, das vor ihr auf dem Sattel saß, sah sie mit zweifelndem Blick an.

»Das hast du vorhin auch schon gesagt.«

Der Vorwurf war nicht unberechtigt, musste Yara zugeben. Über ihren Gedanken hatte sie Fioras Wunsch vergessen.

»Ich suche nur noch einen Schattenplatz, dann ruhen wir uns aus.«

Sie verlangsamte die Gangart des Pferdes, das sie beide trug, und schaute sich um.

Fiora war der Grund dafür, dass sie nicht so schnell vorankamen, wie sie es sich gewünscht hätten. Aber schließlich hatte sie ihr Kind nicht zurücklassen können. Bei wem auch? Bei ihrer Mutter oder gar bei Jorge? Beides war undenkbar, und auch sonst hatte sich niemand angeboten, zu der sie Vertrauen hatte, diese Zeiten waren vorbei ...

Laura, von der sie eher Ablehnung erwartet hatte, war allerdings sofort einverstanden gewesen, Fiora mitzunehmen. Ihr seit Tagen nur mürrisch verzogenes Gesicht hatte sich bei diesem Gedanken sogar aufgehellt.

Ihrer beider Position im Stamm war inzwischen nicht mehr so verwurzelt, dass sie das Kind gern zurückgelassen hätten. Sobald die beiden Frauen ihr Vorhaben bekannt gegeben hatten, waren ungläubiges Erstaunen, dummes Gere de und keifende Vorwürfe die Folge gewesen. Einige angesehene ältere Frau en waren sogar empört und zornig darüber gewesen, dass sie sich die Freiheit herausnahmen, dem Stamm so einfach den Rücken zu kehren. Niemand tat so etwas. Und es wurde ihnen vorgehalten, dass sie ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse über die Interessen des Stammes stellten.

Der Aufruhr über ihre Entscheidung hatte Yara und Laura überrascht. Sie hatten wohl mit Auseinandersetzungen gerechnet, aber nun schlug ihnen eine nahezu feindselige Stimmung entgegen, fast als wären sie damit eine Bedrohung für den Stamm. Yara hatte sich das zunächst nicht erklären können, das Verhalten der Frauen aber später als Steigerung der unterschwelligen Stimmung angesehen, die sich seit einigen Monaten aufgebaut hatte. Und gerade diese Stimmung war es, die es ihnen so leicht gemacht hatte, ihre Entscheidung zu fällen. Denn wer hatte sie schon ernst genommen?

Yara hatte sogar den Eindruck gewonnen, dass ihnen die Männer größeres Verständnis entgegenbrachten als die Frauen. In solchen Momenten war sie beinahe bereit, ihrer Selbst-Schwester in ihrer Ansicht zuzustimmen, dass den Männern mehr Rechte eingeräumt werden sollten. Andererseits, wie sollte den Männern eine Art Gleichberechtigung zugestanden werden, wenn ihre Intelligenz nur zu mechanischen Arbeiten, zum Jagen und zu Verteidigungsangelegenheiten reichte? In fast allen anderen Bereichen waren sie eher hinderlich als nützlich.

 

Yara hatte noch nie einen Mann kennengelernt, der imstande gewesen wäre, tiefergehende und intensivere Gespräche zu führen, die über Alltagsangelegenheiten hinausgingen. Männer waren nicht an größeren Zusammenhängen und Einsichten interessiert, sie blieben stets an der Oberfläche und konkurrierten lieber um die unwesentlichsten Dinge. Sie musste allerdings zugeben, dass sie bisher auch kaum den Versuch gemacht hatte, sich mit Männern ausführlicher zu unterhalten. Sie interessierten sie einfach nicht besonders, das galt auch für Jorge, Fioras Vater. Es war ein Rätsel für sie, wie die patriarchalisch organisierten Stämme zurechtkamen. Der Umgang mit ihnen beschränkte sich aber auch auf ein Minimum. In anderen Ländern sollte es Gemeinschaften geben, die eine matriline Struktur besaßen und trotzdem den Männern gleichberechtigte Positionen Gesandten. Das stellte für Yara einen Widerspruch in sich dar. Wie konnte den Arbeiten, bei denen sich Männer besser auskannten, ein ebensolcher Wert zugemessen werden, wie den verantwortungsvollen und entscheidenden Fähigkeiten der Frauen?

Sie lenkte das Pferd jetzt auf eine Felsengruppe zu, deren Schatten vorübergehend Schutz vor der Sonne versprach. Sie suchte den Horizont nach Laura ab, konnte aber die schlanke Gestalt ihrer Selbst-Schwester auf dem schwarzen Hengst nicht entdecken. Wie üblich war Laura weit vorausgeritten, um das Gelände vor ihnen auszukundschaften. Trotz der Menge an Gepäck, das ihr Pferd zu tragen hatte, kam sie schneller voran als Yara mit ihrer Tochter.

Im Schatten der Felsen angekommen stieg Yara aus dem Sattel und hob dann Fiora vom Pferd. Sie reckte und streckte ihre Glieder, denn die Anstrengungen eines langen Rittes waren immer noch ungewohnt.

Nach dem ersten Tag hatte sie geglaubt, jeden Knochen ihres Körpers einzeln spüren zu können. Laura hatte sie damit geneckt, dass sie nun endlich ein paar Pfunde ihres überflüssigen Körpergewichts verlieren würde, Versuche in dieser Hinsicht waren immer im Anlauf stecken geblieben. Und Laura hatte Recht behalten: Einige Tage später hatte sie ihren Rock enger machen müssen.

Sie sah, dass Fiora damit beschäftigt war, einem großen gelben Käfer hinterherzulaufen und diesem den Weg zu versperren.

»He, ich dachte, du wolltest trinken!« rief sie der Kleinen hinterher, die sich schon wieder aus dem Schatten entfernte.

Aber Fioras Durst schien angesichts des Käfers an Bedeutung verloren zu haben. Yara lächelte. Sie bewunderte das Talent des Mädchens, in jeder Lage ein Spiel für sich zu finden. dass sie überhaupt nicht auf Yaras Zuruf reagierte, erinnerte sie allerdings auch an die Schwierigkeiten, die sie mit der ungewöhnlichen Selbstständigkeit ihrer Tochter hatte. Des Öfteren schenkte sie ihrer Mutter kaum Beachtung, was Yara verstörte und entweder traurig oder zornig werden ließ. Manchmal empfand sie Fiora wie ein fremdes Wesen und dann erschrak sie über diese Vorstellung. Laura hingegen schien weniger Probleme mit Fioras Verhalten zu haben. Laura hatte überhaupt weniger Probleme - trotz ihrer Launenhaftigkeit.

Yara setzte sich auf den ausgetrockneten Boden und lehnte sich gegen das kühle Gestein. Eine Wohltat für ihren schmerzenden Rücken. Es wurde Zeit, dass sie wieder auf Wasser stießen, die Pferde brauchten dringend etwas zu trinken. Sie hob den ledernen Trinkbehälter an die Lippen und nahm langsam ein paar kühle Schlucke. Nun kam auch Fiora zu ihr, setzte sich auf ihren Schoß und verlangte vehement die Wasserflasche.

Sie hatten noch nicht lange so gesessen und Fiora war gerade eingedöst, als ein lauter Ruf die Stille des Augenblicks brach.

»Yeeooh!« schallte es über das Land, und als Echo darauf krächzten einige Vögel unwirsch, als wären sie aus ihrem Schlaf geweckt worden.

»Ah, Laura,« murmelte Yara. »Musst du immer so laut sein?«

Aber Fiora ließ sich dadurch nicht stören und drehte nur ihren Kopf auf die andere Seite.

Yara konnte ihre Selbst-Schwester nicht auf sich aufmerksam machen, aber Laura hatte wahrscheinlich die Pferdespur entdeckt, denn sie hörte bald darauf Hufschläge näher kommen.

Der Rappe bog um die hervorstehende Felsnase, und Yara blickte in das freudestrahlende Gesicht der Wächterin. Wieder einmal war sie erstaunt über die Wandlungsfähigkeit von Lauras Gemüt. Lange Zeit konnte sie mürrisch, zänkisch und voller aggressiver Angespanntheit anderen auf die Nerven gehen, so dass alle bemüht waren, der Frau möglichst aus dem Weg zu gehen, bis plötzlich diese Laune in ihr Gegenteil umschlug, völlig unerwartet für ihre Umgebung. Inzwischen hatte Yara gelernt, die Anlässe für diese unverhofften Wendungen, die aus Laura einen vor Lebenslust sprühenden Menschen machten, zu erkennen. Es handelte sich dabei meist um Ereignisse, die ihr selbst klein und unbedeutend vorkamen, für die Laura aber ein sehr feines Gespür besaß.

Auch dieses neue Gesicht konnte ebenso schnell verschwinden, wie es gekommen war, und dem stets unzufriedenen Alltagsgesicht Platz machen.

Es war schwierig, mit den häufig wechselnden Stimmungen umzugehen. Doch Yara hatte sich daran gewöhnt, ihr eigenes ruhig-ausgeglichenes Temperament erwies sich als passender Ausgleich, das Lauras verschiedene Gesichter akzeptieren konnte. Beide Seiten gehörten zu Laura, schufen ihre Persönlichkeit erst, und diese Persönlichkeit war es, die Yara so sehr mochte.

Yara legte den Finger auf ihre Lippen, und ihre Selbst-Schwester verstand sofort. Ihre braunen Augen entdeckten das schlafende Kind und sie schluckte die lauten Worte, die sie ohne Zweifel auf der Zunge hatte, hinunter. Yaras Blicke folgten ihrer schlanken Gestalt, die jetzt in der ärmellosen Jacke und der kurzen Jeans-Hose geschmeidig von ihrem Pferd sprang.

»Eine Decke,« flüsterte Yara ihr zu, als sie nahe genug herangekommen war. Laura machte noch einmal kehrt und holte eine der zusammengerollten Decken von ihrem Pferd. Nachdem sie sie im Schatten ausgebreitet hatte, nahm sie Fiora von Yaras Schoß und bettete das Mädchen vorsichtig darauf.

Yara stand auf, streckte sich und klopfte den Sand von ihrem langen Rock. Die beiden Frauen gingen zusammen ein paar Schritte weiter.

»Du wirst es kaum glauben,« sprudelte Laura hervor. »Nur ein kleines Stückchen weiter habe ich einen idealen Rastplatz für uns gefunden: eine Anzahl verkrüppelter Bäume, die aber ausreichend Schatten spenden und sogar ein kleines Gewässer, an dem die Pferde trinken können.«

Yara atmete auf. »Das ist endlich mal eine gute Nachricht.« Sie legte ihrer Selbst-Schwester einen Arm um die Schulter und strich ihr durch das dunkle krause Haar. »Es ist aber trotzdem besser, wenn ich Fiora hier zunächst weiterschlafen lasse. Anschließend können wir ja zu dieser Stelle reiten und eventuell die Nacht über dort bleiben.«

»Du meinst also, wir reiten heute nicht mehr weiter?«

Laura sah sie skeptisch von der Seite an.

»Ja. Ich möchte es nicht so gern. Ich fühle mich ziemlich müde und ausgepumpt .«

»Das sehe ich. Vielleicht ist es auch ganz gut, einmal eine längere Pause einzuschieben. Da wir kein genaues Ziel haben, ist es eigentlich unnötig, immer den ganzen Tag im Sattel zu sitzen.«

Yara nickte. Genau hier lag die entscheidende Schwachstelle ihrer Unternehmung: Sie kannten nicht einmal den Zielpunkt ihrer Reise. Es existierten zwar vage Gerüchte über die Position des Orakels, aber außer der Himmelsrichtung Norden gab dieses Gerede wenig her. Andererseits trieb sie die Unheil verkündende Ausstrahlung vorwärts. Sie hatte sich eher verstärkt als abgeschwächt.